tag:blogger.com,1999:blog-28014613680459536662023-11-15T10:28:49.567-08:00VizekonsulTrauma und GewaltVizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.comBlogger7125tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-63616168310296521302012-08-26T10:22:00.001-07:002012-08-26T10:23:36.025-07:00Marie und der Mann vom Strand<div align="justify">
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Eines Morgens, ich war früh aufgestanden, sind Sie mir begegnet. Als die Sonne aufging, war ich bereits am Strand und hielt dort nach Ihnen Ausschau. Es war noch kühl. Und ich war glücklich. Und der Himmel war weit, weiter als alles.</div>
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Ich sehe Sie. Sie stehen auf und gehen einige Schritte aufs Meer zu. Dort betrachten Sie aufmerksam die Wellen. Und dann, für einen Moment, wirken Sie konzentriert und überhaupt nicht mehr betrunken. </div>
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Und ich sehe: Sie warten noch, Sie wissen nicht worauf. Und dann betreten Sie das Meer wie einen Raum und laufen lange hinein. Eine große Welle kommt, nimmt Sie, wirbelt Sie nach oben und läßt Ihren Körper kurz in der Luft tanzen. Es sieht aus, als versuchten Sie die Welle hinaufzuklettern. Und dann schlägt Ihr Körper schwer auf das Wasser. Unbeeindruckt davon, gehen Sie weiter ins Meer hinein. Und dann gehen Sie noch ein Stück weiter. Dabei bewegen Sie Ihren Körper, als gehörte er einem anderen. Und schließlich verläßt diesen zwar zu Ihnen gehörenden, aber Ihnen doch völlig fremd vorkommenden Körper die Kraft. Und dann lassen Sie sich widerstandslos zurücktreiben. Danach sitzen Sie am Rand des Wassers, ein einziger schwarzer Schatten, inmitten dieser Lichtfülle. </div>
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Ich sehe, daß Sie angestrengt auf Ihren Körper hören, als ob Sie versuchten, eine Liste der Schmerzen aufzustellen, unter denen er leiden müßte, nachdem das Meer ihn an den Strand zurückgeworfen hat. Doch Ihr Körper bleibt weiter stumm. Und nach einer Weile kriechen Sie auf allen Vieren über den Strand in Richtung der Whiskyflaschen, die Sie dort liegengelassen haben. Als Sie sie erreichen, zeigt sich so etwas wie Freude in Ihrem verwüsteten Gesicht. Und ich sehe: Sie sind erleichtert. Mehr noch, durch das Wiederfinden der Whiskyflaschen stellt sich ein großes Glücksgefühl bei Ihnen ein. Ihre Augen beginnen zu glänzen. Überhaupt steht der Ausdruck Ihres Gesichts, in dem Moment, als Sie die Flaschen wiederfinden, in einem ergreifenden Gegensatz zu Ihrem Körper, der unentwegt zittert. Dann, während Sie die eine Flasche in großen Schlucken leeren, zeigt Ihr Körper, der abwechselnd über den Stand kriecht und taumelt, längst das ganze Ausmaß seiner Zerstörung. </div>
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Mit einer bemerkenswerten Ausdauer trinken Sie sich in Richtung auf ein wie auch immer beschaffenes Ende. Womöglich wissen Sie das längst. Denkbar ist auch, daß Sie sich gleichzeitig diesem Ende entgegenstellen. Wenn man Sie genau beobachtet, bemerkt man, daß Sie keine Mühen scheuen, dieses Ende unentwegt hinauszuzögern. Sie werden sich wahrscheinlich fragen, wann Ihr Körper endlich aufgibt, die anhaltenden Bilder von etwas beherbergen zu wollen, über das keiner etwas Genaues weiß, auch wenn alle darüber sprechen: Bilder von einem großen Unglück vielleicht.</div>
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Dann beginnen Sie laut zu reden, mit niemandem. Ich kann nicht verstehen, was Sie sagen. Ich nähere mich Ihnen noch weiter. Sie bemerken mich nicht. Sie bemerken gar nichts. Ich könnte mich unmittelbar neben Ihnen aufhalten, ohne daß es Ihnen auffiele.</div>
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Erneut sagen Sie etwas, Sie sagen es in den Sand. Sie treten nach dem Gesagten, wie man nach einem Hund tritt. Dann lachen Sie kurz auf. Ihr Lachen hört sich an, als ob ein Tier schreit. Und dann beginnen Sie zu weinen. Unter Tränen begraben Sie die andere Whiskyflasche im Sand. </div>
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Danach stehen Sie langsam auf und entfernen sich rückwärtsgehend vom Meer. Und Sie weinen noch immer. Und gelegentlich zögern Sie. Und dann bleiben Sie stehen. Vielleicht wollen Sie sich gar nicht vom Meer entfernen, wegen seiner Schönheit. Oder weil Sie es zu sehr lieben. Vielleicht wollen Sie immer in seiner Nähe bleiben, um dort zu trinken. Und doch entfernen Sie sich heute, als ob Sie sich nur so daran hindern könnten, am Meer zu trinken.</div>
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Und an diesem Nachmittag scheitern Sie. Denn wenig später sehe ich Sie bereits zurückkehren. Sie graben die Whiskyflasche aus. Sie trinken hastig. Sie lachen laut. Und Sie sprechen. Sie sagen etwas, zu niemandem. Und Sie lachen erneut. Und dann bringt Sie Ihr eigenes Lachen so sehr aus der Fassung, daß Sie laut aufschreien. Danach lassen Sie sich in den Sand fallen. Und dann starren Sie auf das Meer. Und Sie trinken weiter.</div>
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Später, als die ersten Menschen zurückkommen, sitzen Sie noch am Strand, ganz nah am Meer, mit Blick auf die weite Ebene des Wassers. </div>
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Dann sehe ich die Kinder. Ich sehe, wie die Kinder Sie betrachten, mit dieser sonderbaren Ungeduld, die ihnen eigen ist. </div>
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Sie sind ein Ereignis für diese Kinder, so einen wie Sie haben sie noch niemals zuvor gesehen. Mit angehaltener Spannung nähern sie sich Ihnen, einige wagen sich so weit vor, daß sie Sie berühren könnten. Doch die Erwachsenen sind zu sehen, ihre Leute, die Mütter und Väter, Verwandte, die die Kinder beaufsichtigen und sie von Ihnen zurückrufen, während sie selbst sich absichtlich von Ihnen abwenden. Von alldem bleiben Sie unberührt.</div>
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Ich sehe Sie dort sitzen, in der Nähe des Meeres. Sie trinken, das ist alles, was man sagen kann. Sie trinken, bis die Flasche leer ist. Und danach sitzen Sie immer noch reglos vorm Meer. </div>
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Noch bei Einbruch der Dämmerung sitzen Sie dort, in derselben Körperhaltung wie am Mittag, völlig unbeweglich. Sie starren aufs Meer, auf den sich verändernden Himmel. Sie schauen. Sie warten. Und als sich im Vorübergehen für einen Moment unsere Blicke begegnen, spüre ich Ihren Schmerz so stark, daß mir schwindlig davon wird. </div>
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In dieser Nacht träume ich von Ihnen wie von einem Verschwundenen.</div>
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Seit ich Sie im Amerikanischen Hospital, wo ich meine Mutter besuchte, zum ersten Mal gesehen habe, war ich jeden Morgen am Strand, um Sie zu beobachten. Niemals sprachen Sie mit jemandem. Sie sind wie ich: Sie sprechen mit keinem.</div>
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Schon vom ersten Tag an redet man über Sie. Denn es ist wahr: Sie sind ein Mann, der auffällt. Man kennt Sie, man kennt den Fotografen. Man kennt Ihre Bilder. Vor allem erinnert man sich an die letzten Serien Ihrer Bilder, die aus Laand, diese schrecklichen Bilder, die plötzlich in ihrer aller Leben waren. Auch, daß man erstaunt darüber war, fassungslos, wie erstarrt, als man bemerkte, wie sehr sich diese Bilder verändert hatten, als wären Sie beim Fotografieren in einen Abgrund gestürzt. Etwas, das sich bereits in früheren Fotografien angekündigt hatte, ließ sich nicht länger verbergen, es hatte sich in den Vordergrund gedrängt und die Verhältnisse von Schwarz und Weiß verschoben. Unablässig erzählte es von einer bitteren Nacht, in der ein unbegrenzter Blick durch den Tod regelrecht erzwungen worden war. Es gab kein Darüberhinaus mehr, um diese Maßlosigkeit zum Verschwinden zu bringen. Die Zeitungen waren voll mit Ihren Bildern dieses Abgrunds. Ihre Bilder des Krieges in Laand erregten Aufsehen. Sicher sprach man auf der ganzen Welt von nichts anderem mehr. Diese Bilder könnten an nichts mehr gemessen werden, was man kenne, sie würden alles überschreiten, sagte man. Sogar die Bilder aus den Nazilagern wurden als Vergleich herangezogen. Schließlich zeigte man Ihre Bilder im Fernsehen, auf allen Kanälen sprach man stundenlang davon. Man sagte, es würde sich um Bilder handeln, die vor nichts mehr haltmachten, Bilder, die aus einer Welt stammten, die vor nichts mehr haltmachte. Man versuchte auch, diese Bilder abzuwehren, sie zu begrenzen. Instinktiv weigerte man sich zu glauben, daß die auf Ihren Fotografien abgebildete Welt mit der eigenen Welt in Verbindung stand. Gleichzeitig wußte man, daß man rein gar nichts hatte, um die einzigartige Wahrheit dieser Bilder zurückzuweisen. Als sicher galt irgendwann nur dies: man würde diese Bilder nie wieder loswerden. Und so sehr man auch unausgesetzt nach passenden Worten für Ihre Bilder suchte, entweder um ihnen einen Platz in der eigenen Welt zu verschaffen, oder ihnen diesen Einlaß zu verwehren, fand man nichts mehr. Denn es war so, daß die Worte, die man kannte, nicht mehr zu den Bildern paßten, die man sah. Und am Ende einigte man sich darauf, keine Worte zu haben für Ihre Bilder. Auch nicht für das, was von Ihnen fotografiert worden war. Auch nicht für Sie. </div>
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Und dann sagte es jemand: daß Sie gestorben sein müßten, um solche Bilder machen zu können. </div>
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Seitdem haben die Leute eine gewisse Vorstellung davon, was es bedeutet, außer sich zu sein und den Vorrang der Person aufzugeben für etwas Ähnliches. Und daß es möglich ist, sich von sich selbst zu lösen, ohne sich dabei vollends zu verlieren. Sie haben es ihnen vorgeführt, zuerst mit Ihren Bildern. Und dann mit Ihrer Ankunft.</div>
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Und die Leute sagen: <br />
– Der Mann vom Strand.<br />
– Daß er einer von uns ist, das ist kaum vorstellbar.<br />
– Daß er einmal ein normales Leben geführt hat wie Sie und ich, nicht auszudenken.<br />
– Und jetzt ist er aus dem Leben herausgefallen, keiner weiß warum. <br />
– Schauen Sie ihn sich an, ein verdammtes Wrack.<br />
– Vielleicht ist es von einem zum anderen Tag geschehen, ohne jeden Grund.<br />
– Oder es war nichts, bestenfalls eine Kleinigkeit, die dazu führte, etwas ganz und gar Unbedeutendes. <br />
– Warum hat er sich dafür entschieden, hierher zu kommen, dieser Mann.<br />
– Die Küste ist lang, warum ist er nicht in die nächste Stadt gegangen.</div>
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Was mit Ihnen geschehen ist, die Leute interessieren sich dafür. Man erkundigt sich, stellt Fragen. Und schon vermuten die Leute Verschiedenes. Etwa, daß etwas Ihr altes Leben ausgelöscht habe. Und daß Sie den Ort, an dem Ihr altes Leben stattgefunden hätte, zerstört haben, um nicht mehr dorthin zurückkehren zu müssen. Anschließend könnten Sie nach Talassa gekommen sein, um zu vergessen. Dennoch: es wäre Ihnen nicht gelungen, sich zu entkommen. Immerhin sei das Gedächtnis kein Spiegel, auf dem sich die Dinge verflüchtigen, sobald man sich abwende. Die Welt der Erinnerungen sei dauerhaft, egal, ob und was Sie versucht hätten zurückzulassen. Sie seien einer, der sich davongemacht habe, vielleicht nach einem Verbrechen oder nach einem Unglück, etwas, das von Ihnen selbst verschuldet worden sei. Der Schmerz halte Sie noch in der Welt, sonst halte Sie nichts mehr in der Welt. </div>
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Und die Leute sagen: <br />
– Niemals wird er diesen Schmerz aufgeben, so einen unerhörten, grauenhaften Schmerz über etwas abschließend Schreckliches. <br />
Einer nennt dieses Schreckliche dann beim Namen.<br />
– Der Mord an einem Kind und der Selbstmord einer Frau.<br />
Es habe in den Zeitungen gestanden, im vergangenen Jahr, um die Weihnachtszeit. <br />
Man müsse sich noch daran erinnern können, an diese Geschichte. <br />
Die Frau habe zuerst das Kind und dann sich selbst umgebracht.<br />
– Eine abscheuliche Sache, sein Kind zu töten.<br />
– Wie groß die Not dieser Frau gewesen sein muß, unvorstellbar groß.<br />
– Manche Frauen in Laand töten ihre Kinder, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen.<br />
– Trotzdem, das eigene Kind zu töten, es bleibt eine abscheuliche Sache.</div>
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Einige nennen Sie bereits den toten Mann vom Strand.<br />
– Ein Mann in Ketten, am Ort des Todes.<br />
Andere finden durchaus, daß Sie dem Fremdenverkehr schaden werden.<br />
– Zuerst der Krieg und jetzt dieser Mann.<br />
Ein paar Leute gibt es, die sich um Sie sorgen, wenn Sie mitten am Tag betrunken durch die Straßen der Stadt irren.</div>
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Und die Leute sagen: <br />
– Er verliert öfter das Bewußtsein und liegt dann leblos am Strand.<br />
– Manchmal ist es so, als ob er in sich zusammenfällt, dann sitzt er am Strand, mit einem starr auf das Meer gerichteten Blick.<br />
– Und am nächsten Tag redet er ohne Unterbrechung, atemlos, wirres Zeug, mit einer Stimme, die seltsam leiert.<br />
– Dann spricht er wildfremde Leute an, vor allem Kinder.<br />
– Wir müssen die Kinder vor ihm schützen.<br />
– Nein, die Kinder haben keine Angst vor ihm.<br />
– Für die Kinder ist er eine Sensation, ein solcher Mann.<br />
– Manche haben auch Mitleid mit ihm.</div>
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Und andere haben Vorahnungen. Etwa die, Sie könnten einen Unfall erleiden, indem Sie von den Kais betrunken ins Meer stürzen. Auch, daß Sie ins Meer gehen könnten, absichtlich. Jemand sagt es: Selbstmord.</div>
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Die Dinge in Ihnen erregen Aufsehen, während sie sich vollbringen, das ist immer alles, was man weiß. Und keiner, auch Sie selbst nicht, können das Ausmaß dessen, was sich in Ihnen hervorbringt, auch nur im Entferntesten ermessen. Ihre Wirkung auf die Leute hier ist mindestens so aufsehenerregend wie Sie selbst.</div>
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Sie hingegen können nicht anders, als außer acht zu lassen, was die Leute über Sie denken und reden. Wenn Sie sich stundenlang am Strand aufhalten, um mit Ihren Blicken das Meer nach etwas abzusuchen, von dem allein Sie eine genaue Kenntnis haben, und dabei weinen, schreien oder laut mit sich selbst sprechen, erfordert das Ihre gesamte Aufmerksamkeit. Und dann ist es Ihnen egal, wie man über Sie spricht, oder daß Ihre Schreie durch die Straßen von Talassa ziehen und alle erschrecken. Würde man Sie in der Stadt darauf ansprechen, wüßten Sie wahrscheinlich nicht, was man von Ihnen wollte. Sie würden abwehrend den Kopf schütteln und sich abwenden und erneut den Weg zum Strand einschlagen. Und dabei gäbe es gewiß noch etwas in Ihnen, das sich zur selben Zeit wünscht, Sie wären angesehen bei den Leuten. Etwas, das zumindest das Mitgefühl der Leute und vielleicht ihre Nachsicht erhofft. Doch Sie haben jede Kenntnis davon verloren. Und so ist es Ihnen gleichgültig, ob die Leute Mitgefühl für Sie aufbringen oder nachsichtig mit Ihnen sind, oder ob sie Sie verstehen oder nicht, das alles ist für Sie kaum noch von Interesse. Gleichsam würden Sie darauf bestehen, daß die Dinge, von denen Sie befallen sind, das unbedingte Recht hätten, sich auszuwirken.</div>
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– Er ist ein Verlorener, er ist für uns verloren, lassen wir ihn, sagt jemand über Sie.</div>
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Doch ich will nicht, daß Sie für uns verloren sind. Und wenn Sie für uns nicht verloren sein sollen, muß jemand Sie sehen und schön finden. Warum nicht ich?</div>
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Am Morgen sind nur wenige Menschen am Strand unterwegs. Einige führen ihre Hunde aus. Andere laufen ihre tägliche Strecke ab. Und das Licht ist wie manchmal um diese Tageszeit. Aus der Entfernung sehe ich Sie. Sie wirken wie jemand, der etwas verloren hat und angestrengt danach sucht. Gleich darauf, als ich näherkomme, bemerke ich, daß Sie lediglich große Steine einsammeln und sie in Ihrem Rucksack verstauen. Ihre Bewegungen sind auffallend langsam. Ihr Gesicht ist verzerrt, Schmerz und Anspannung sind darin zu erkennen. Mehrere Male unterbrechen Sie sich, Sie schütteln den Kopf und schlagen die Hände vor Ihr Gesicht. Und nach einer Weile lassen Sie Ihre Hände wieder fallen, stehen da, schauen aufs Meer, bis es sich wiederholt, bis nichts mehr geschieht, außer daß die Zeit vergeht und Sie aufs Meer blicken und versuchen zu vergessen. </div>
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Dann, nachdem weiter Zeit vergeht, beginnen Sie aufgeregt zu gehen. Sie bewegen die Arme, ähnlich einem Seiltänzer, der sich in großer Höhe im Gleichgewicht hält. Schon laufen Sie los, zuerst langsam, dann schneller. Sie schauen sich mehrere Male um, heben abwehrend die Hände nach oben, laufen noch schneller und entfernen sich rasch, bis ich Sie kaum noch sehen kann. Und schon kommen Sie wieder zurück und laufen in die entgegengesetzte Richtung und steigern das Tempo Ihrer Schritte noch. Erneut schauen Sie sich um, heben Ihre Hände, um etwas zurückzuschlagen, das sich Ihnen nähert. Es muß sich um etwas sehr Großes handeln, das Sie über den Strand hetzt, etwas Außerordentliches, Mächtiges, das allein Sie sehen können. Und nachdem Sie einige Male so von der einen in die andere Richtung gelaufen und wieder zurückgekehrt sind, halten Sie unerwartet an und scheinen nun mit dem, was Sie verfolgt hat, zu sprechen. Sie strecken die Hände nach ihm aus, und Ihr Gesicht nimmt einen wilden Ausdruck an. Sie reden eindringlich auf dieses Etwas ein, das Ihnen da erscheint, schreien regelrecht auf es ein, und zuletzt greifen Sie mit beiden Händen nach ihm. Plötzlich scheint es verschwunden zu sein, sogar für Sie. Es hat sich davongemacht, gerade als Sie bereit waren, sich ihm zu stellen. Und die Enttäuschung darüber steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch Sie geben noch nicht auf. Denn Sie folgen diesem geheimnisvollen Etwas noch immer, reden dabei unentwegt auf es ein und versuchen, es zum Einhalten zu bewegen. Bis Sie anhalten, mitten in einer Bewegung, resigniert, erschöpft, den Kopf zur Seite geneigt, während wieder Zeit vergeht, in der Sie sich langsam, in einer unnachahmlichen Bewegung dem Meer zuwenden und erneut warten, bevor Sie sich auf Ihren Rucksack zu bewegen, ihn entschlossen schultern und völlig ruhig und mit großen Schritten ins Meer gehen, ohne jede Eile. Sehr schnell zerren die ersten Wellen an Ihnen, werfen Sie herum, lassen Sie stürzen. Doch Sie stehen wieder auf, gehen weiter, unbeirrt. Und Sie gehen weit, sehr weit ins Meer. Sie gehen ins Meer, bis Sie verschwunden sind. </div>
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Erneut vergeht Zeit, lange geschieht nichts. Dann werden Sie von einer Welle an die Oberfläche geworfen und an den Strand gespült. Sie liegen mit dem Gesicht im Sand, Sie bewegen sich nicht mehr. Und Sie haben Ihren Rucksack im Meer verloren. </div>
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Nach einer Weile stehen Sie auf. Sie schreien das Meer an. Sie strecken dem Meer Ihre Faust entgegen. Dabei ist in Ihren Blicken und Bewegungen eine furchtbare Unruhe zu erkennen, die Sie vollständig ausfüllt. Und dann sehe ich, wie der Tod darauf wartet, daß der Schmerz aufhört, Sie an das Leben zu binden.</div>
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Nach und nach hat der Tag die Nacht beiseite geschoben, und dann ist es richtig hell geworden. Im Licht des beginnenden Tages sitzen Sie am Strand, als wäre Ihr Körper in der Mitte gebrochen. Sie starren auf das Wasser, auf die endlose Weite des Meeres. Dabei wirken Sie leblos, wie in atemloser Spannung zwischen Furcht, Schmerz und Hoffnung. Es hat Ihren Körper nicht gewollt, das Meer, es hat ihm diese eine Last abgenommen, die der Steine. Wie die Tage zuvor, hat das Meer Ihnen auch heute Ihren Tod gestohlen. Als das Meer Sie diesmal zurückbringt, beschließe ich, Sie für immer zu lieben.<br />
(…)</div>
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Es ist so: Mit dreizehneinhalb habe ich Sie schon gekannt. Nachdem Sie mich angesehen haben, durch Ihre Bilder, und mir so Ihre Geschichte erzählt haben, habe ich den Wunsch, Ihnen zu begegnen. Ich will Ihnen von mir erzählen, vielleicht alles. Ich will, daß Sie lesen, was ich schreibe. Und ich denke, ich werde es lieben, daß Sie dies tun, schon mit dreizehneinhalb dachte ich das. </div>
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Schon mit dreizehneinhalb habe ich mich entschieden, Ihnen zu schreiben. Ich habe Ihnen keine Briefe geschrieben, sondern in blaue Hefte, wie ich es für gewöhnlich tue. Und darin, in meinen blauen Heften, habe ich Ihnen meine Geschichte erzählt. Ich habe zu Ihnen gesprochen wie zu einem kranken Kind, das nicht einschlafen kann. Dann, während ich mich erinnerte, an die Geschichte, die ich Ihnen von mir erzählen wollte, war da wie immer die atemlose schwarze Nacht, die Nacht der Buchstaben, der Wörter, unterbrochen von der reglosen Schwärze des Wassers, auf die mein Blick heute wieder trifft, wenn ich aufsehe von dem weißen Blatt und hinaus aufs Meer schaue.</div>
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Einmal, beim Betrachten Ihrer Fotografien, zuerst im Château Casalas, dann, später, in den Büchern, sah ich, daß Sie viele Dinge gesehen hatten. Da gab es alle möglichen Tode von Kindern, Frauen und Männern, furchtbare Tode, die einen den Blick neigen ließen und es einem schwer machten, irgend etwas wiederzuerkennen. Und die zerstörten Städte, in denen nichts mehr wiedergefunden werden konnte, keine Spur der Verbrechen, die dort stattgefunden hatten. Nur Asche. Und Dämmerung. Und dann die Nacht. Und dann der nächste Tag. Und danach, am nächsten Tag, kein Wiederfinden und gar nichts, was über Nacht zurückgekehrt war. Und die Asche, wie am Tag zuvor, die ganze Asche, wie die Gischt des Meeres. Und blutgetränkte Landschaften, die ihr eigenes Licht erzeugten, das sich dem Licht des Himmels entgegenstreckte, und die einen vor Angst ersticken ließen. Und tausendmal Gerüche und Geräusche, die aus den Stätten der Verbrechen hervorquollen und sich im Zittern ihrer Bewohner verirrten. Und Träume von Menschen, in denen die Kinder wieder schliefen und die Frauen zurückkehrten, aus den Lagern, am Rande der Wälder. Und tausendmal Blicke auf eine riesige Sonne, die den gesamten Horizont ausfüllte, dort, über der Weite des Meeres. Und tausendmal Leere, in der nichts geschah, in der man wartete und der Leere zuhörte, ohne darüber traurig zu sein, ohne verstehen zu können. Und dann die Berührungen. Und die Schreie. Und die Stimmen. Und dann das Vergessen von allem. Und schwindende und wieder aufkommende Schmerzen, die machten, daß man das Leben vergaß. Und die Küsse. Und die Liebe. Und die Schönheit der schlafenden Körper der Kinder. Und dann noch die Schönheit der Frauen, die Magie ihrer Körper. Und die Herrlichkeit ihrer Gesichter. Und der Geruch ihres Haares. Und auch die Gezeiten der Lust, der ganze Wahnsinn des Begehrens. Und die Schreie des Verlangens auf den Oberflächen der Körper, die sich jederzeit daran erinnerten. Und dann wieder die Liebe, ihre Orte, die unmöglichen Orte der Liebe. Und dann ein erneutes Vergessen. Und tausendmal alles, auf jede Weise. </div>
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Sie, Sie mußten dies alles vergessen, sogar vergessen, daß Sie es vergessen haben. Denn wie hätten Sie sonst weiterleben können.</div>
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Beim Betrachten Ihrer Bilder in Ihren Büchern entdeckte ich später ein immer gleiches Licht, das Sie sehr früh geprägt haben muß und das Sie überallhin mitnahmen. Dieses besondere Licht, mit dem es Ihnen gelungen war, unverwechselbare Bilder zu machen und eine universelle Sprache zu erfinden. Von Ihren Bildern aus sprachen die Menschen, die Sie fotografiert hatten, als wären sie lebendig. Es war so, als würden sie unmittelbar vor einem stehen und ihre Geschichte erzählen. Noch in den dunkelsten Schatten aus Trauer, Schmerz und Einsamkeit, die diese Kriege wie Netze in die Welt warfen, war in jeder dieser Fotografien etwas wiederzufinden, ein Geheimnis, etwas schlechthin Entscheidendes, das dem Vergessen angehörte. Keiner vermochte zu sagen, worum es dabei ging, oder um was genau es sich handelte. Dennoch war dieses Rätsel stark genug, um einen zum Schweigen zu bringen. Seither denke ich, daß Ihre Fotografien ohne jeden Hintergedanken waren, sie waren vergleichbar mit der geschriebenen Schrift. Gerade deshalb werden diese frühen Bilder unvergeßlich bleiben. </div>
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Dann, eines Tages, als ich nach dem Schwimmen im Meer zurückkam und auf dem Einband eines Ihrer Bücher eher unbeabsichtigt Ihren Namen geschrieben sah, der nichts preisgab als sich selbst, umgeben von den ganzen Fotografien, die ihn einschlossen und nahezu erstarren ließen, enthüllte sich mir Ihr Name. Danach begann ich, ohne daß ich damit aufhören konnte, diesen Namen zu denken und ihm dadurch Dauer zu verleihen. Und dann begann dieser Name, mich fortwährend zu rufen. Und damit begann ich, Ihren Namen zu lieben.</div>
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Während ich Ihnen geschrieben habe, in einem meiner blauen Hefte, konnte ich sehen, daß Sie das Grauen kannten. Sie haben immer davon gewußt, Ihre Kenntnis war präzise. Zuerst haben Sie von seiner Ausdauer gewußt. Auch, daß man das Grauen weder vor sich sehen, noch es hinter sich lassen kann. Ebenso lange schon haben Sie seine Gegenden gekannt. Solche Gegenden, in denen es jede Bleibe zerstörte. Und jeden Ort. Und die Menschen. Und alles. Auch, daß man die danach entstandene Leere mit nichts füllen konnte, weder mit Buchstaben, noch durch Fotografien. Auf diese Weise waren Sie jener anerkannte Fotograf geworden, von allen verehrt und hofiert, auch wenn Sie das nicht sonderlich interessiert hat. Denn Sie haben fotografiert, um der zeitweisen Ausdehnung des Grauens gegenüberzutreten, um zu versuchen, das Grauen zu besänftigen. Und noch während Sie versucht haben, das Grauen zu sich kommen zu lassen und diesen tiefen Abgrund, der das Grauen ist und gleichzeitig in einem verursacht, in einem gewissen Gleichgewicht zu halten, es vielleicht sogar zu überwinden, waren Sie ständig in großer Gefahr gewesen, zu jemandem zu werden, den das Grauen nun seinerseits kannte und wiedererkannte, und von ihm verschlungen zu werden. Mit einem Mal habe ich begonnen zu sehen, daß Sie schon lange am Rand einer wie auch immer gearteten Nacht gelebt haben. Und ein Unglück, etwas, das größer war als Sie selbst, hat Sie über den Rand hinaus in das Meer dieser äußersten Nacht getrieben. Und dort haben Sie dann eine gewisse Zeit verbracht, auf einem Floß sitzend und die fluoreszierenden Zeiger einer in der Dunkelheit dieser Nacht unsichtbaren Uhr betrachtend. </div>
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Ich erinnere mich an eine Serie von Fotografien, die Sie von Massengräbern im Winter gemacht haben, bei denen es Ihnen gelungen war, das Unsichtbare des Lebens einzufangen. Jede dieser noch gut erhaltenen Leichen hatte plötzlich wieder eine Geschichte, die Sie ihnen zurückgegeben haben. Diese Ermordeten, mit ihrer Geschichte, wurden zu einer Erinnerung, die man um jeden Preis bewahren wollte, das Gedächtnis der Welt. Und in dieser langen Meditation über das Leben und den Tod glaubten Sie vielleicht, das allen gemeinsame Schicksal verstanden zu haben, Sie nahmen an, daß das Unglück unteilbar ist.</div>
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Ich sehe: Sie sind ein Mann, dem ein großes Unglück widerfahren ist, einer, der alles verloren hat. Ein Mann, in der Mitte seines Lebens, der versucht, das Verlorene zu vergessen. Dabei angefüllt mit einem furchtbaren Schmerz, daß Sie kaum noch etwas außerhalb Ihrer selbst wahrnehmen. Dieser Schmerz muß es sein, der es Ihnen unmöglich macht zu vergessen. Doch Ihre Erstarrung ist nicht in einen Schlaf übergegangen. Sie haben nicht das Glück gehabt, in eine Art von Wahnsinn zu verfallen, in dem ein Schrecken leise bleibt und einen nicht mehr weckt. Noch immer bringen Sie diese ungeheure Kraft auf, die man von Ihren Fotografien kennt, die, hinzusehen. Sie werden nichts verbergen, vor niemandem. <br />
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Ich bin Marie Grinberg. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich spreche nicht mehr. Ich schreibe in blaue Hefte.</div>
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Ich bin Marie Grinberg. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Und ich schreibe.</div>
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Das Mädchen, das nicht spricht, nennt man mich. Die Kleine, die mit ihrer verrückten Mutter in Talassa Bay lebt. Die sogar einmal für sie sterben wollte. Das Mädchen, das zu alt ist für sein Alter. Das Mädchen mit den blauen Heften. Das Mädchen, das in den Dünen schreibt. Das schreibende Mädchen der Dünen.</div>
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Schon lange bin ich nicht wie andere Mädchen in meinem Alter. Manchmal scheint es so, als wäre ich gar nicht da. Doch ich bin da, ganz nah, auch wenn ich nicht spreche. Denn ich schreibe. Und schreibend erfinde ich mein Leben.</div>
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Ich gehe in die Schule, aufs Gymnasium. In der Schule sagt man über mich, ich sei die Klassenbeste, in allen Fächern. Obwohl ich nicht spreche, soll das so sein. Die das behaupten, die Lehrer, der Rektor, einige Mitschüler, ich glaube, was sie sagen, trifft zu. Doch die Klassenbeste zu sein, das interessiert mich nicht, das bedeutet mir gar nichts. Ich bin nicht empfänglich für die eigenartige Liebenswürdigkeit mancher Lehrer, was meine Begabung angeht. Es ist mir unangenehm, daß einige von ihnen ständig versuchen, mich gegen meine Mitschüler auszuspielen. Man solle sich doch ein Beispiel an mir nehmen, sagen diese Lehrer, wobei sie nicht müde werden, mich mit den anderen zu vergleichen und der gesamten Klasse meine schulischen Leistungen vorzureden. Ich verstehe nicht, warum man sich an mir ein Beispiel nehmen soll, ausgerechnet an mir. Dem Mädchen, das nicht spricht. Der Kleinen aus Talassa Bay. Dieser kleinen Fremden, die nackt im Meer schwimmt, sogar bei klirrender Kälte. Der mit der verrückten Mutter. </div>
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Während meine Mitschüler miteinander geredet haben, habe ich geschwiegen. Während sie abends mit ihren Eltern und Geschwistern beim Essen gesessen und anschließend etwas zusammen gespielt oder gemeinsam ferngesehen haben, habe ich gelesen. Später, als sie angefangen haben, sich zu verabreden, habe ich noch immer gelesen. Und ich habe geschrieben. Es ist doch nur natürlich, daß ich intelligent bin. Jemand, der nicht spricht, muß diese Hemmung auf irgendeine Weise ausgleichen. Das ist alles. </div>
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Es ist auch nicht so, wie manche Leute behaupten, daß die anderen mir unsympathisch sind, aber sie haben andere Interessen. Und obwohl ich mich mit anderen Dingen beschäftige, höre ich ihnen aufmerksam zu. Man hat in diesem Alter offenbar viel zu erzählen. Ich bin erstaunt, worüber sie reden, was ihnen wichtig ist. Modische Kleider, Musik, aktuelle Serien im Fernsehen, Kinofilme, das Aussehen eines jungen Referendars, die erste Liebe, wohin man in die Ferien verreist, Streitigkeiten mit den Eltern, Schwierigkeiten mit Lehrern, von alldem verstehe ich nichts. Selbst wenn ich reden würde, wüßte ich nicht, worüber ich mit ihnen reden sollte. Und die anderen, die älter sind, die mich interessieren könnten, zögern, ich weiß nicht warum. Vielleicht ist es zu schwierig für sie, mich anzusprechen. </div>
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Ich treffe mich auch nicht mit den Jungen am Strand, um mich von ihnen anfassen zu lassen. Und obwohl sie sich mir gegenüber mit anzüglichen Bemerkungen darüber zurückhalten, merke ich an ihren Blicken, daß sie etwas von mir wollen. Doch da sie dabei nicht unfreundlich sind, stört es mich nicht. Sie fordern mich auf, mit ihnen auszugehen, zum Tanzen, in die Eisdiele, ins Kino. Und einige bitten mich, sie in den großen Ferien zu besuchen, auf dem Land, bei ihren Großeltern. Man wäre dort nahezu allein und hätte das ganze Haus für sich. Dabei behaupten sie, daß ich ihnen gefiele, ich wäre sehr hübsch. Und es machte ihnen nichts aus, daß ich nicht sprechen würde. Doch ich glaube ihnen nicht, nichts davon. Denn wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich ein blondes Mädchen mit blauen Augen. Dieses Mädchen ist groß und schlank und hat kleine feste Brüste. Weil dieses Mädchen im Spiegel viel am Strand geht und durch die Gärten, weil es im Meer schwimmt, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit, ist es robust. Jeder Muskel seines Körpers ist ausgebildet. Seine Haut ist die eines Mädchens, das sich viel am Strand aufhält. Das ist alles, was sie sehen. Und alles, was sie wollen, ist dieser Körper, den Körper der Klassenbesten, um das mit ihm zu machen, was sie in diesem Alter mit anderen Körpern für gewöhnlich tun. Sie wollen ihn berühren, diesen Körper, ihn streicheln, ihn penetrieren. Sie wollen sich diese kleine Fremde unterwerfen, sie aufsaugen und sie sich einverleiben. Den Körper dieser Kleinen wollen sie in Besitz nehmen, ohne sich dem Fremden in ihm annähern zu müssen, diesem Fremden, das macht, daß aus diesem Körper kein Wort nach außen dringt, das sie meint, oder das ihrem Begehren gilt. Es ist ihre Zeit, die Zeit dieser Jungen. Es ist die Zeit der Wetten, die Zeit eines unzweideutigen Begehrens, das einhergeht mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit, mit der sie versuchen, Körper in Besitz zu nehmen. Das geschieht nach genau festgelegten Regeln, wie bei einem Ritual, mit einer gleichzeitigen Unbeholfenheit, die seltsam wirkt, die aber mit ihrem Alter zu tun hat. Doch hinter dieser scheinbaren Unbeholfenheit ist bereits etwas Grausames aufzuspüren. Es ist, als ob sie eine Maske tragen, eine Maske, die notdürftig verdeckt, daß es die Bereitschaft gibt, Wunden in die Welt zu schlagen. Sieht man jedoch genau hin, ist bei den Jungen ein großes Zärtlichkeitsbedürfnis auszumachen, mit dem sie sich wünschen, in den Schlaf gewiegt zu werden, und das vor der nackten Begierde zurückweicht wie vor einer verschlossenen Tür. </div>
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Auch die Mädchen begehren, auch sie wollen genau das, was die Jungen wollen. Sie wollen es anders, nicht so ungestüm, aber doch ist es Leidenschaft, die sie wollen. Sie wollen nicht heimgesucht werden von der Angst vor einer Verletzung, der sie bis in ihr Innerstes ausgesetzt sind, vor Orten ohne Umgebung, in denen man sie begehrt und schön findet, um sich danach, nach dem Erreichen der Lust, von ihnen zurückzuziehen. Sie wollen nicht ohne Antwort bleiben und hören, daß man sie liebt, weil man sie liebt, daß sie jemanden Fest sind. Sie wollen nichts, was die Liebe entwertet, keine Einsamkeit, außer dieser einen, die unaufhörlich redet. Und gleichzeitig wollen sie etwas, eine Häufung von Liebeskümmernissen vielleicht, wie sie in den Fernsehserien, über die sie sprechen, zu einem guten Ende gebracht werden. Und doch überholen sie sich manchmal und stellen das Sexuelle an die Stelle des Gefühlsmäßigen. Dann gehen sie zur alten alte Mole, wo sie sich mit erwachsenen Männern verabreden. Dort spielen sie ein grausames Spiel, in dem sie erliegen und zugrunde gehen und zu einer Wunde eines Abgrunds ihrer Lust werden.</div>
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Ich bin Marie Grinberg. Ich spreche nicht mehr. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich schreibe in blaue Hefte. Die blauen Hefte sind das Fährtenbuch zu meinem Leben. Und die Schrift ist meine wehrhafte Haut. Schreiben ist ganz natürlich für mich, es ist wie Ein- und Ausatmen. </div>
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Da ich die meiste Zeit über in die Hefte schreibe, bin ich oft allein. Ich weiß nicht, ob es noch ein anderes Leben gibt. Manchmal glaube ich, daß es das gibt. Dann glaube ich es wieder nicht. Die meiste Zeit über glaube ich, daß es außerhalb des Schreibens gar nichts gibt. Dabei weiß ich nicht einmal, was das Schreiben ist. Während ich schreibe und das Niedergeschriebene in die Welt schaffe, bemerke ich, wie ich es gleichzeitig beseitige, indem ich nicht aufhöre, damit fortzufahren, weiterzuschreiben. Immer löscht sich die Schrift, sobald sie niedergeschrieben wird, im selben Augenblick, immer beginne ich von neuem. Und gleichzeitig gibt es etwas neben dem, was ich in die blauen Hefte schreibe, das ich nicht in sie schreibe. Ich weiß nicht, was es ist, denn bei dem, was ich schreibe, gelange ich immer zu spät zu dem, was ich schreiben könnte, hätte ich nicht bereits das geschrieben, was ich geschrieben habe, oder würde das schreiben, was ich gerade schreibe.</div>
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Ich beobachte viel, oft betrachte ich lange das Meer, auch nachts. Wenn ich das Meer betrachte, fühle ich weder Furcht noch Hoffnung. Und manchmal, in den Nächten, vergeht auf diese Weise die Zeit nicht, sie bleibt einfach stehen. Nachts, am Strand, sehe ich die Schiffe in der Dunkelheit, ihre Lichter. Ich höre auf die Geräusche, auf die Stimmen, die der Wind mir zutreibt. Ich fächere die Geräusche, parzelliere die Stimmen, löse die Stimme des Windes aus ihnen, bis ich nur noch eine Stimme höre, eine einzige Stimme, die Stimme eines Menschen, der schreit. Ein Schrei, der von weit her, der über das Meer kommt, anfangs noch von Wind durchströmt, dann ganz klar: Jemand in Laand schreit, leise, sehr leise höre ich seinen Schrei. Sein Schrei kommt über das Meer, über seine Weite, über diese ganze unermeßliche Weite. Sein Schrei, sehr, sehr leise, aber doch noch zu hören, über das ganze Meer. Und ich bin nicht allein. </div>
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Ich bin niemals allein, zu keiner Zeit. Es ist immer ein Körper in meiner Nähe. Und in dieser Nacht ist es ein Körper in Laand. Ein unbekannter Körper, der schreit. Ein namenloser Schrei, den ich einschließe in meinen Körper, in dem ich das Leben murmeln höre. Ich bin fünfzehn Jahre alt, ich schreibe, ich bin so alt wie die Welt. Ich war bereits vor der Welt, so alt bin ich.</div>
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Mich vergewissern: Das ist Marie Grinberg. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Sie ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie spricht nicht mehr. Sie schreibt in blaue Hefte. Sie schreibt, wie andere atmen. </div>
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Marie Grinberg. Fünfzehn Jahre alt. Die kleine Fremde, die nackt im Meer schwimmt. Die kleine robuste Fremde, mit der Haut einer Strandgängerin. Die Klassenbeste. Das schweigende Kind. Die ohne Vater. Die mit der verrückten Mutter.</div>
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Marie Grinberg. Fünfzehn Jahre alt. Die mit den Wörtern lebt. Die nicht spricht, nicht wie andere. Die spricht, wie man überhaupt nur sprechen kann, auf die einzig denkbare Weise: indem man schreibt. Die schreibt, daß die Wörter schon immer da waren, wie die Luft, sogar schon vor der Luft, daß die Wörter ihre Familie sind, daß diese Familie in eigenen Räumen lebt, denen des Schreibens, und daß sie so gelegentlich über die Dinge hinausgelangt, die sie festhalten. Die jeden Tag eine neue Reise beginnt, mit jedem Wort, mit jeder Seite, die sie vollschreibt. Die so lebt, unter Ausschluß jedes anderen Lebens. Die von sich sagt: Ich bin so alt wie die Welt. Ich war bereits vor der Welt, so alt bin ich. Das schreibt sie. Das liest sie. </div>
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Marie Grinberg. Die Kleine vom Strand. Sie ruft Beobachtungen in sich hervor und bewahrt sie auf. Sie hört niemals auf damit, selbst wenn sie damit aufhört. Jedes noch so kleine Geräusch wird in der sie umgebenden Stille unfaßbar laut. Jedes Bild, das ihren Blick einfängt, kommt ihr so nah, daß sie es bis in seine Nuancen erkennen kann. Sobald ein Sandkorn ihre Haut berührt, hinterläßt es einen tiefen Riß. Sie hat eine eigene Sonne, dort wo sie ist, ihr eigenes Licht. Und wegen der Wörter, die es dort gibt, ist diese Wüste in ihr niemals still.</div>
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Manchmal steht sie allein vor dem großen Ankleidespiegel in ihrem Zimmer und ruft ihren Namen, um den Klang ihrer Stimme nicht zu verlieren. Aber weder kann sie den Klang hören noch ihren Ruf nach ihm. Sie schreibt ihren Namen auf den Spiegel, um ihn zu sehen. Und dann ist ihr Name da, denn sie kann ihn lesen. Denn es gibt ihren Namen, weil sie ihn lesen kann, aber sie kann ihn nur lesen, wenn er geschrieben ist. Überhaupt gibt es die Dinge nur, wenn sie gelesen werden können. Und sie können nur gelesen werden, wenn sie zuvor geschrieben wurden.<br />
(…)</div>
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Seit Jahren schreibe ich jede Nacht Wörter und Sätze auf das weiße Papier. Und während ich schreibe, lebe ich in dieser besonderen Nacht. Ich kann sagen, daß ich schon immer geschrieben habe. Ich habe nie etwas anderes getan. Davor habe ich gelesen. Zuerst habe ich die Tageszeitungen gelesen. Dann Zeitschriften. Ich las alle Zeitungen und Zeitschriften, die ich bekommen konnte. Und dann las ich die Bücher. Es waren Bücher aus der Bibliothek. Zuerst habe ich einige Bücher geholt. Ich las sie am Strand, im Laufe eines Nachmittags. Am nächsten Tag holte ich mir weitere Bücher, die ich noch am selben Tag las und am Tag darauf wieder zurückbrachte. Und dann nahm ich mir wieder andere Bücher mit. Ich las oft am Strand, bei gutem Wetter, die übrige Zeit las ich in meinem Zimmer. Ich las abends. Und nachts, in meinem Bett. Ich las, bevor ich in die Schule ging, schon beim Frühstück. Und später las ich in der Schule, in den Pausen. Ich war nie ohne ein Buch. Zuletzt habe ich die Bücher mit dem Handkarren aus der Bibliothek geholt. Man hat darüber viel gelacht, über meine Begeisterung für Bücher.</div>
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Sehr früh schon habe ich sehr gut lesen können. Lesen, ich konnte es schon immer, es war ganz natürlich. Ich habe es nie lernen müssen, ich konnte es von Geburt an, glaube ich. Das Lesen, es war immer da, in mir. Ich mußte es nur finden. Und eines Tages fing ich damit an.</div>
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Dann, mit dem Lesen, kam das Schreiben, wie selbstverständlich. Als ob die Wörter in den Büchern etwas in mir Vergrabenes angestoßen hätten, das ich erst noch erfinden müßte, indem ich darüber schriebe. Die ersten Buchstaben habe ich am Strand in den Sand geschrieben. Ich schrieb meinen Namen und war verwundert über die Stille meines Namens, wenn er nicht gerufen wurde, sondern geschrieben war. Und dann lag alles Vergangene und Zukünftige in meinem Namen verborgen, die ganze Welt. Denn ich konnte sie lesen, in meinem Namen, der in den Sand geschrieben war. </div>
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Bereits mit fünf Jahren lese und schreibe ich. Niemand hat es mir beigebracht. Als ich in die Schule komme, ist man darüber erstaunt. </div>
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Der Direktor kommt mit anderen Lehren ins Klassenzimmer und bittet mich, allen etwas vorzulesen. Ich lese die Geschichte von Ernesto, der nach dem ersten Schultag nicht wieder in die Schule gehen will, weil er findet, daß es sich nicht lohne, Dinge zu lernen, die er noch nicht weiß. Die Lehrer sagen, diese Kleine, schaut sie euch an, sie kann schon lesen. Und seht nur, die Kinder, wie aufmerksam sie ihr zuhören. Und dann sagen sie, ich solle ihnen das erklären. Worum geht es bei dem, was du uns vorgelesen hast, fragt der Direktor. Und ich sage ihnen, was ich weiß. Und dann fordern sie mich auf, an die Tafel zu gehen und etwas zu schreiben. Und ich schreibe etwas von Ernesto, etwas von dem, was ich gelesen habe und was mir gerade einfällt. Und die anderen Kinder klatschen begeistert in die Hände. Ein Kind sagt: Sie kann schreiben, sie kann lesen, was macht sie hier? Und ein anderes Kind sagt: Sie ist vielleicht nicht von dieser Welt, vielleicht ist sie ja ein Engel. Und das erste Kind entgegnet: Und wo sind dann ihre Flügel?</div>
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Mein Vater bekommt einen Brief, der Direktor bittet ihn darin um ein Treffen. <br />
– Ob er sich das erklären kann, dieses Wunder, sagt der Direktor. <br />
Daß der Direktor von einem Wunder spricht, bereitet meinem Vater Vergnügen. <br />
Mein Vater findet, es gebe überhaupt kein Wunder. <br />
– Lesen und Schreiben gehören zusammen, sagt er. <br />
Das Lesen ziehe einen zum Schreiben, das Schreiben ziehe einen zum Lesen. <br />
– Lesen und Schreiben ist übrigens das einzige, was man allein tun muß, sagt er. <br />
Man müsse es eigenhändig tun.<br />
– Es ist wie Sterben, sagt er.<br />
Nur das Leben werde von anderen bestimmt.<br />
– Und man muß lesen, um das zu begreifen, sagt er.</div>
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Das erste blaue Heft habe ich von meinem Vater bekommen, kurz bevor er verschwand. Ein Mensch, der schreibt, es gibt nichts Größeres, sagte mein Vater einmal.<br />
(…)</div>
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Eines Tages, ich war ein Kind, ich war acht Jahre alt. Mein Vater ging nach Laand, in den Krieg. Sehr früh an einem Morgen, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als mein Vater fortging, begann für mich der Krieg.</div>
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Zwei Tage zuvor war ein Bote aus Laand gekommen, er hatte einen Brief für meinen Vater mitgebracht. Danach war mein Vater verändert. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie er in dem Haus mit den roten Ziegeln umherlief. Er wirkte angespannt und unruhig. Plötzlich hatten wir nur noch wenig Zeit, bevor er fortging. Ein Abend und die ganze Nacht, das war die Zeit, die uns blieb, für alles, wofür wir unter anderen Umständen, ohne den Krieg in Laand, ein ganzes Leben Zeit gehabt hätten. </div>
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Als mein Vater fortging, war ich ein Kind. Ich war ein Kind von acht Jahren, als mein Vater fortging. Mein Vater sagt mir, daß er mich liebt, daß er bald zurückkehrt. Er verspricht es mir. In unserer letzten Nacht, die wir gemeinsam am Strand verbringen, erklärt er mir, daß in seiner Heimat vor einigen Monaten ein Krieg ausgebrochen sei.</div>
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Zuerst sieht er mich lange an. Dabei hält er meine Hand. Und nach einer Weile berührt er sanft meinen Hals. Dann berührt er mich mit seinen Lippen am Hals, an derselben Stelle, wo seine Hände mich berührt haben. Und dann nimmt er mein Gesicht in seine Hände. Und dann berühren mich seine Lippen auf meinen Lippen, was mit einer unglaublichen Zärtlichkeit geschieht. Und danach sind wir ein Liebespaar. Wir sind aus dem Sichtbaren herausgefallen, in eine anderen Zeit, die nicht möglich ist.</div>
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Er sagt, daß Thio Kie Manson damit begonnen habe, alle großen Bibliotheken zu zerstören, viele Jahrhunderte alte Werke aus Wissenschaft und Kultur seien bereits in Flammen aufgegangen, vieles unauffindbar und verloren. Man habe ebenfalls damit angefangen, die Lehrer und Intellektuellen zu ermorden, um so zu verhindern, daß die die Pogrome überlebenden Kinder ihre Sprache und alles, was damit zu tun habe, lernen werden. </div>
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Die Geräusche eines ruhigen Meeres. Mein Vater starrt nun auf das Wasser, er rührt sich nicht. Dann sieht er mich wieder an. Vom Hafen hört man die Rufe der Schiffe. Man hört Sirenen aus der Stadt, die jäh von der Nacht verschluckt werden. Ich befeuchte meine Fingerspitzen. Dann fahre ich mit ihnen über seine Lippen. Er schließt seine Augen. So vergeht Zeit.</div>
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Er sagt, daß Thio Kie Manson Frauen und Kinder kreuz und quer durch das Land jagen lasse. Er lasse sie in die Berge und in die Wälder treiben, bis sie am Ende nicht mehr ein noch aus wüßten vor Hunger und Durst. Bis sie auf allen Vieren lebten, nackt, mit verkrusteten Körpern, zwischen Erde, Felsen, Blut und Schlamm. Bis ihr Gedächtnis, in der Starre ihrer Angst, in dem Wehklagen um ihre Kinder, über deren vor Erschöpfung sterbenden Körpern sie wachen, inmitten der Felsen und der weiten Ebenen ohne Schutz, löcherig geworden sei. Bis ihr Gedächtnis völlig zerfressen sei, ein Schwamm, ein Wort ohne Sinn. </div>
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Die Geräusche, die das Meer macht. Ich spüre das Leid, in das diese Geschichte meinen Vater stürzt. Am Strand ruft jemand nach seinem Hund. Erneut die Sirenen, die erneut abbrechen. Ich beuge mich vor und küsse seine Lippen. Dann seine geschlossenen Augen. Dann erneut seine Lippen. Wieder vergeht Zeit. </div>
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Er sagt, daß Thio Kie Manson mit jedem mehr, den er vertreiben und ermorden lasse, nach und nach das Gedächtnis eines ganzen Volkes auslösche, bis man für die Wiedererinnerung keinen Ausgangspunkt mehr fände, von dem aus man noch beginnen könnte, sich wieder zu erinnern. Bis alle Orte, an denen die Bilder, an die man sich erinnern wollte, ausgelöscht seien. Bis es keinen mehr gäbe, der sich an die Existenz dieser Orte und der dort in einer bestimmten Ordnung aufbewahrten Bilder erinnern könne. Und eines Tages würde es das, was es einmal gegeben hätte, nicht mehr geben, weil es keine Zeugen mehr gebe, keine Dokumente, keine Beweise. Und dann hätte es auch die Vernichtung nicht gegeben.</div>
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Die vergehende Zeit am Strand, nun mit Blick auf das Meer, das ruhig ist, als wäre es nie anders. Dann der abwesende Blick meines Vaters, auf mich gerichtet, ohne mich wiederzuerkennen. Dieser Blick, auf nichts gerichtet, alles verlassend, bis auf Laand. Und dann sieht dieser Blick mich plötzlich, erkennt mich wieder. Und mein Vater sieht mich an, als ob er mich liebt.</div>
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Er sagt, daß man ihn gebeten habe, nach Laand zu kommen. Er solle helfen, die Bücher zu retten, die Vernichtung zu dokumentieren. Er solle mithelfen, zu verhindern, daß die Opfer unauffindbar werden, daß es ein ganzes Volk nicht gegeben haben wird.</div>
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Ich sehe meinen Vater an, während erneut Zeit vergeht. Die Sätze meines Vaters durchqueren mich wie ein richtungsloses Lastschiff einen Fluß und türmen sich an einer Stelle, wo sie sich allmählich auflösen. Dann sage ich ihm, daß ich nicht alles verstanden hätte, was er gesagt habe. Aber ich hätte verstanden, daß man ihn gerufen habe. Und es sei wohl so, daß er keine Wahl habe.</div>
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Ich sage: So weit, weiter noch als das Meer, weiter als alles, noch vor der Erfindung des Wortes, noch davor, noch vor allem und nach allem, und noch danach, immer, die ganze Zeit über und durch die ganze Zeit hindurch werde ich dich lieben, liebe ich dich.</div>
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Jäh entsteht Stille. Die Geräusche der Stadt und die des Meeres entfernen sich, werden unsichtbar, unhörbar. Die entstandene Stille ist wie eine Grenze, ohne Berührungspunkte. Sie kann nicht überwunden werden. Vielleicht durch den Tod.</div>
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Am Morgen begleite ich meinen Vater zur Fähre und schaue ihr nach, wie sie mit ihm über das Meer fährt. Und danach, während ich lange über das Meer schaute, der Fähre hinterher, war da diese fortdauernde Spanne von Verlassenheit, die die künftige Zeit machte. Zuerst klammerte sie sie ein. Dann ließ sie sie nach und nach verschwinden. Und dann ersetzte sie sie durch diesen einen Augenblick, der sie endgültig zum Stillstand brachte.</div>
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In der folgenden Nacht bin ich allein im Haus. Ich bin in meinem Zimmer, wo ich weine und schreie, bis ich keine Tränen mehr habe, bis ich heiser bin. Ich zittere am ganzen Körper, ich verliere das Gleichgewicht und stürze. Ich hämmere mit dem Kopf gegen die Wand, bis meine Stirn davon blutet, bis ich mich übergeben muß. </div>
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Meine Mutter ist nicht da. Sie ist irgendwohin gegangen, um sich zu betrinken. Daß mein Vater fortgegangen ist, darüber ist sie außer sich.</div>
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Am nächsten Morgen laufe ich zur Fährstation. Und dann jeden Tag. Doch mein Vater kommt nicht zurück. Da weiß ich es noch nicht. Ich sehe ihn nie wieder. </div>
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Was ich immer sehe, ist dies: Ein Mann und ein Kind am Strand. Ihre letzte gemeinsame Nacht. Der Mann hält die Hand des Kindes, während er spricht. Der Mann spricht mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Das Kind ist sich dessen bewußt. Es hört zu, mit großem Ernst. Später nimmt der Mann das Gesicht des Kindes in beide Hände und berührt dessen Lippen mit seinem Mund. Einmal berührt das Kind mit seiner Hand das Gesicht des Mannes, um seine Tränen von dort wegzuwischen. Ein anderes Mal befeuchtet es seine Finger und fährt damit über seine Lippen. Ein weiteres Mal küßt es ihn auf seinen Mund. Dies geschieht mit einer so schmerzhaften Zärtlichkeit, daß mich dieses Bild heute manchmal noch zum Weinen bringt.<br />
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Als Kind war ich häufig mit meinem Vater auf den Hügeln. Von Mont d’or aus hat man einen guten Blick auf Talassa und seine Terrassenlandschaft, auf die kilometerlange Küste mit ihren Sandstränden und Felsen, die Buchten, Grotten und die kleinen Inseln. Es ist so, daß die ganze Stadt ihren Blick auf das Meer richtet, ausschließlich, als ob sie sich von allem anderen abwendet.</div>
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Auf der anderen Seite des Meeres liegt Laand. Dort ist das Tier vollends aus dem Winterschlaf erwacht und verursacht einen großen, dunklen und nicht enden wollenden Schmerz, der selbst uns erreicht hat, auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen. Je mehr der Schinder Thio Kie Manson die Richtung verloren hat, um so mehr beschleunigt er das Tempo. Dabei hat er jeden Lebensgrund derart verheert, daß nicht einmal der Tod noch einen Sinn hat. Und überall in Laand geschehen diese Dinge. Seltsame Dinge, die so grauenvoll sind, daß kaum einer sie aussprechen kann, ohne auf der Stelle daran zu verzweifeln. </div>
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Da es niemand gesagt hat, sage ich es, damit es gesagt ist: Heute ist der menschliche Körper nicht mehr als ein Stück zuckendes Fleisch, das man vertreiben, mißhandeln, vergewaltigen oder sonstwie schänden kann, bevor man es ermordet und in einem Massengrab verscharrt. </div>
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Und auch dies: Eine furchtbare Besessenheit hat Besitz ergriffen von den Menschen, sie alle befinden sich in einem Zustand entsetzlichsten Tobens. </div>
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Und dann, eines Morgens, geschieht es. </div>
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Eines Morgens, in aller Frühe, noch vor Tagesanbruch, ich sehe es ganz klar, rast dieses grauenvolle Toben über Laand hinweg wie ein schrecklicher Sturm, der vor nichts mehr haltmacht und alles unter sich begräbt. Nun dauert es nicht mehr lange, bis sogar Freunde und Nachbarn übereinander herfallen, um sich gegenseitig zu erschlagen, oder um die Frauen und Töchter ihrer Mitbewohner zu vergewaltigen und sie anschließend an die Wände ihrer Häuser zu nageln. Und da nun alles der Zeit enthoben ist, ist alles möglich geworden, sogar das ganz und gar Undenkbare. Bereits nach dem ersten Tag, bei Anbruch der Nacht, erscheint jeder Augenblick wie ein unbewohnter, von jedem Mitleid und aller Gnade befreiter Ort. Ein unmöglicher Ort, an dem alle Grenzen zertrümmert sind, an dem alle Ordnungen zu entgleiten drohen, wo die Überlebenden gezeichnet sind von einer sie völlig durchstoßenden, die Augenblicke der Folter überdauernden Wirkung, die jeden weiteren Augenblick ihres Lebens anhalten wird, vielleicht wie ein Fehler oder eine Narbe, wie etwas ganz und gar Entstellendes, das sich von außen an sie befestigt und sich von innen an sie geheftet hat, etwas, das sie fortan bestimmen und ihr Inneres nach und nach kolonialisieren wird, bis es sie ganz und gar eingeebnet hat, bis nichts mehr wiederzuerkennen ist. Eine Wirkung von solchen Ausmaßen, daß sie alles andere versiegeln wird, für lange, sehr lange, für eine sehr, sehr lange Zeit, für alle Zeit, ohne jedes Vergessen, ohne jede Ruhe. Und diejenigen, die heimfinden, werden in einer Schattenwelt existieren, die sie zurückkehren läßt, ohne daß sie zurückkehren können, ohne dazu noch fähig zu sein, weil das, was geschehen ist, unauslöschlich bestehenbleibt, in jeder beliebigen Zukunft, unvergessen: Dieses unvorstellbare Grauen in Laand, diese Bündel von Menschen, unrettbar verloren, zusammengepfercht in den Lagern, im Osten. Dieses ganze geschundene Fleisch der Körper, das Angstatmen und Angstweinen in diesen Körpern, das Angstschwitzen, das Angstbluten, das Angstpissen und Angstscheißen, das ganze Angstschweigen, die lauten und leisen und die stummen Schreie der Angst, die unaufhaltsam vorrücken und einen tiefen Riß verursachen. Ein so umfassender Riß, daß er die Ordnungen der Welt von der Welt trennt, sie wie mit einem Rasiermesser nach und nach zerschneidet, bis ihre einzelnen Teile durch die Zeit treiben, die sie vollständig zerstört. Auch in Talassa, wo dieses Grauen die Menschen unbemerkt durchstößt, in sie eindringt und sie im Verborgenen, unter ihren Oberflächen, in einem noch kaum vorstellbaren Ausmaß erschüttert. </div>
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Und dann, nachdem es gesagt war, schon ab den folgenden Tagen, kann man die Stimmen der Ermordeten, der wehrlos in Laand Zurückgelassenen, der Kinder über das Meer kommen hören. Und ihre gräßlichen Schreie erfüllen die Luft in einer unendlichen Dauer bohrender, hämmernder, zuckender und auseinanderreißender Martern, einem Gebilde aus bestialischen Schmerzen, zerstochenen und zerstoßenen Körpern, verbranntem Fleisch und einer unauflösbaren Vergehensangst, das den Himmel überquert wie eine dichte Wolkenformation, die so undurchdringlich ist, daß es nichts mehr jenseits von ihr gibt. Damit, mit diesen gewaltigen Wolken, die durch nichts bezwungen werden können und die von einem Töten und Leiden erzählen, das sich der Sprache entzieht und vielleicht jenseits von ihr liegt, kommen, von starken Winden erfaßt, mächtige Sandwolken mit den Luftmassen über weite Strecken von überall her und reiben sich an einer besonders rauhen Stelle, an der ich sitze und schreibe, für meinen Vater, der in Laand ist. Am Frachthafen legen die ersten Schiffe an, um beladen oder gelöscht zu werden. Und mein Vater ist wie ein besonders schöner Brunnen, dessen Wasser ich nicht trinken kann, obwohl ich sehr großen Durst habe. Ich warte. Ich weiß nicht worauf. Vielleicht warte ich auf Sie. Und ich schreibe.<br />
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Eines Tages, nachdem die Internationale Staatengemeinschaft Teile von Laand befreit hat, sieht man in den Nachrichten, in den gekühlten Tunneln von P. in Laand, auf hohen Regalen aus Holz, die weißen Plastiksäcke mit den Leichen der Männer aus einem Dutzend von Massengräbern zur Identifizierung liegen. Soweit die Menschen noch in Laand leben, kommen sie von überall her nach P. Die, die vertrieben wurden, oder die anderen, die zuerst gequält, gefoltert und vergewaltigt und anschließend vertrieben wurden und die nun als Flüchtlinge in der ganzen Welt verteilt leben, kommen nicht zurück nach Laand.</div>
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Zuvor waren Spezialisten der Gerichtsmedizin aus der ganzen Welt, Männer und Frauen, nach P. gereist. Sie hatten ihre jeweiligen Institute und Universitäten verlassen, wo sie arbeiteten und lehrten, hatten ihre Frauen, Männer und Kinder zurückgelassen, um ihren Teil an der Aufklärung der Verbrechen in Laand zu leisten. Denn in Laand seien der Geschichte der menschlichen Bestialität neue Kapitel hinzugefügt worden, sagte der Sprecher der Ärzte. Aber man werde jeden Schlag und jede Mißhandlung beweisen, jede Art der Folter, man werde das alles rekonstruieren. Man werde sämtliche Todesarten erfassen und sie detailliert beschreiben und so herausfinden, was schließlich zum Tod jedes einzelnen geführt habe. Wie es geschehen sei, an welchem Tag, zu welcher Stunde, man werde das lückenlos dokumentieren. Man werde jedes Opfer identifizieren, ganz gleich, wieviel Zeit dies in Anspruch nehme, ganz egal, was es koste. Letztendlich werde man die Täter überführen, jedem einzelnen von ihnen werde man anhand der Opfer seine Verbrechen nachweisen. Es werde Gerechtigkeit geben, keiner der Täter komme ungeschoren davon. Der Sprecher der Ärzte ist sich absolut sicher. Außerdem werde man eine Liste der Qualen aufstellen, die die Opfer zu erdulden gehabt hätten, bevor sie ermordet und in ein Massengrab geworfen worden seien. Dieses Mal werde man nicht allein den direkten Angehörigen alles sagen, sondern mit Hilfe des Fernsehens die ganze Welt zu Beteiligten machen. Man habe sich dazu entschieden, gerade mit Blick auf das letzte Jahrhundert, das ein Jahrhundert der aneinandergereihten Gruben gewesen sei, daß die Menschen begreifen müssen, daß sie einander keine Fremden seien, sondern miteinander verwandt. Auch, daß Verwandtschaft nicht mit der eigenen Familie aufhöre, sondern daß sie weiterreiche, weiter als man es sich bisher vorstellen wolle. Ein Mann, der in Vancouver lebe, erfahre, daß man einen anderen Mann, der in Laand gelebt habe, gefoltert, vergewaltigt, ermordet und dann in einem Massengrab entsorgt habe wie Müll, das müsse ihn betreffen, als ob sein eigener Bruder gestorben sei. Auch sei das, was man aufdecken werde, zu groß und zu furchtbar, als daß einzelne es tragen können, die Familie aller Menschen müsse hier zusammenstehen. </div>
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Einige Kinder sind in P., man sieht diese Kinder im Fernsehen. Es ist beunruhigend, diese Kinder im Fernsehen zu sehen. Man weiß nicht, wo genau sie herkommen. Man weiß nichts von diesen Kindern. Sie sitzen ganz still neben den Plastiksäcken mit den Leichen. Schweigend halten sie dort Totenwache bei ihren Vätern, Großvätern und älteren Brüdern. Man weiß nicht, ob diese Kinder noch Mütter haben, keiner kann sagen, warum ihre Mütter nicht hier sind, bei ihnen, in einem solchen Augenblick. Und wenn diese Kinder noch Mütter haben, ob sie zuletzt überhaupt bei ihnen gelebt haben. Und wenn sie nicht bei ihnen gelebt haben, wo sie dann gelebt haben. Oder ob ihre Mütter nicht schon lange in den Konzentrationslagern sind, im Osten Laands, wo die Männer Thio Kie Mansons damit begonnen haben, ihre durch die Folter umgekommenen Gefangenen in Containern zu verbrennen. Vielleicht hatte man ihre Mütter dort zuvor in die Frauenräume gesperrt, um sie an den Abenden bequemer abholen und ganze Nächte lang vergewaltigen zu können. Möglicherweise sind ihre Mütter noch auf der Flucht in den Wäldern oder den Bergen Laands. Man kann nicht das geringste sagen über die Mütter. Weder kann man etwas über die Mütter sagen, noch über die Kinder. Keiner weiß etwas. Nur dies: Sie waren plötzlich da, schweigend, eine beträchtliche Anzahl verstummter, sprachloser Kinder, die kleine Zettel in ihren Händen hielten, auf denen die Identifikationsnummern ihrer Angehörigen standen. Einige Kinder hielten mehrere Zettel in ihren Händen. Doch merkwürdigerweise weinten sie nicht, keines der Kinder weinte oder schrie seinen Schmerz heraus. Sogar ihre Bewegungen und der Ausdruck ihrer Gesichter wirkten so, als läge jeder mögliche Ausdruck von Schmerz und Trauer bereits hinter ihnen. So als ob diese ernsthaften Kindergesichter, in ihrem Schweigen, umgeben von den Plastiksäcken, in denen sich die Leichen ihrer Angehörigen befanden, in ihrem gesamten Ausdruck bereits ihre letztmögliche Gestalt angenommen haben. Jeder Versuch, sie von den Plastiksäcken wegzuholen, scheiterte, denn kaum hatte man sie weggebracht, waren sie schon wieder da. Sie waren völlig unbeirrt, diese Kinder, keiner konnte wirklich etwas tun. Zu sehen ist nur, daß diese Kinder allein sind. Und sie sind allein in P., bei ihren toten Angehörigen. Und sie wachen dort. Und sie schweigen, ein schwerwiegendes Schweigen, dem man kaum entkommen kann. Und man sieht sie im Fernsehen. Und das ist alles, was man sagen kann.</div>
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Seit Wochen zeigen sie diese Leichen im Fernsehen. Bevor sie die Leichen vorzeigen, sagen sie, daß die Internationale Staatengemeinschaft die Kosten für die Überführung und Bestattung komplett übernehmen werde. Dann, wenn die Leute, die die Leichen im Fernsehen sehen, glauben, daß sie einen Verwandten, einen Freund oder einen Nachbarn wiedererkannt haben, können sie dort anrufen. Sie nennen die Nummer des identifizierten Leichnams, den Namen des Verwandten, des Freundes oder Nachbarn und den Ort, wohin er überführt werden soll. Viele von denen, die dort anrufen, wurden vertrieben. Sie haben keinen Ort mehr, wohin sie ihre Verwandten überführen könnten. Andere werden nie mehr in P. anrufen können, weil sie tot sind, ermordet. Weil Thio Kie Manson die Orte und jeden und alles, was es in ihnen gegeben hat, restlos ausradiert hat. Die Leichen, für die sich keine Angehörigen finden ließen, würden anonym beigesetzt. Diese Massen von Leichen, überall in Laand, es sei anders nicht zu schaffen. </div>
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Sie haben den Leichen Nummern gegeben. Sie sagen, wo genau sie die Leichen gefunden haben, in welchem Massengrab. Im Fernsehen nennen sie die Namen der Dörfer und Städte, in deren Nähe die Massengräber liegen. Auch Namen von Dörfern und Städten, die es nicht mehr gibt. Die Dörfer und Städte, die von Thio Kie Manson ausgelöscht wurden. Auf ihren Karten deuten sie auf jene Punkte, die für die Dörfer und Städte stehen. Dörfer und Städte, an die sich keiner mehr erinnern kann, weil alle, die sich daran erinnern könnten, ermordet wurden. Gäbe es diese Karten nicht und die Punkte auf ihnen, man wüßte nichts davon, daß diese Orte je existiert haben. Und dann sind es noch die Leichen, in den Tunneln von P., die darauf hinweisen, daß diese Karten keine Fiktion sind, sondern daß tatsächlich Menschen an diesen Orten gelebt haben. </div>
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Man hat mir seinen Leichnam im Fernsehen gezeigt. Er lag in einem weißen Plastiksack. Ich glaube, ich wußte es schon vorher. Ja, ich bin mir sicher, ich wußte es bereits. Als sie damit anfingen, im Fernsehen die Leichen aus den Massengräbern zu zeigen, um die Leute schneller identifizieren zu können, da wußte ich es. Gleich zu Beginn dieses sonderbaren Spektakels, als ich dachte, daß wir nach zwei Weltkriegen, nach Auschwitz, nach Hiroshima und Nagasaki, nach den Massakern an den Armeniern, nach der Auslöschung von Millionen ukrainischer Bauern durch Verhungern, nach Stalins Gulags, nach Vietnam und Nanking, nach Ruanda, Burundi und Tschetschenien, daß wir nach all diesem Grauen nirgendwo angelangt waren außer in Laand, da wußte ich es. Ich wußte es, weil dieses ganze Morden, diese Millionen Ermordeter nicht etwa zu einem lebendigeren Gewissen oder zu einer höheren Moral geführt haben, sondern geradewegs nach Laand, von wo aus nun über Tage und Wochen Leichen aus Massengräbern im Fernsehen gezeigt wurden. Auch, daß ich ihn wiedersehen würde, ich wußte es schon lange. Und dann, nachdem ich sechs Tage im Fernsehen die Leichen gesehen hatte, sah ich ihn am siebten Tag.</div>
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Am siebten Tag sah ich ihn. Zwei Männer, die helle Schutzanzüge, durchsichtige Gesichtshelme und schwarze Gummihandschuhe trugen, öffneten geschickt den weißen Plastiksack. Sie verständigten sich durch Handzeichen und über die Mikrophone, die in ihren Gesichtshelmen angebracht waren. Routiniert näherte sich die Kamera dem Leichnam.</div>
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Dann sehe ich ihn. Seine Augen sind weit aufgerissen. Von dem Blau seiner Augen ist nichts wiederzuerkennen. In den Augenhöhlen und in seinem Mund ist Erde. Einer der Maskierten nennt die Todesursache: Genickschuß. Die Handwerker des Todes haben ihn in den Schlaf versetzt. Mit einem Schuß in sein Genick haben sie das ganze Universum ausgelöscht, das er war. Seine Kleider sind gut erhalten. Ich hätte ihn anhand seiner Kleider trotzdem nicht wiedererkannt. Es sind fremde Kleider. Ich kenne sie nicht. Auch sein Körper befindet sich in einem guten Zustand. An seinem Körper erkenne ich ihn sofort wieder. Sein Gesicht und seine Hände sind nahezu unverändert. </div>
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Der maskierte Rechtsmediziner erklärt in die Kamera, daß der gute äußere Körperzustand nichts Ungewöhnliches sei. Immerhin seien die Leichen tief vergraben gewesen. Er spricht von der Temperatur und von einem außergewöhnlich langen und kalten Winter. Ich weiß, daß das, was er sagt, richtig ist. Ich habe einmal etwas darüber gelesen.</div>
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Dann sagt der Arzt, daß sie ihn gefoltert haben. Sie haben dazu Säure, Strom und eine Säge benutzt. Dann erklärt er, an welchen Stellen des Körpers Säure, Strom und die Säge benutzt worden sind. Zuerst vergesse ich es bereits, während ich es höre. Dann weigere ich mich, es zu vergessen. Dann schweigt der Arzt. Danach sagt er, daß sie ihn vergewaltigt haben. Vermutlich mit dem Stiel einer Axt. Was das angehe, habe man charakteristische Verletzungen gefunden, die keinen anderen Schluß zuließen. Ebenso Splitter einer typischen Holzart, die bei der maschinellen Herstellung von Axtstielen verwendet werde, daneben Spuren eines bestimmten Lacks. Seine Hand, über die der Gummihandschuh gestreift ist, hält ein goldenes Medaillon in die Kamera. Es ist bereits geöffnet. Die Fotografie eines Kindes ist zu sehen. Das Kind ist vielleicht acht Jahre alt, ein Mädchen. </div>
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Ich konnte ihn mir tot nicht vorstellen, obwohl ich es schon lange gewußt habe. Daß sein Körper tot sein würde, es war unvorstellbar für mich. Ich habe nie daran gedacht, daß mein Vater tot sein könnte. Das Vorauswissen, das ich von seinem Tod hatte, ändert daran nichts. Der Mann, der nach Laand gegangen war, um etwas zu schaffen, von dem aus man beginnen konnte, sich wieder zu erinnern, später einmal, wenn der Krieg vorbei war. Der verhindern wollte, daß es Thio Kie Manson gelang, nicht nur ein ganzes Volk, sondern jede Erinnerung an es, sein gesamtes Gedächtnis auszulöschen. Der aufgebrochen war, um die Bücher zu retten. Jener Mann, der das Gesicht seines Kindes in beide Hände genommen und mit seinen Lippen den Mund des Kindes berührt hat, in ihrer letzten gemeinsamen Nacht, in der es ihm seine Tränen aus dem Gesicht wischte und ihn auf den Mund küßte: Aleksander Grinberg, der Philosoph, der Dichter, der Lehrer, der Mann, der mich zum Schweigen gebracht hat, zum Schreiben, mein Vater, tot, ermordet, in einem Massengrab verscharrt, wie ein Hund. Und dann, am Ende des Winters, aus diesem Massengrab geholt, in einen Plastiksack gestopft und im Fernsehen gezeigt, damit jemand ihn identifizieren kann.</div>
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<br /></div>
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Vater, ich schreibe dir am Meer, damit du dich an mich erinnerst, wenn du zurückkehrst. Ich habe Worte für dich, Worte, die ich in blaue Hefte schreibe. Und ich habe mein Schweigen, damit kein Wort an dich verlorengeht. Und die Erinnerung von deinen Lippen auf meinem Mund, am Strand, in jener Nacht, in der ich noch einen Vater hatte. Vater, ich schreibe dir am Meer, damit du dich an mich erinnerst, wenn du nicht zurückkehrst. Ich schreibe dir am Meer, daß ich nun weiß, daß du nicht zurückkehren wirst.</div>
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<br /></div>
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In der Nacht nach dem siebten Tag gehe ich an den Strand. Nach dem siebten Tag bleibe ich die Nacht über am Strand und versuche zu weinen. </div>
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Am nächsten Tag gehe ich zu Kane in die Praxis. Das Wartezimmer ist voller Leute, die darauf warten, an die Reihe zu kommen. Auch Sie sitzen dort, ich sehe Sie sofort. In Kanes Sprechzimmer sitzt ein Patient auf der Liege. Auf dem Stuhl neben ihm liegen seine Kleider. Ich nehme seine Kleider und werfe sie ihm zu. Ich deute Richtung Tür. Der Patient ist überrascht. Er sieht Kane an. Ich trete energisch mit dem Fuß auf den Boden. Ich deute immer noch Richtung Tür. Kane fordert den Mann mit einer Geste auf, kurz hinauszugehen, er werde sich gleich weiter um ihn kümmern. Als der Mann gegangen ist, kommt Kane mir vorsichtig entgegen. Ich weiche vor ihm zurück. Dann gehe ich durch das Zimmer und setze mich hinter seinen Schreibtisch. Er tritt hinter mich. Er liest, während ich schreibe.</div>
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Er ist tot, schreibe ich.<br />
Mein Vater ist tot.<br />
Ich war die Nacht über am Strand und habe versucht zu weinen.<br />
Ich wollte darüber weinen. <br />
Ich wollte über seinen Tod weinen. <br />
Über die Umstände seines Todes wollte ich weinen. <br />
Aber ich konnte es nicht.<br />
Ich kann über seinen Tod nicht weinen. <br />
Auch nicht über die Umstände seines Todes. <br />
Nicht einmal das.<br />
Wenn ich schon nicht über seinen Tod weinen kann, müßte ich über die Umstände seines Todes weinen können.<br />
Die Umstände seines Todes sind entsetzlich.<br />
Ich müßte darüber weinen können. <br />
Ich kann es nicht. <br />
Ich kann nicht darüber weinen.<br />
Ich habe es die ganze Nacht über versucht.<br />
Über seinen Tod zu weinen, über die Umstände, die zu seinem Tod geführt haben. <br />
Zu seiner Ermordung. <br />
Ich kann darüber nicht weinen.</div>
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Sie haben ihn gefoltert. <br />
Das sind die Umstände. <br />
Die seines Todes. <br />
Seiner Ermordung.<br />
Mit Strom, Sägen und Säure. <br />
So haben sie ihn gefoltert.<br />
Dann haben sie ihm ins Genick geschossen. <br />
Zuvor haben sie ihn vergewaltigt.<br />
Mit dem Stiel einer Axt. <br />
So haben sie es getan.<br />
Mit dem Stiel einer Axt.<br />
Ich kann nicht darüber weinen. <br />
Ich weiß nicht warum.<br />
Vergewaltigt, mit dem Stiel einer Axt.<br />
Wieso kann ich darüber nicht weinen.</div>
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Sie haben ihn aus einem Massengrab geholt.<br />
Sie haben gesagt, in der Nähe der Stadt Z. <br />
Dort haben sie ihn gefunden, nahe der Stadt Z.<br />
In einem Massengrab.<br />
Mit einhundertfünfzig anderen. <br />
Alles Männer.</div>
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Mein Vater. <br />
In einem Massengrab.<br />
Vergewaltigt.<br />
Ins Genick geschossen.<br />
Davor gefoltert.<br />
Davor vergewaltigt.<br />
Oder zuerst vergewaltigt.<br />
Und anschließend gefoltert.<br />
Oder abwechselnd.<br />
Gefoltert und vergewaltigt.<br />
Vergewaltigt und gefoltert.<br />
Mein Vater.<br />
Gefoltert.<br />
Mit Strom.<br />
Mit einer Säge.<br />
Mit Säure.<br />
Vergewaltigt.<br />
Mit dem Stiel einer Axt.<br />
Dann ins Genick geschossen.<br />
Danach in ein Massengrab geworfen.</div>
<div align="justify">
Mein Vater.<br />
Gefoltert.<br />
Mit Strom.<br />
Mit einer Säge.<br />
Mit Säure.<br />
Vergewaltigt.<br />
Mit dem Stiel einer Axt.</div>
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Strom.<br />
Säge.<br />
Säure.<br />
Axt.<br />
Stiel.<br />
Diese Wörter sind geschändet. <br />
Die Männer von Thio Kie Manson haben sie besudelt.<br />
Mit dem Blut meines Vaters. <br />
Damit haben sie die Wörter deformiert und sie abstoßend gemacht. <br />
Mit seinem Blut.<br />
Für alle Zeit klebt sein Blut an diesen Worten.<br />
Für alle Zeit kann man diese Wörter nicht mehr benutzen.<br />
Immer.<br />
Es ist vorbei mit diesen Wörtern.<br />
Für alle Zeit.</div>
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Strom. <br />
Säge.<br />
Säure.<br />
Axt.<br />
Stiel.<br />
Mit dem Blut meines Vaters.</div>
<div align="justify">
Diese Umstände. <br />
Die seines Todes.<br />
Ich kann nicht darüber weinen.<br />
Über diese Umstände.<br />
Auch nicht über seinen Tod.<br />
Ich kann nicht weinen. <br />
Ich kann es nicht.</div>
<div align="justify">
Man hat mir seinen Leichnam im Fernsehen gezeigt.<br />
Er lag in einem weißen Plastiksack verpackt. <br />
So haben sie ihn mir gezeigt. <br />
Meinen Vater. <br />
Seinen Körper.<br />
In einem Plastiksack. <br />
Im Fernsehen.<br />
Sein Körper hat die Nummer Z. 149.<br />
Sein Körper war gut erhalten.<br />
Ich habe ihn wiedererkannt. <br />
An seinem Körper habe ich ihn wiedererkennen können.<br />
Das war möglich. <br />
Seine Hände, sein Gesicht. <br />
Es war ganz einfach, ihn wiederzuerkennen.<br />
Seine Augen waren weit aufgerissen. <br />
Von dem Blau seiner Augen war nichts mehr zu erkennen.<br />
In seinen Augenhöhlen war Erde. <br />
Auch in seinem Mund.</div>
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Sie haben das Medaillon in die Kamera gehalten. <br />
Meine Mutter hat es ihm zu seinem Geburtstag geschenkt. <br />
Das war kurz vor seiner Abreise. <br />
Sie wußte noch nicht, daß er abreisen würde, nach seinem Geburtstag.<br />
Da war ich acht Jahre alt. <br />
Dann haben sie die Fotografie aus dem Medaillon geholt und sie in die Kamera gehalten. <br />
Das Bild eines Kindes. <br />
Ein Mädchen, acht Jahre alt.<br />
Dieses Mädchen auf der Fotographie, ich habe mich gleich wiedererkannt, als sie sie in die Kamera hielten.<br />
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem meine Mutter mich fotografierte. <br />
Um meinem Vater eine Freude zu machen. <br />
Es war am Strand.<br />
Und dann ist es im Fernsehen zu sehen. <br />
Nachdem man es aus einem Massengrab geholt hat, ist es im Fernsehen. <br />
Zuvor lag es dort, in der Nähe der Stadt Z., den Winter über.<br />
Wie mein Vater. <br />
Und es ist gut erhalten. <br />
Wie der tote Körper meines Vaters. </div>
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Ich wußte es schon vorher. <br />
Ich sah Leichen, tagelang, im Fernsehen.<br />
Ich hörte, was man mit ihnen gemacht hat.<br />
Es gibt Worte für das, was man mit ihnen gemacht hat, als es noch keine Leichen waren, sondern Körper.<br />
Die Körper von Menschen.<br />
Worte, die zu nichts anderem mehr zu gebrauchen sind, wenn man einmal damit angefangen hat, das zu beschreiben, was man mit ihnen gemacht hat.<br />
Nutzlose Worte für alles andere.<br />
Ich wartete darauf, daß man mir seinen Leichnam zeigen würde, vor dem Fernseher wartete ich.<br />
Ich wußte es bereits.<br />
Er lag in einem Massengrab, den ganzen Winter hindurch, in der Nähe der Stadt Z. <br />
Ich wußte es die ganze Zeit.<br />
Den ganzen Winter hindurch. <br />
In einem Massengrab.<br />
Doch, ich wußte es.<br />
Sein Körper hat sich so gut erhalten, damit ihn jemand wiedererkennen kann.<br />
Er hat sich kurz vor Ausbruch des Winters töten lassen, damit ich seinen Körper wiedererkennen würde.<br />
Ich wußte das alles längst.<br />
Von dem einstigen Blau seiner Augen war nichts mehr zu erkennen, obwohl sie weit aufgerissen waren. <br />
Erde in seinen Augenhöhlen.<br />
Erde in seinem Mund.<br />
Die Erde Laands.</div>
<div align="justify">
Seine Lippen auf meinem Mund, am Strand, in jener Nacht, der des Abschieds. <br />
Und meine Lippen auf seinem Mund. <br />
In jener Nacht, in der er weinte.<br />
In jener letzten Nacht, der nun nichts mehr folgen wird.<br />
Nichts mehr, gar nichts mehr, es ist vorbei.<br />
Mein Vater ist tot.</div>
<div align="justify">
Dann zittere ich. Und dann kann ich nicht mehr weiterschreiben. Ich zerbreche den Füller. Die Tinte läuft über das Papier. Und ich möchte schreien, aber ich kann nicht schreien. Was aus meinem Mund dringt, klingt mehr wie ein Röcheln, ein entsetzliches Würgen. </div>
<div align="justify">
Kane nimmt mich von hinten in die Arme, zieht mich vom Stuhl, hebt mich hoch und trägt mich zu der Liege. <br />
Mein ganzer Körper zittert, zuerst in seinen Armen, dann auf der Liege. <br />
Ohne mich aus den Augen zu lassen, holt er eine Decke und wickelt mich darin ein. <br />
Dann zieht er eine Spritze auf. <br />
Ich schüttele den Kopf.<br />
– Es ist dafür, daß du etwas ruhiger wirst, sagt er.<br />
Mein Körper hört nicht auf zu zittern.<br />
Ich schüttele erneut den Kopf.<br />
Unter der Decke schlage ich mit der flachen Hand auf die Liege.<br />
Kane holt den Block und einen Stift vom Schreibtisch.<br />
Das Schreiben fällt mir schwer, weil ich so zittere.<br />
– Sie haben meinen Vater ermordet, ich will darüber nicht ruhig sein.<br />
Kane sieht mich unsicher an. <br />
Er fragt, ob er etwas für mich tun kann.<br />
Ich schreibe, daß Sie im Wartezimmer sind.<br />
Kane ist erstaunt.<br />
– Du willst, daß ich ihn hole, sagt er.<br />
Während ich zittere, versuche ich zu nicken.</div>
<div align="justify">
Kane geht hinaus und kommt wenig später zurück.<br />
Sie sind bei ihm. <br />
Darüber bin ich erleichtert. Ich kann nicht sagen warum.<br />
Er erzählt Ihnen, was geschehen ist.<br />
Es ist Ihnen nicht anzumerken, ob Sie ihm überhaupt zuhören. </div>
<div align="justify">
Sie sehen mich lange an. Sie warten, Sie sind völlig unbewegt.<br />
Mein Körper zittert noch immer. <br />
Sie stellen die Whiskylasche neben sich auf den Boden.<br />
Sie stehen dort. Sie beobachten mich.<br />
Sie versuchen dahinterzukommen, was mit mir nicht stimmt.<br />
Dann kommen Sie langsam näher. Sie treten an mich heran.<br />
Sie nehmen mir die Decke ab. <br />
Sie nehmen vorsichtig meine Hände und ziehen mich mit einem festen Ruck nach oben, bis ich auf der Liege sitze.<br />
Das Zittern meines Körpers ist so stark, daß ich beinahe von der Liege falle.</div>
<div align="justify">
Dann, ohne Vorankündigung, schlagen Sie mir zwei Male hart ins Gesicht.<br />
Das Zittern hört augenblicklich auf.<br />
Der Schmerz ist so heftig, daß ich weinen muß. <br />
Blut läuft aus meiner Nase und tropft auf mein Kleid.<br />
Sie nehmen mein Gesicht in Ihre beiden Hände. Sie sagen noch immer nichts. <br />
Sie sind auf eine Weise anwesend, daß Sie sehen, was kein anderer sieht.</div>
<div align="justify">
Und dann nimmt Ihr Blick mich auf der Stelle gefangen. <br />
Sofort haben Sie meine gesamte Aufmerksamkeit.<br />
Sie hören mir mit Ihrem ganzen Körper zu. <br />
Sie sind in mich eingetreten wie durch eine geöffnete Tür, mit derselben Leichtigkeit. <br />
Ich spüre Sie in mir. <br />
Jäh erfassen Sie alles, was mit mir nicht stimmt, mit einem einzigen Blick.<br />
Das Blut aus meiner Nase tropft auf Ihre Hände.<br />
Und dann weine ich lange, ich kann nichts dagegen tun.<br />
Sie sagen nichts, kein Wort. Sie schweigen die ganze Zeit über. <br />
Während dieser ganzen Zeit habe ich Ihre vollkommene Aufmerksamkeit. <br />
Sie können das, was ich durchmache, am eigenen Leibe spüren. Niemand sonst kann das. Ich bin mir ganz sicher. Auch, daß Sie Ihr heftiges, grausames Schweigen allein aus diesem Grund nicht durchbrechen, um Ihre Aufmerksamkeit nicht von mir fernzuhalten.<br />
Das Blut aus meiner Nase vermischt sich mit meinen Tränen auf Ihren Händen.<br />
Dann ist es vorüber.</div>
<div align="justify">
Sie nehmen Ihre Hände von meinem Gesicht, das noch von Ihren Schlägen brennt, von der Wärme Ihrer Hände.<br />
Sie gehen zurück an die Stelle, wo Sie die Flasche abgestellt haben. <br />
Sie trinken einige Schlucke. Sie schütten Whisky auf ein Taschentuch.<br />
Dann kommen Sie noch einmal zu mir zurück und wischen mir das Blut und die Tränen aus dem Gesicht.<br />
Meine Nase blutet noch immer.<br />
Und dann bleiben Sie, so, in meiner Nähe, mit dem Taschentuch. <br />
Sie bleiben, bis es aufhört zu bluten. Bis es nicht mehr weh tut. <br />
Sie bleiben lange. <br />
Sie streichen über mein Haar. <br />
Sie nehmen meine Hände. <br />
Sie legen Ihre Arme um mich. <br />
Sie halten mich. <br />
Sie sagen kein Wort.<br />
Und danach gehen Sie. <br />
Sie gehen, ohne ein Wort gesagt zu haben.</div>
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Noch nie zuvor in meinem Leben war ein anderer Mensch so in meiner Nähe wie Sie, so gegenwärtig.</div>
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<br /></div>
<div align="justify">
Nach dem Tod meines Vaters verhänge ich im Haus alle Spiegel. Ich trage zehn Tage lang keine Schuhe und Strümpfe. Ich zerreiße meine Kleider. Ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Ich gehe nicht in die Schule. Ich gehe nicht an den Strand. Ich schreibe nicht in meine blauen Hefte. Ich versperre die Eingangstür. Ich verdecke die Fenster. Ich sitze im Dunkeln auf dem Boden.</div>
<div align="justify">
Mein Vater ist tot, tagelang ist das Leben keine Lösung mehr. Ich spüre es nicht mehr, das Leben. Ich spüre überhaupt nichts mehr. Die Trauer über seinen Tod lähmt mich.</div>
<div align="justify">
Einmal höre ich es klopfen. Ich höre die Stimme von Kane. Ich will ihm nicht öffnen. Ein anderes Mal ist es Ihre Stimme, die ich höre. Ihnen möchte ich öffnen, denn ich verspüre ein tiefes Verlangen, mich irgendwo anzuklammern. Dann möchte ich mich einem Gott vor die Füße werfen, damit er über mich verfügen kann, denn ich möchte gerettet werden. Dann möchte ich Ruhe finden. Ich möchte mich fortbewegen, eine Entfernung zwischen mich und diese lärmende Stille bringen, die mich umhüllt, diese unwirkliche Stille, zu der ich selbst nach und nach werde. Dann habe ich keine Wünsche mehr, weder den Wunsch zu leben, noch den zu sterben. Die Möglichkeiten, das eine oder andere zu tun oder zu wollen, sind aufgebraucht, alle Möglichkeiten sind aufgebraucht. Dann geht es vorüber. </div>
<div align="justify">
Später frage ich mich, ob sein Vater die Kammern nur deshalb überlebt hat, damit sein Sohn in Laand endet. Gefoltert. Vergewaltigt. Ermordet. In ein Massengrab geworfen. Verscharrt wie ein Hund. Wieder ausgegraben. In einen weißen Plastiksack gestopft. Und im Fernsehen gezeigt.</div>
<div align="justify">
aus: Marie und der Mann vom Strand<br />
© RW; 2003, Wiesenburg Verlag<br />
ISBN 3-932497-94-5</div>
Vizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-46516116103626038802012-08-26T10:15:00.001-07:002012-08-26T10:15:21.716-07:00Lisa, Elisa, Anabelle<div align="justify">
<br />Was einem sofort auffiel, wenn man Yorck Berliner ansah, war sein Gesicht. Das war nicht das Gesicht eines Mannes in seinem Alter. Man selbst kannte niemanden, der Ende Vierzig war und ein solches Gesicht hatte. Es war ein gegeißeltes Gesicht, weil es Leid und Schwäche nicht mehr verhüllte. Überraschenderweise traf einen aus diesem zerstörten Gesicht ein kraftvoller Blick, der etwas Zerschmetterndes hatte und dem man auswich, weil man glaubte, ihn nicht ertragen zu können. <br />Dieser Mann blickte tausendfach konzentriert auf eine Welt, die ihn zurückgewiesen hatte und weiter zurückwies, vor der er aber gleichwohl nicht zurückwich. Die Anspannung, unter der er deswegen stand, war ihm anzumerken, mitunter konnte man sie körperlich spüren.<br />Leute, die ihn kannten, sprachen nach Anabelles Tod den Medien gegenüber von seiner beängstigenden Grobheit, von einer alles verschlingenden Kraft.<br />Greta bezeichnete ihn in einer Talkshow als ein wildes Tier, mit der Begabung, einen anderen bis in sein Innerstes hinein zu sehen. <br />Sie sagte, daß man das, was er sei, nie vollständig erfassen könne, weil er hinter allem, was er zeige, gleichzeitig immer alles verberge.<br />Nach Anabelles Tod wurde auch der Text wieder aus den Archiven hervorgeholt, mit dem Yorck Berliner Jahre vorher auf den Artikel eines bekannten Journalisten reagiert hatte und der als die Affäre Daniela B. in die Zeitungsgeschichte eingegangen war.<br />In einem Artikel mit der Überschrift Der gefährliche Mann behauptete dieser Journalist damals, daß Yorck Berliner auch außerhalb seiner Bücher zu allem imstande wäre. Er beschrieb Yorck Berliner als unbarmherzig, hinterhältig und egozentrisch, ohne jedes Mitgefühl. Dessen ewiges Herumreiten auf dem Thema des sexuellen Mißbrauchs nannte er erbärmlich und unappetitlich. Er beklagte, daß es sich bei Yorck Berliner so anhörte, als ob jedes Kind mißbraucht würde, wo man doch bestenfalls von Einzelfällen sprechen könnte. <br />An einer Stelle schrieb er auch über die Täter, bezeichnete sie als bedauernswerte Kreaturen, als Schwerstkranke, die gerade deshalb Verständnis, Milde und Nachsicht verdienten. <br />In einem unbegreiflichen Furor erklärte er Yorck Berliner zu einem heimlichen Täter, der, statt sich selbst über Kinder herzumachen, mit seinen Büchern über eine ganze Gesellschaft herfiel und diese schlimmer mißbrauchte, als jeder andere Täter dies jemals mit einem Kind tun könnte. Gewiß wäre es kein großer Verlust, wenn irgend jemand ihn abknallte wie einen tollwütigen Hund.<br />Yorck Berliner hat dem Journalisten damals geantwortet. Obwohl der Artikel weniger als achthundert Worte umfaßt, ist er jedem, der ihn gelesen hat, unvergeßlich geblieben. <br />Am Beispiel der fünf Jahre alten Tochter des Journalisten beschreibt Yorck Berliner ausführlich den sexuellen Mißbrauch und begibt sich dabei ohne erkennbare Abgrenzung in die Rolle des Täters. Am Ende des Textes fordert er den Journalisten auf, ihm nunmehr mit Verständnis, Milde und Nachsicht zu begegnen.<br />Wenige Tage nach der Veröffentlichung lauerte der Journalist Yorck Berliner in Trouville auf und schlug ihn krankenhausreif. <br />Daraufhin kam es zu einem Prozeß, bei dem das Gericht den Journalisten wegen Körperverletzung zu einer beachtlichen Bewährungsstrafe verurteilte. Zudem mußte er vier Wochen später in seiner Zeitung über die bekannten Statistiken zum sexuellen Mißbrauch informieren und sich im Fernsehen öffentlich dazu erklären.<br />Noch vor dem Gerichtsgebäude beklagte der Journalist den bereitstehenden Kollegen und Kameras gegenüber, Yorck Berliner nicht getötet zu haben. Jemand wie er habe mit jedem Wort, das er schreibe, sein Recht auf Leben verwirkt. Woraufhin Yorck Berliner mit bewegungsloser Miene erklärte, daß er es nicht bedauerte, die Tochter des Journalisten nicht mißbraucht zu haben. Nur im Gegensatz zu diesem, wüßte er wenigstens, wovon er redete.<br />Eine bekannte französische Psychoanalytikerin, die in dem Film von Jacques Winter zu der Affäre Daniela B. und zu seinen Kriegsbüchern gefragt wurde, war der Ansicht, daß nichts mehr darüber hinwegtäuschte, daß Yorck Berliner abgrundtief einsam war, fast blind vor Schmerz und Wut, mit einer vom Umherirren und Sehen im Dunklen gesteigerten Empfindsamkeit. <br />Sie sagte, daß Yorck Berliner niemand sei, der ein Schwert brauche oder eine andere Waffe. Er habe seine Sprache, und er mache mit ihr, daß sie einem widerfahre.<br />Sie glaubte, daß er sich nacheinander seine mit Schrecken tätowierten Hautschichten abzog und sie ausrollte wie Wandteppiche, um sie mit beiden Händen an die Stirn der Welt zu nageln. <br />Sie sagte, daß das, was die Menschen an diesem Mann alarmiere, weder seine Bücher, noch dieser beunruhigende Mann selbst seien. <br />Womöglich sei man an einem Punkt angekommen, wo einem gar nichts anderes übrigbleibe als angesichts dieser Kinderwunden, die er einem vorführe, aufzustöhnen.</div>
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<br /></div>
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Was ich zuerst an Yorck Berliner geliebt habe, war sein brennendes Verlangen nach jemandem, der ihn in seiner tiefen Einsamkeit berührte. Sein Verlangen war wie eine Anrufung, ein Flehen, das um so heftiger war, je mehr er es verbarg. <br />Erst danach liebte ich seinen Mut, seine große Intelligenz, seine Zartheit, seine Schönheit, die Weite seines Blicks, seine Großzügigkeit und eine so reine Empfindungsfähigkeit, daß es mich jedesmal überwältigte, wenn ich ihrer gewahr wurde. <br />Er war wachsam und aufmerksam und kam nie aufdringlich daher. Manchmal nahm ich sein Begehren kaum wahr, so leise und zögernd enthüllte es sich. Seine Zärtlichkeit war schmerzlich, als müßte er sie zuvor erst wiederfinden, um sie hervortreten zu lassen. Doch wenn er mich berührte und seine Hände an meinen Armen, Schultern, Schenkeln, meinem Bauch und Rücken entlangstrichen, hatten diese Berührungen etwas Unumschränktes. Seine Hände, sein Mund und seine Zunge ließen keine Stelle und keinen Winkel meines Körpers aus. Dabei waren seine Berührungen wie ein helles Licht, mit dem er in mich hineinleuchtete und machte, daß das Leben mich nicht wieder verließ. <br />Es ergriff und erschütterte mich wie bei keinem anderen Mann. <br />Ich erinnere mich an seinen schlanken, geschmeidigen Körper, der auffallend empfindlich war und an dessen Oberflächen es keine Spuren von Zerstörung gab, nur diese überall gegenwärtige Zerbrechlichkeit, die mich verwirrte und beunruhigte wie kaum etwas anderes in meinem Leben.<br />Als ich ihn das erste Mal berührte, dachte ich an eine hauchdünne Hülle, die bei einer falschen Berührung zerplatzen würde. Seine Haut war noch erfüllt von zarten Spuren einstiger Liebkosungen und Berührungen, die vielleicht von Lisa oder Elisa stammten und die jene unsichtbaren und unhörbaren Zeichen der erfahrenen Mißhandlungen allmählich zurückzudrängen begannen. Sein Körper erschien mir schön und voller Kraft und Ausdauer durch die Widerstände, durch die er hindurchmußte. <br />Und dann, in manchen Nächten, wenn ich nach der Liebe im Bett meinen Kopf auf seine Brust legte, konnte ich dieses Kind schreien hören. Das Kind, das er einst war und dessen Körper er in seinen Kriegsbüchern wie eine Leinwand ausgebreitet hatte, um darauf die schrecklichen Dinge auszustellen, die ihm widerfahren waren. <br />Seit Yorck Berliner verschwunden ist, habe ich viel über ihn nachgedacht. Auch darüber, wie es möglich war, daß er Dinge sagte, die sich kein anderer zu sagen getraut hätte. <br />Ich denke, es war wegen dieses Kindes, das er ständig in sich aufspürte, etwa wenn er, wie in einem seiner Kriegsbücher, die Not und Grausamkeit in den Kinderzimmern von heute mit dem Leid und dem Schrecken in Bergen-Belsen in Verbindung brachte. <br />Er sprach von den neuen Lagern, wie er die Kinderzimmer nannte. Er skandierte den Tod der Kinder mitten im Leben, er nannte sie Menschenopfer. Überlebende, deren Kinderzimmer man zu Vernichtungslagern gemacht habe und ihre Kinderbetten zu Folterorten. Er sprach von dem Gift, das sie ausströmten, das Gift ihres Überlebens. <br />Ein solcher Gestank, wie er sagte, daß man sich abwenden müsse, weil man nicht ertrage, was man angerichtet habe.<br />Kein anderer hat sich derart aufs Spiel gesetzt. Ich glaube, daß auch niemand sonst die Ungeheuerlichkeit des Mißbrauchs eindringlicher geschildert hat. <br />Wie sehr ein Kind durch jede Art von Mißbrauch seiner Menschlichkeit entkleidet wird, dafür fand er Beschreibungen, die so maßlos waren, daß sie über jede bekannte Vorstellung hinausgingen. Darin war er unversöhnlich bis zum äußersten. <br />In einer Art wilder Entschlossenheit hatte er all diese Dinge gesagt, die die vorhandenen Wunden noch vertieften. Dabei konnte man ihm immer ansehen, daß er wußte, worüber er sprach. <br />Ich weiß nicht, ob er glaubte, auf diese Weise das Wesen der Gewalt enthüllen zu können. Ob er dachte, so eine Erklärung finden zu können für den, wie er sagte, massenhaften Mißbrauch von Kindern. <br />In der bedrängten und bedrängenden Präsenz seiner ganzen Erscheinung in ihrem gefühlten, wirklichen Schmerz erschien er einem wie eine Naturgewalt, die jäh und mit unglaublicher Heftigkeit über einen hereinbrach und der man kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Keiner hätte mehr sagen können, was seine ganze Gegenwart ausmachte. Waren es die Verletzungen, die er überlebt hatte, oder vielmehr, in Folge davon, die langen Jahre der Extraterritorialität, sein Leben an den Rändern, zuerst in der Verleugnung seiner Wunden, dann in der ungebändigten Begegnung und Auseinandersetzung mit ihnen. <br />Keiner hätte das noch aufzuklären vermocht. Es war so, daß er ein Wissen über die Gewalt hatte wie kein anderer. Und dies nur aus dem Grund: weil sie ihm zugestoßen war und er überlebt hatte.<br />Auf einer Veranstaltung des Kirchentags, wo Yorck Berliner als Redner eingeladen war und über die Folgen des sexuellen Mißbrauchs sprach, bestand er darauf, daß es um alles ging, um das ganze Grauen, um das ganze Leben, um die äußerste Schwelle zwischen Menschlichem und Unmenschlichem, und daß, wo Tausende betroffen waren, es immer um die ganze Menschheit ging. <br />Wie auch in seinen Büchern sprach er von den durch diese bestialische Überwältigung entehrten Körpern der Kinder, von ihren Verwundungen bis in die Sprache hinein. Er charakterisierte die Körper dieser Kinder als frevelhaft, ausgehöhlt, schwarz von Schuld, demoliert, zerbrochen, unansehnlich, häßlich, kalt und unfreundlich, als Körperscherben und Reste von etwas, das einmal schön war. <br />Die Körper von Kindern, wie er sagte, zart und voller Anmut. Und so verführerisch, daß keiner sich zurückhalten konnte, wie er schneidend hinzufügte: ein Verbrechen, diesen Körper nicht in Besitz genommen zu haben, ein so wundervoller Körper sei doch wie dafür gemacht, ihn zu entweihen. <br />Er nannte die Kinder das Spielzeug der Männer, das diese kaputtmachten und wegwarfen, wenn es älter wurde und keinen Spaß mehr mit ihm machte. <br />Diese abscheulichen Männer, wie er sagte. Männer, die es fertigbringen, daß sich die Augen der Kinder nicht mehr mit Tränen füllen können. Daß die Kinder nicht mehr weinen, obwohl sie vom Schmerz abgeschabt sind bis auf die Knochen. <br />Und dann rief er: Seht nur hin, so machen sie es, die Kerle, so lassen sie die Kinder der Welt abhanden kommen, noch bevor sie richtig in ihr ankommen können. <br />Mit einer Geste, einem Blick, den geballten Fäusten, einem übersteigerten und gleichzeitig herablassenden Mienenspiel oder einem wie tollwütig wirkenden Blick war er imstande, einen Schmerz, eine Agonie, eine ungeheure Trauer oder das Vibrieren eines geschändeten Kinderkörpers vor einem entstehen zu lassen, daß es einem bis in den eigenen Körper hinein weh tat. <br />Nachdem man ihm einmal begegnet war, war einem klar, daß ihm alles zuzutrauen war. Man wußte, daß er bereit war, jedem anderen die Haut abzuziehen, damit derjenige einmal fühlte wie er oder eines dieser Kinder, von denen er unablässig sprach. <br />Er war ohne jede Nachsicht, weder sich selbst, noch anderen gegenüber. Er war auch niemand, der auf Mitleid hoffte oder Gnade erwartete. Niemals hätte er darum gebeten, daß man ihn schonte. Damit nötigte er vielen Respekt ab. <br />Einige wünschten sich, er würde verschwinden, am besten für immer. Nicht wenige erklärten sich bereit, deswegen selbst Hand anzulegen, um ihn zum Schweigen zu bringen. <br />Nur er verschwand nicht. Ganz sicher kehrte er mit dem nächsten Buch zurück.<br />Als Jacques Winter ihm in dem Film einige Fotografien zeigt, auf denen zu erkennen ist, wie ein Mann einen Jungen sexuell mißbraucht, und ihn fragt, was man mit so einem Mann machen, ob man ihn therapieren solle, meint Yorck Berliner, daß man so einen Mann nicht mehr therapieren brauche. <br />Er sagt, daß die Wahrheit sehr viel schlichter sei. Schließlich müsse man diesen Mann einfach nur töten. <br />– Denn wer will wirklich mit einem solchen Mann zusammenleben. Mit diesem elenden Mann, dem es in über dreißig Jahren nicht gelungen ist, eine solche Last abzulegen, und den es nach wie vor inspiriert, so etwas mit einem Kind zu machen. <br />In dem Film sieht man zwei Dinge: daß Yorck Berliner das, was er sagt, völlig ruhig sagt, wie nebenbei, und wie bestürzt Jacques Winter über das von ihm Gesagte ist.<br />– Wenn es sich dabei aber um den Vater des Jungen handelt, wenn der Vater der Täter ist.<br />Ob er auch dann dafür sei, ihn zu töten, will Jacques Winter von ihm wissen. <br />– Erst recht, wenn es der Vater ist, sagt Yorck Berliner, ohne daß sich seine Stimme verändert. <br />Und einen Atemzug später, als ob er ein Gesetz verkündet, erklärt er, daß diese Verbrechen an Kindern Kriegsverbrechen sind. <br />– Die Väter, sie sind die Kriegsverbrecher. Die Väter, die Männer, sie sind es, die den Kindern tausendfach den Tod bringen. Wenn man sich für die Kinder entscheidet, hat man keine andere Wahl. Man muß diese Männer töten, auch die Väter. Vor allem sie.<br />Und während die Kamera Yorck Berliner nicht losläßt und in einem scheinbar endlosen Moment sein Gesicht gefangennimmt, sieht man ihn fassungslos bis zur Stummheit im unverhofften Gewahrwerden seiner eigenen Anwesenheit und dessen, was er gerade gesagt hat.<br />Der Film von Jacques Winter ist voll mit solchen Aussagen, die wie die Spuren eines Wahnsinnigen wirken. Manches von dem, was Yorck Berliner sagt, wirkt scheinbar zusammenhanglos oder folgt einer Ordnung, deren Prinzipen niemand außer ihm kennt. Zeitweise hat man das Gefühl, daß er die Sätze regelrecht aus sich herausreißt. Was er sagt, ist derart heftig und von einer solch ungezügelten Roheit, daß es einen niederschmettert, noch Tage, nachdem man es gehört hat. <br />Gleich darauf kann man ihn Worte und Sätze sagen hören, die er mit einer beschwörenden Stimme vorträgt, fast wie ein Gedicht, in dem die Worte auf etwas Vergessenes verweisen, das sich aber niemals vollständig entfaltet.<br />Dort, in seinem Abgrund, sagt er zu Jacques Winter, wenn er wie stumpfsinnig aus den Fenstern hinaus aufs Meer starre, auf das Unsichtbare dahinter, oder wenn er schreibe, rücksichtslos, intelligent, brutal, zärtlich, sei er einer, der vergessen habe, was es bedeute, ein Mensch zu sein und sich in seinem Körper und im Umgang mit den Dingen auszukennen. <br />– Ein gefährlicher Irrer, in dessen innerem Aufbau alles durcheinandergeraten ist. <br />Er sagt, daß er zitternd all diese Erinnerungen durchquere, die nicht mehr nur seine seien, und daß er versuche, sie auszulöschen.<br />– Ich sehe all diese Kinder unter einem bleifarbenen Licht, das von dem Schwarz ihrer zertrümmerten Körper durchzogen ist, ein wahnsinniges Schwarz, das magisch zu mir zurückkehrt und das wie der verdammte Tod um mich herum ist.<br />Er sagt, daß er wie einer sei, der sich verlorengegeben habe, und der schreibe, in einer tiefen Nacht, um sich gerade nicht verlorenzugeben, um wieder dort herauszufinden. <br />– Und am Ausgang dieser Nacht stehen all diese Kinder und zeigen mir ihre Verwundungen.<br />An einer Stelle in dem Film spricht er von Anabelle und sagt leise, daß keiner sie haben wollte. <br />– Ganz am Anfang, gleich nach der Geburt, hat man sie weggeschafft.<br />Ihm ist anzusehen, daß er selbst kaum glauben kann, worüber er gleich sprechen wird.<br />– Stellen Sie sich das vor: Anabelles Mutter hat entschieden, sie nicht am Leben zu lassen. Ihre eigene Mutter hat das getan.<br />Dann fragt er Jacques Winter, wie man von so einer sprechen soll.<br />– Ist das die Mutter von Anabelle oder nur eine fremde Frau, die sie ausgetragen und entbunden hat, eine biologische Mutter, wenn man so will.<br />Er sagt, daß es ausgeschlossen sei, hier überhaupt von Geburt oder Entbindung zu sprechen.<br />– Herausgepreßt, mit einer Gartenschere abgetrennt, in eine Tüte gepackt und weggeworfen.<br />Er sieht eine Mischung aus Abneigung, Ekel und Angst bei dieser Frau. Er nennt mögliche psychische Defekte, führt das Milieu an, vermutet eine bestimmte Herkunft. Auch, daß man sie mißbraucht und mißhandelt hat, als sie ein Kind war.<br />– Eine Frau nimmt diesen kleinen Menschen, wickelt ihn in Decken und geht mit ihm durch eine Winternacht. Sie bleibt vor einem Müllcontainer stehen, schiebt den Deckel zurück und wirft das Bündel hinein. <br />Er sagt, daß er sie verstehen könne. Er sehe ihre innere Not. Er könne sich gut in sie hineinversetzen.<br />– Sie müßte nach einem Ausweg gesucht haben. Sie müßte verzweifelt gewesen sein, in einem verletzten Körper, am Ende ihrer Kräfte.<br />Er glaubt selbst nicht daran, daß sie das mit dem Kind jemals hätte auf sich nehmen können, ohne selbst daran zu zerbrechen.<br />– Doch muß sie nicht von einer entsetzliche Angst bedrängt worden sein? Fiel sie nicht, als sie zurückging, häufig in den Schnee, blind vor Tränen? Und später, als sie wieder in ihre Wohnung kam, war es da nicht so, daß die Decke sich senkte und diese Frau sich die Lippen blutig biß vor Scham? Hat sie nicht geschrien, so sehr, daß ihre inneren Organe fast zersprungen sind?<br />Er glaubt, daß sie, wenn sie den Tod ihres Kindes nicht unbedingt absichtlich wollte, ihn doch zumindest billigend in Kauf genommen hat. <br />– Wer war sie nur, diese unbekannte Frau, für die der Körper ihres Kindes keinen Wert hatte, keinen Geruch? Wer war sie, daß die diesen Kinderkörper nicht erkennen und ihn nicht lieben konnte. <br />Er sieht Jacques Winter hilflos an. <br />Man sieht, daß seine Hände zu Fäusten geballt sind.<br />– Sie hat gar nichts verstanden. Sie hat nicht begriffen, wie sehr diese im Körper ihres Kindes wiedererschienene Seele sie gebraucht hat. <br />Er macht eine ablehnende Handbewegung und sieht dann zu Boden.<br />– Alles hing von ihr als Mutter ab, um einen geschützten Ort zu schaffen. Sie war die wichtigste Person, um dieser Seele, die lange umhergeschweift und die von irgendwoher aus der Zeit in dieses Kind gekommen ist, um sich mit seinem Körper zu vermischen, einen Platz in der Welt zu geben, einen unsterblichen Sinn. <br />Als er wieder aufsieht, haben sich seine Augen mit Tränen gefüllt.<br />– Und sie hat diesen Körper weggeworfen. Wie eine Tüte mit Müll. <br />Obwohl er den letzten Satz wütend ausgestoßen hat, spürt man seine ganze Traurigkeit. <br />– Es läßt sich nichts weiter sagen über diese Frau.<br />Er sagt, daß man nicht zur selben Zeit für sie und für das Kind sein könne.<br />– Man muß sich entscheiden, das ist alles, was man darüber wissen muß.<br />Danach spricht er auch über die ganze Verachtung derer, die einmal entschlossen waren, Anabelle zu retten und ihr beizustehen und die ihr dann, wie er mutmaßt, ihre Hilfe versagt hatten, als es am nötigsten war. <br />– Keiner hat Anabelle geglaubt, als sie von den schrecklichen Dingen erzählte, die sich in der Adoptivfamilie ereignet haben.<br />Er erwähnt die gesellschaftliche Stellung des Adoptivvaters. <br />– Der Universitätsprofessor, diese Stütze der Gesellschaft.<br />Er stößt die letzten Worte mit großer Heftigkeit hervor.<br />– Dieser Kerl war ihr in jeder Hinsicht überlegen.<br />Dann behauptet er, daß zuletzt kaum noch einer begeistert darüber gewesen ist, daß Anabelle überlebt hat.<br />– Die Unerschrockenheit, die all diese Leute an den Tag gelegt haben, als Anabelle noch ein Säugling war, ihr ganzes Mitgefühl, ihre Fürsorge, das alles schlug in eine furchtbare Abneigung um, die zunahm, je älter Anabelle wurde.<br />Man merkt, wie erstaunt er darüber ist, daß dieselben Leute, die Anabelle einen Namen gaben, als sie noch ein Säugling war, sich hinterher so verhielten.<br />– Sie haben sich um Anabelle gekümmert, als sie ein Kind war, und danach, als es schwierig wurde mit ihr, war es ihnen zuviel. Sie waren wie diese Frau, die sie entbunden und anschließend weggeworfen hat.<br />Er läßt keinen Zweifel daran, daß er es unmenschlich findet, einem Kind Gefühle und Gedanken als scheinbar unvermeidliche Gewißheit einzuprägen und ihm später alles wieder herauszureißen.<br />– Weil sie sich angeblich nicht an die Regeln gehalten hat. Weil sie auffällig war. Ich meine, wie hätte sie sich an die Regeln halten sollen, wo man ihr gegenüber alle Regeln gebrochen hat, von Anfang an. Wie hätte sie da nicht auffällig sein sollen?<br />Dann spricht er über die Wirklichkeit der Straße. <br />Er macht klar, was es heißt, ohne Bleibe zu sein. Was dies bedeutet, für ein Kind. <br />Er weiß alles darüber, bis ins Detail.<br />Und dann spricht er wieder von Anabelle. Von ihrer Unterbringung in einem Heim für sozial gefährdete Kinder. <br />– Und danach wieder die Straße. Davor die Übergriffe durch diesen Kerl, den Adoptivvater, der jahrelang sein eigenes Sexualobjekt aufgezogen hat.<br />Es ist zweifellos sein unglaubliches Talent, daß, während er spricht, Anabelle vor einem entsteht, so als befände man sich mit ihr in einem Raum. Man glaubt wirklich, sie zu sehen, während er von ihr spricht. Man kann sie neben sich atmen hören.<br />– Zuerst war Anabelle Abfall für ihre Mutter. Und dann war sie Abfall für diesen Kerl, der sie zur Frau gemacht hat, und das in einem Alter, in dem andere Kinder noch mit Puppen spielen. <br />Seine Stimme wird laut.<br />– Sie war die Tochter von niemandem. Sie war immer nur Abfall.<br />Er sagt auch etwas zu den Männern, die ihr später, als sie auf der Straße lebte, Quartier angeboten haben. Er spricht von ihnen, als würde er sie kennen. <br />Er nennt sie die furchtbaren Männer.<br />– Die Macht dieser Männer über Anabelles junges Leben, das ist nicht einfach nur obszön. Das ist ein Verbrechen, und zwar eins der bodenlosen Sorte. <br />Er sagt, daß Anabelle, nur weil sie sich geweigert habe, ihr zwei oder drei Tage altes Leben in einem Müllcontainer zu vollenden, doch deshalb nicht wie geschaffen dafür sei, das Opfer der Männer auf deren Fleischmärkten zu werden.<br />– Man kann nicht ständig die Verbrechen der Vergangenheit beklagen und die Erinnerung wie eine Wollust betreiben und zur selben Zeit die Augen vor den Verbrechen verschließen, die sich gerade ereignen. <br />An der Stelle unterbricht ihn Jacques Winter und fragt, ob er seine Haltung zu dem Mahnmal für die ermordeten Juden in Berlin geändert habe.<br />Yorck Berliner schüttelt den Kopf. <br />Man merkt ihm an, wie überflüssig ihm diese Frage vorkommt. <br />Seine Antwort kommt widerwillig.<br />– Ich habe damals gesagt, daß ich glaube, daß sich ein solches Mahnmal hervorragend dazu eignet, die Erinnerungen an etwas, das man mit ihm angeblich beschwören will, gerade erst zu verdecken. Auch, daß ich solche Zeichen nicht brauche, um mich an dieses Verbrechen zu erinnern.<br />An dieser Stelle spricht er im Film zum ersten Mal über Lisa.<br />– Nachdem ich mit Lisa in Auschwitz war, hat sie zu mir gesagt, daß Auschwitz in jedem Kiesel ist. In jedem Glas Wein. In den Rücklichtern der Autos. Im Rot des Sonnenuntergangs. In der Zärtlichkeit eines Kindes für ein Tier. In den grauen Schatten, die die Sonne jeden Morgen vertreibt, wenn sie über der Stadt erscheint. In den erhobenen Kaffeetassen der Gäste in den Cafés. In den frisch geteerten Straßen, wenn es auf sie regnet. In dem Stottern eines Jungen, der zum ersten Mal in seinem Leben versucht, etwas mit einem Mädchen anzufangen. In den Filmen und Liedern, die von der Liebe handeln und davon, daß man zum Leben verurteilt ist. In den Kissen und Laken der Liebenden und in ihrem Haar und auf der Oberfläche und in der Wärme ihrer Körper. Und dann noch in den Büchern, zwischen den Sätzen und Buchstaben. Und in den Kindern armer Leute und in den Kindern reicher Leute. Überall in den Schatten, die in Hausfluren hängen und in Hinterhöfen und auf Treppen. Auch in den hellen und dunklen Nächten. In jedem Herzklopfen, jedem Weinen und jedem Winken. In all diesen gelingenden und verfehlten Leben. In jeder Krankheit. Eben in allem. Überall hat Lisa Auschwitz gesehen. Und sie hat gesagt, daß das so ist, weil das Entsetzen eine Tür hat und daß sie diese Tür in Auschwitz gesehen hat und daß es aus dieser Tür heraus blutet und daß Auschwitz macht, daß sich diese Tür nie wieder schließt. <br />Er redet schnell, mit einer Stimme, die wie abgewetzt klingt. Als könnte es bald zu spät sein. Oder als wollte er nicht zu lange bei Lisa verweilen. Als wäre da irgendwo ein Riß in ihm und er hätte große Angst, daß sein Leben durch ihn verschwindet, sobald er länger über sie spricht. <br />– Ich habe nur gesagt, daß es unbarmherzig ist gegenüber den Kindern, die heute um ihr Leben kämpfen und an ihren Träumen sterben.<br />Er erwähnt die Debatten um das Mahnmal, die Berichte darüber im Fernsehen und daß die Zeitungen über Monate voll davon waren.<br />– Ich habe damals gefragt, in welchem Verhältnis diese ganzen Polemiken über die nie heilenden Wunden der Vergangenheit und ihrem künftigen Zeichen aus Stahl und Beton in Berlin zu den Wunden stehen, die den Kindern geschlagen werden, die in diesem Moment nackt auf dem Bauch vor denen liegen, die ihre Körper entweihen. <br />Man sieht, wie er seine rechte Hand zur Faust ballt und sie mit seiner linken Hand umschließt.<br />– Ich habe erklärt, daß die Zeit keine Wunden heilt, die der Juden schon gar nicht. Und daß die Zeit eine Bestie ist, die einem nicht die Gelegenheit läßt, nachdem man sich den vermeintlich wichtigen Dingen gewidmet hat, anschließend die Kinder zu betrachten und sich zu wünschen, etwas anders gemacht zu haben.<br />Als würde in diesem Moment etwas von ihm Besitz ergreifen, das gleichzeitig existiert, neben ihm und in ihm, etwas, das er nicht erkennen kann und dem er entgegenläuft, um es zu verstehen, blickt er zum Fenster hinaus und schweigt lange. <br />Und dann, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, sagt er:<br />– Ich habe zu jener Zeit gesagt, daß dieses Stillschweigen über das Leiden der Kinder, die Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens brauchen, um es zu überwinden, hörbar werden und aus dem dunkelsten Schrecken gegen dieses Mahnmal schlagen wird, wie das Meer gegen die Felsen.<br />Mit schleppender Stimme erklärt er die Kinder zum Zentrum des Problems, jeden Problems. <br />Er sagt, daß seine Haltung hierzu unwiderruflich sei. <br />Er spricht von der unbekannten Nacht der Kinder, die diese verschlungen hat, von der erschöpfenden Angst der Kinder, von ihrer Einsamkeit und der äußersten Verzweiflung. <br />Abermals hebt er die Gefahr hervor, in der sie leben. Er erwähnt die zerrissene Diktion ihrer Sprache, ihr schreckliches Schweigen, die Schreie in ihren Körpern, deren Echos ungehört verhallen.<br />– Keine ihrer Äußerungen beruht noch auf einem Bezugssystem, welches wir kennen. Vielleicht sind sie schon tot, in jedem Fall sind sie verloren.<br />In dem Moment bemerkt man, wie er in diese Wahrheit stürzt, die er, würde man ihn danach fragen, nicht näher erläutern könnte. <br />Man glaubt, die Ströme seiner Wut zu spüren, und sieht, was er aufbringen muß, um sie zu bändigen. Man kann sehen, daß er das ganze Ausmaß der Bedrohung, die er empfindet, laut herausschreien möchte.<br />– Wenn in Berlin in ein paar Jahren dieses Mahnmal errichtet sein wird, werden Tausende von Kindern in ihrem Leid verschwunden sein. Obwohl sie noch am Leben sind, werden wir sie nicht wiederfinden. Es wird so sein, als befänden sie sich auf dem Grund des Meeres, in dieser tiefen Einsamkeit. An manchen Tagen werden sie nach uns rufen. Wir werden den Nachklang ihrer Rufe hören, ohne zu verstehen. Und irgendwann werden sie verstummen.<br />Er blickt schweigend zum Fenster hinaus und gibt sich dem hin, was er dort sieht, bewegt sich innerlich darauf zu. <br />Man gewinnt den Eindruck, er weiß selbst nicht mehr genau, worüber er spricht. <br />Er sagt, daß er annehme, daß das Mahnmal in Berlin die Kinder verschlungen haben werde. Man werde später bemerken, daß er recht gehabt habe. <br />– Und jene, die ihre Ideen zu dem Mahnmal in Umlauf brachten und sie zirkulieren ließen und damit den traurigen Gesang der entehrten Körper der Kinder und deren äußerste Verzweiflung von sich fernhielten, werden ihren Beitrag hierzu geleistet haben. Das ist das, was ich gesagt habe: indem sie das Mahnmal nicht angefochten haben, haben auch sie diese Kinder angetastet.<br />Später versucht er mehrmals von dem für Anabelle verwirrenden Abgrund zu sprechen, den ihr Adoptivvater ihr bereitet hat.<br />– In dem Moment, als er das erste Mal zu ihr kam, hat er ihr Kinderzimmer zu einem Abhang gemacht. Als er sie hinterher beruhigte, indem er ihr sagte: du bist ein so braves und hübsches Mädchen, mein Mädchen, es ist nichts passiert. Als er ihr das sagte, in der ersten Nacht, in der er bei ihr war. Und als er ihr das dann immer wieder sagte, wenn er bei ihr war. Auch morgens, danach: ein so braves und hübsches Mädchen, mein Mädchen, dem nichts passiert ist. Und dann versuchte Anabelle so zu tun, als ob nichts passiert war. Es ist nichts passiert, sagte sie sich. Sie sagte sich: ich bin ein braves und hübsches Mädchen, zu dem jede Nacht sein Adoptivvater kommt. Ich glaube, daß sie wirklich versuchte, ein solches Mädchen zu sein. Und dann, als die Verwirrung zu groß wurde für sie, versuchte sie das Gegenteil. Sie versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie sich klarmachte, daß etwas passierte und was es war. Sie hörte auf zu versuchen, ein braves und hübsches Mädchen zu sein. Sein Mädchen, damit war jetzt Schluß. Sie wurde ein böses Mädchen. Nur das störte ihn nicht. Er kam trotzdem jede Nacht. Und nun nahm er sie wie ein böses Mädchen, roher, grausamer und mitleidloser.<br />Er spricht jetzt völlig ruhig, legt die Sätze in den Raum, wo sie unendlich warten, um jemanden zu erreichen. <br />Er handelt die Adoptivmutter in einem einzigen Satz ab, nennt sie eine tote Frau und ihre Liebe zu diesem Mann unheimlich, drückend, ungehörig.<br />– Eine Liebe wie eine permanente Mißhandlung Anabelles und ihr größtes Unglück. <br />Er erklärt Anabelle zu einer Gladiatorin, die nur bis zu einer gewissen Grenze etwas von ihrem Leben versteht.<br />– Sie schuf sich eigene Räume, in denen sie bestimmten Dingen den Vorzug gibt. Und es gibt andere Räume in ihr, unzugängliche Räume, die miteinander verschachtelt sind. Räume mit engen Durchgängen und unpassierbaren Gäßchen. <br />Er vermutet Schwellen in ihr, die sie niemals überschreitet.<br />Er sagt, daß ihr Körper immer gespannt sei, in einem anhaltenden Alarmzustand. Sie höre mit all ihren Muskeln und Nerven, mit allem, was zu ihr gehöre. <br />– Ein einziges großes Ohr, hinter dem sie sich verbirgt und alles empfängt, was draußen geschieht, ohne immer zu verstehen, was das Geschehene bedeutet. <br />Mit großem Respekt spricht er von Anabelle als einer erfahrenen Kämpferin, die ihre alten Wunden öffnet und sie dann offenhält, um sicher zu sein, daß der Schmerz, der ihre Wachsamkeit schärft, nie mehr nachläßt. <br />Und dann sagt er plötzlich, daß er dennoch glaube, daß sie ein Kind sei, das genug habe von den harten Klängen der Welt. <br />– Anabelle wünscht sich nichts mehr, als daß jemand kommt und das Dröhnen und Donnern und die Kälte aus ihrem Kopf und ihrem Körper herausnimmt. Jemand, der sie weich macht, weich und sanft, bevor sie von dem Lärm in sich zum Schweigen gebracht wird. Bevor sie daran erstickt. <br />Yorck Berliner sagt zu Jacques Winter, daß jemand Anabelle mit Worten gegenübertreten müsse, die sämtliche Bedeutungen haben, die sie noch nicht kenne. Worte, die wie ein Lied seien, von dem sie verzaubert werde, sobald sie die ersten Töne höre. <br />– Eine Melodie, in die sie sich vertiefen und zu der sie tanzen kann, bis der Lärm in ihr nur noch ein sich mehr und mehr entfernendes Hintergrundrauschen ist und die Klagen ihres Körpers von einem Bogen aus Wärme umhüllt werden und verstummen. <br />Er bezeichnet Anabelle als ein Kind, das sich auf der Suche nach dem Kind, das sie nie sein durfte, in den Körper einer Hure verirrt hat und jede Nacht von einem anderen Mann getötet werden durfte.<br />Wenn man Yorck Berliner reden hört, möchte man vor Scham die Augen senken und sie nie wieder erheben. Man möchte die Worte, die er sagt, mit seinem Leben bezahlen. Man möchte, daß es seinen Worten gelingt, das eigene Herz zu verletzen, um es neu zu erschaffen.<br />In diesem Moment hört man, daß jemand leise den Raum betritt.<br />Gleich darauf tritt Anabelle ins Bild. Sie kniet sich neben den Stuhl, auf dem er sitzt und hört aufmerksam zu, was Yorck Berliner sagt. <br />Abgesehen von ihrer engelhaften Schönheit, die einem angst macht, wirkt sie wie flüchtig, kaum zu fassen, so als wäre sie gar nicht da. <br />Sie sagt kein Wort, als Yorck Berliner ihre Hand nimmt, noch gibt sie sonstwie zu erkennen, daß sie es überhaupt bemerkt. <br />Nur wenn man sich zwingt, nicht auf das zu hören, was er sagt und genau hinsieht, kann man den Moment erkennen, wo sie sich zeigt. <br />Es ist jener Moment, wo sie hinter ihrer Schönheit hervortritt und seine Berührung erwidert, indem sie ihren Daumen über seine Finger gleiten läßt.<br />Es gibt Szenen in diesem Film, wo Yorck Berliner mit Anabelle zu sehen ist. Wo Anabelle ungreifbar wirkt, unvorhersehbar, so als könnte sie im nächsten Augenblick alles tun, so als wäre alles möglich. <br />Und dann die Art, wie er ihr begegnet, mit einer Sanftheit und Zärtlichkeit, die voller geheimer Echos ist, auf die sie ihm antwortet, bis man nur noch möchte, daß alles, was jemals gut ist, dort ist, bei ihr, diesem Mädchen, und bei diesem Mann.</div>
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Wenn ich den Film heute wiedersehe, frage ich mich, wie Jacques Winter es angestellt, was genau er getan hat, damit wir wie durch eine jäh geöffnete Tür, von der wir vorher nicht einmal bemerkten, daß es sie gab, Yorck Berliners ganze Verwundbarkeit erkennen. Daß wir ihn mit Anabelle sehen, wie er sich ihr nähert, mit dieser unglaublichen Rücksicht, wie er auf sie achtgibt, in jeder Minute. Und seine Zärtlichkeit ihr gegenüber, wobei man beobachtet, daß sie ihr zustößt, und die einen deswegen sofort beunruhigt, weil man das Gesehene für sich nicht auflösen kann. <br />Es sind Momente, in denen er wie losgelöst von sich wirkt, ganz so, als würde er aufatmen. Als wäre er aus sich herausgetreten, klein wie ein Kind, das sich verlaufen hat, dort, am Strand, gegenüber dem Meer, wo es auf jemanden wartet, der es an der Hand nimmt und zu sich selbst zurückführt. Jemand wie Anabelle, die einem in diesen Szenen nicht wie nach einer Schlacht erscheint, sondern so jung und unverletzt, daß man ihr zulächeln möchte. <br />Vielleicht ist es zuerst dieses Gefühl, das man die ganze Zeit über hat, während man den Film sieht. Das Gefühl, daß die Kamera Yorck Berliner preisgibt. Daß sie seinen, durch die Gewalt eingeschriebenen Schmerz aufreißt. <br />Wenn einem dies endlich auffällt, ist es bereits zu spät. Denn in diesem Moment ist er schon eine geraume Zeit nicht mehr in den Kriegsbüchern eingeschlossen, nicht mehr darin eingesperrt. <br />Die Kamera hat ihn geöffnet und bewirkt, daß er sich dem überläßt, diesem Sichöffnen und der Welt, der Verwirrung über das Neue, das er in sich selbst und an der Welt wahrnimmt.<br />Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, daß er sich mit der Kamera verbündet, aber man bemerkt sein Einverständnis. <br />Genaugenommen ist es erst die Kamera, die ihn erschafft. Die Kamera bringt seinen Körper und sein Gesicht hervor, den Körper und das Gesicht des Schriftstellers, die einem entgegenkommen, ohne daß man sie je wieder vergessen könnte. <br />Dieses Gesicht mit seiner immer frischen Verzweiflung, seiner gleichzeitigen Zartheit, nicht darauf gefaßt, auf nichts, vor allem nicht auf diese Welt. Ein Gesicht, den täglichen Wiederholungen der Kindheit ausgesetzt wie einer Außenwelt, das einem zeigt, daß die Zeit vergeht und wie sie zur selben Zeit nicht vergeht. Und sein Körper, dieser Körper, der zwar an Ort und Stelle vorhanden ist, aber eher wie ein hermetisch abgeriegelter schwarzer Block, stumm und neutral, diesen Ort besetzt haltend, von uns getrennt, unerreichbar. Ein Körper, der die Sätze braucht, die Wörter, um sich zum Sprechen zu bringen, um die Getrenntheit uns gegenüber aufzuheben. <br />Und dann nähert sich die Kamera diesem Gesicht und diesem Körper und öffnet sie mit unendlicher Langsamkeit. Nach und nach erfaßt sie das darunterliegende, nach allen Seiten Offene und bietet Platz für etwas, das sich gerade verändert, in dieser Sekunde, für etwas Künftiges, von dem man noch nichts sagen kann. <br />In manchen Szenen wirkt dieses Offene wie eine Gnade, als ob es möglich wäre, daß Yorck Berliner im nächsten Moment ein anderer Mensch werden könnte, und dann wieder so zerbrechlich, als könnte alles jeden Augenblick zu Staub zerfallen.<br />Wenn ich Yorck Berliner in dem Film wiedersehe, wie er dort steht, an den großen Fenstern seiner Wohnung, und dann seine Stimme höre, wie sie die geschriebenen Worte sagt, den Text der Kriegsbücher. Wenn ich höre, wie diese Stimme spricht, ruft, verharrt, skandiert, während der Blick der Kamera ihn verläßt und den undurchdringlichen Horizont am Ende des Meeres einfängt. Wenn ich die von ihm gesagten Worte von dort zurückkehren, sie sichtbar werden sehe und spüre, wie sie mir entgegenprallen, bis ich glaube, an dem, was sie in mir bewirken, zu sterben, empfinde ich etwas, worüber ich kaum zu sprechen vermag. <br />Es ist das alles. Etwa, wenn der Blick der Kamera in sein Zimmer fällt. Auf den Ort, an dem er schreibt, mit Blick auf die Weite des Meeres. Auf nichts, wie man ihn sagen hört. <br />Zu sehen, wie er es mit der Angst bekommt. Ihn weinen zu sehen, seine Traurigkeit, wie bei einem Hund. Mit welcher Brutalität er die Worte aus sich herausschleudert. Ihm dabei zuzuhören, wenn er über seine Kindheit spricht, die spürbar wird, als nähme sie weiter zu, als könnte nichts sie jemals unbrauchbar machen. Als wollte er sagen, daß es danach nichts mehr gab, keine Fluchtwege mehr. Ein Wirbelsturm, und du brauchst dich nicht mehr umzugucken. Alles ist kaputtgegangen, niedergerissen, zerstört. Und in dem Moment zu erkennen, wie sehr er gelitten haben muß, um zu schreiben, was er geschrieben hat. Plötzlich seinen Schmerz zu durchschauen und zu verstehen, daß er ihn fortwährend ertragen hat, ohne sich von ihm zu entfernen. Daß er sich lange geweigert hat, ihn herauszuschleudern. Und was es letztendlich war, was sich in Wut umgewandelt hat, in Unerbittlichkeit, in diese nur schwer auszuhaltende Militanz, nämlich als er verstand, daß es nicht nur ihm widerfahren war, dieses Martyrium, daß dies überall geschah, auf der ganzen Welt, und daß es sich in genau der gleichen Weise entwickelte wie bei ihm. Nur daß er, im Gegensatz zu all den anderen, die ihm so ähnlich waren, in seinen Kriegsbüchern diese grausame, an den Kindern verübte Liebe auf eine Weise vibrieren ließ, daß man glaubte, an einem Bahnübergang zu stehen und ein nicht enden wollender Zug an Grausamkeit würde an einem vorbeiziehen. Und daß er nicht etwa schrieb, um sich am Leben zu erhalten, daß es nicht allein das war, sondern daß er der Gesellschaft den Prozeß machte. Daß er den Leuten mit jedem weiteren Kriegsbuch das Fell abzog oder es für lange Zeit unbrauchbar machte. Keine Lügen mehr, das Kind ist tot. Aber es lebt doch, außer sich! Wie ist das möglich? Wer hat sich des Kindes bemächtigt, es zum bluten gebracht? Was ist ihm widerfahren? Was hat man in seinen Körper eingeschrieben, was versucht auszulöschen durch seinen Tod? </div>
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Es gibt diese eine Szene in dem Film von Jacques Winter, die mich von allen am meisten berührt hat. <br />Sie beginnt damit, daß man Yorck Berliner sieht, der an einem der Fenster seiner Wohnung steht. <br />Die Kamera verweilt auf seinem Rücken, etwa solange, bis man etwas von dieser enormen Einsamkeit wahrnehmen kann, in der dieser Mann lebt. Bis man spürt, wie müde er ist, wie sehr er sich nach Geborgenheit sehnt, nach Ruhe, nach einem Ende seiner großen Müdigkeit. <br />Und dann holt die Kamera ihn näher heran, bis man bemerkt, daß er weint. <br />Und man hört das Meer und den Regen. <br />Und dann sieht man, wie Anabelle das Zimmer betritt. <br />Still steht sie in der Nähe der Tür, die sie kurz zuvor leise geschlossen hat, und betrachtet ihn eine Weile. <br />Dann sieht man, wie sie langsam zu ihm hinübergeht.<br />Sie muß in den Regen geraten sein. <br />Man erkennt es daran, daß ihr Haar naß ist, auch ihre Kleidung.<br />Sie stellt sich neben ihn und nimmt seine Hand. <br />Man kann nicht erkennen, ob es von ihm bemerkt wird.<br />Am Boden, zu ihren Füßen, bildet sich eine kleine Pfütze.<br />– Dein Haar ist ganz naß, sagt er irgendwann, als er sie ansieht.<br />Anabelle deutet aus dem Fenster, wo man sieht, daß es aufs Meer regnet.<br />– Der Regen, sagt sie.<br />Sie lächelt, ihm gegenüber weiter aufmerksam.<br />Er zieht seine Hand aus ihrer. <br />Dann geht er hinüber zum Schrank und holt ein rotes Frotteetuch hervor. <br />Als er zu Anabelle zurückgeht, sieht man, daß sie auf dem blauen Sessel sitzt. <br />Mit einem Mal wirkt sie erschöpft.<br />– Warum hast du geweint?<br />Er antwortet ihr nicht. <br />Man weiß nicht, ob er sie gehört hat. <br />Dann sieht man, wie er hinter sie tritt und damit beginnt, ihr Haar trockenzureiben.<br />Anabelles Augen sind geschlossen.<br />Plötzlich hört er damit auf, man weiß nicht warum.<br />Seine Hände liegen ruhig auf ihrem Kopf.<br />Dann hebt sie ihre Hände und berührt seine.<br />– Wenn ich mich so fühle, weine ich auch oft, nur ich mache es so, daß es niemand sieht.<br />Sie legt ihren Kopf an seinen Körper.<br />Und es vergeht Zeit.<br />– Ich muß aus den Kleidern raus.<br />Man sieht Anabelle aufstehen, sieht, wie sie beginnt sich auszuziehen.<br />Er schaut zur Seite.<br />– Du bist der einzige, der sieht, wenn ich in mir weine.<br />Die Kamera fängt ihren nackten weißen Körper ein, die Narben darauf. <br />– Sieh mich schon an, es ist doch nicht so schlimm.<br />Man kann ihm ansehen, daß er ihr nicht glaubt. Daß er die genaue Bedeutung der Narben für sie längst entdeckt hat. Daß er alles darüber weiß.<br />Man sieht nun, wie er an sie herantritt. Wie er, vielleicht wie ein Blinder, beginnt, ihren Körper zu streicheln, die Narben. Die auf dem Bauch, der Brust, dem Rücken, dem Schlüsselbein, den Oberschenkeln. <br />Für einen kurzen Augenblick glaubt man, die Wärme ihres Körpers zu spüren. Sein Mitempfinden, dort, in seinen Fingern, die zittern, als er sie berührt.<br />– Du schaust mich gar nicht an.<br />Daraufhin sieht man, daß er sie anblickt. <br />Er blickt abwechselnd in ihr Gesicht, in ihre Augen, auf ihre Narben, über die er weiter streicht, als wollte er sie vorsichtig ausradieren.<br />Unter seinen Blicken schließen sich Anabelles Augen.<br />– Bei dir kann ich meine Augen zumachen.<br />Nach einer Weile öffnet sie ihre Augen wieder und bittet ihn, sich mit ihr aufs Bett zu legen.<br />Man sieht Anabelle auf das Bett zugehen, sieht, wie er ihr folgt, wie er sich zu ihr legt.<br />Dann liegt sein Kopf auf ihrem Geschlecht. <br />Ihre Hände fahren durch sein Haar.<br />– Du hast vorhin an Lisa gedacht.<br />Sie fragt, ohne eine Antwort zu erwarten.<br />Ihre Hände sind weiter in seinem Haar.<br />Man sieht, wie er die Lage seines Körpers verändert, um ihr Berührung zu erwidern.<br />– Das war ein großes Unglück für dich.<br />Anabelle und er schauen einander lange an.<br />Es bewegt einen, wenn man bemerkt, daß sie ihren Blicken niemals ausweichen.<br />Er schweigt.<br />Man hört, wie sie ihm etwas über seine Augen sagt. <br />Sie spricht von der Schönheit seiner Augen.<br />– Wärst du jünger, ich könnte mich in dich verlieben.<br />Man wird von diesem Satz überrascht. <br />Man weiß gleich, daß es ihr ernst ist damit. <br />Dann fängt sie an, sein Gesicht zu streicheln.<br />– Hat sie das auch getan?<br />Er nickt kaum merklich.<br />– Ich möchte dich küssen.<br />Ohne seine Antwort abzuwarten, beginnt sie damit, sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. <br />Sie preßt ihren Mund auf seinen, öffnet ihn mit ihren Lippen, fährt mit der Zunge über seine Zähne, berührt seine Zunge mit ihrer, küßt ihn so.<br />Angesichts ihrer Nacktheit und dieser Zärtlichkeit wird man verlegen. <br />Man möchte wegschauen. <br />Doch sofort kommt einem dies lächerlich vor. <br />Und dann läßt man es sein, schaut weiter, sieht, wie er sie gewähren läßt, wie er ihr Gesicht in seine Hände nimmt, wie er sie küßt, auf die Stirn und die Augen und den Mund.<br />– Bei dir fühle ich mich nicht dreckig. <br />Als sie es sagt, wirkt sie unversehrt. <br />Man vergißt die Verletzungen ihres Körpers, mit dem sie den Verlust ihrer Kindheit beklagt. <br />Man glaubt ihr sofort, daß es so ist. <br />Man ist unendlich bewegt.<br />Erneut sehen sie sich schweigend an, lange, ohne einander auszuweichen. <br />– Du bist jetzt meine einzige Welt.<br />Über das, was sie gerade gesagt hat, weinen sie beide. <br />Und dann lachen sie darüber.<br />– Ich frage mich, wie es wäre, mit dir zu schlafen.<br />Sie nimmt seine Hand und preßt sie auf ihr Geschlecht.<br />Er lächelt.<br />– Anders, sagt er.<br />Er streichelt sie dort unten und nimmt dann seine Hand weg.<br />Man kann nicht erkennen, ob sie darüber enttäuscht ist oder erleichtert.<br />Sie beginnt einen Satz, sie sagt:<br />– Plötzlich, im Abendlicht, am Strand von Trouville...<br />Sie hält seine Hand fest.<br />Er beendet den Satz, er sagt:<br />– ... konnte man die Abwesenheit Gottes sehen.<br />Sie lachen darüber.<br />Dann bittet Anabelle ihn, ihr Haar zu kämmen.<br />Man sieht, daß er ihr Haar kämmt. <br />Man hört, wie er von Lisa spricht.<br />Er erzählt Anabelle von dem Zettel, den Lisa ihm dagelassen hat.<br />– Was stand auf dem Zettel?<br />Er beginnt damit, es ihr zu sagen, und dann bricht er ab.<br />– Sprich weiter.<br />Und er kämmt Anabelles Haar und spricht weiter.<br />– Bin bei Pont Neuf in die Seine gegangen. Habe keine Angst, ich beginne es zu kennen. Die verlorene Zeit, mich endlich alleine zu lassen. <br />Minutenlanges Schweigen, das die Kamera festhält.<br />Und dann spricht er von dem Morgen ihrer Abreise nach Paris. Wie verändert Lisa da war.<br />– Sie saß auf der Fensterbank und starrte auf die Silhouette der Stadt. Sie sah müde aus, alt. Ich fragte sie: Was ist los mit dir? Sie sagte: Da ist ein Stern gewesen, letzte Nacht, der wollte hinunter, deshalb bin ich aufgewacht, ich wollte ihm helfen, den Himmel zu verlassen. Ich setzte mich ihr gegenüber und sah sie an. Sie trank den Kaffee, den ich ihr gebracht hatte. Sie sprach weiter leise mit sich selbst. Ich wollte ihre Wange berühren. Aber ihr Gesicht wich zurück. Ich nahm sie in den Arm. Sie schob mich von sich weg. Sie sagte: Du mußt damit warten, bis es wieder mein Körper ist.<br />– Sie war ein bißchen wie ich, sagt Anabelle.<br />Er hört auf, ihr Haar zu kämmen. Man sieht Tränen in seinen Augen, als er weiterspricht.<br />– In Paris war dieser hübscher Junge, der darauf aus war, mit ihr zu flirten. Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte zu ihm: Ich habe meinen Namen vergessen. Der Junge sagte zu ihr: Ich glaube dir nicht, keiner vergißt seinen Namen. Sie sagte zu ihm: Andere kennen meinen Namen. Ich sagte zu dem Jungen: Lisa, das ist ihr Name. Der Junge deutete auf sie, er lächelte sie an und sagte: Also, wenn das nicht Lisa ist. Und sie sagte zu ihm: Wo ist Lisa jetzt? <br />Man sieht, wie er abermals ans Fenster geht und hinaus aufs Meer sieht, auf den Regen. <br />Und dann hört man, wie er es dem Meer sagt, dieses für ihn nach wie vor Ungeheuerliche:<br />– Am nächsten Tag war sie tot.<br />Anabelle beobachtet ihn vom Bett aus. <br />Man bemerkt ihr Warten.<br />– Jedesmal, wenn ich denke, ich bin darüber hinweg, bin ich noch immer dort, wo ich zuvor war, sagt er.<br />Dann sieht man Anabelle aufstehen, sie geht zu ihm. <br />Sie ist bei ihm. <br />Sie stellt sich zwischen ihn und das Fenster. <br />Sie küßt ihn, streicht mit beiden Händen über sein Gesicht. <br />Man merkt, daß sie macht, daß er zurückkommt.<br />Er spricht, nirgendwohin. Er sagt:<br />– Elisa hat mir einmal gesagt, daß man die, die einem etwas bedeuten, innerlich freigeben muß, die Toten anders als die Lebenden, um so zu vermeiden, daß sie sich andauernd begegnen. Sie hat gesagt, daß man die Toten freigeben muß, um sie verlassen zu können, und die Lebenden, damit sie einen nicht verlassen. <br />Mit einer ungemein zärtlichen Geste, die einen anrührt, weil man nicht mit ihr rechnet, legt Anabelle ihre Hände auf seine Augen, auf seine Tränen.<br />– Man kann immer auf Elisa hören, das weißt du doch. <br />Man sieht sie in dieser Szene lange so, dort, am Fenster, vollkommen unbeweglich. Das nackte Mädchen mit den Narben und dieser Mann. <br />Anabelle hat ihre Arme um ihn geschlungen und er hält ihren Körper mit seinen Armen umschlossen, als wollte er ihre Nacktheit vor den Blicken des Meeres schützen.</div>
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– An irgendeinem Ort zu sitzen und zu lesen, bedeutet für Anabelle, unerreichbar zu sein für die Dinge der Welt, sagt Yorck Berliner irgendwo im Film zu Jacques Winter.<br />Er sagt, daß sie auf diese besondere Weise lese, mit dem Bleistift in der Hand, wobei sie sich einzelne Wörter oder ganze Absätze und Passagen unterstreiche und die Ränder mit Anmerkungen und kleinen Zeichnungen versehe.<br />Ich erinnere mich daran, daß Yorck Berliner ihr regelmäßig Bücher mitbrachte. Anabelle stapelte sie überall in ihrem Zimmer. Er erzählte mir, daß sie niemals die Bücher aus seiner Bibliothek anrührte.<br />– Wenn ich mit ihr über das eine oder andere Buch spreche und ihr sage, daß ich es ihr geben kann, will sie davon nichts wissen. <br />Er sagte, daß sie ihn manchmal auffordere, ihr etwas aus einem bestimmten Buch vorzulesen. <br />– Und wenn es ihr gefällt, bittet sie mich darum, es ihr zu kaufen, damit es ihr eigenes Buch ist.<br />Er glaubte, daß sie die Wörter in den Büchern mit niemand anderem teilen wollte, nicht bevor sie sie zu ihren Wörtern gemacht hatte.<br />Einmal, als Yorck Berliner nach Deutschland gereist war, hatte ich während seiner viertägigen Abwesenheit nach Anabelle geschaut. Wegen der Landregen hatte sie kaum das Haus verlassen und die ganze Zeit mit Lesen verbracht oder damit, sich bis in die frühen Morgenstunden amerikanische Filme auf DVD anzuschauen. <br />Am Morgen seiner Rückkehr nahm sie ein kleines Päckchen von ihm entgegen. Sie tastete es ab und wußte sofort, daß es sich um ein Buch handelte. Es war Jeanne von Jacques Tournier. <br />Sie las, zuerst für sich, die ersten Zeilen, wobei sich ihre Augen langsam mit Tränen füllen. <br />Und dann begann sie laut vorzulesen: <br />– Sie ist klein. Sie ist vierzehn Jahre alt. Sie verbirgt sich noch immer in einem Winkel des Treppenhauses zwischen dem Geländer und dem gelben Hund, um den Garten besser beobachten zu können. So lang, daß sie manchmal den Kopf in ihrem Kleid verbirgt, damit es rascher dunkel werde. Und wenn die Nacht endlich die Terrasse erreicht, ist es, als richte sich plötzlich jemand hinter den Fenstern auf, ein Schatten, der sie zu suchen scheint. Sie macht sich noch kleiner, damit er sie länger suchen müsse, aber der Schatten findet sie immer, steigt Stufe um Stufe die Treppe hinauf und läßt sich neben ihr nieder.<br />– Dieser Schatten ist wie mein Adoptivvater, er hat mich immer gefunden, sagte sie weinend.<br />Yorck Berliner stand ihr gegenüber und schaute sie an, wie sie weinte und dabei den Einband des Buches mit ihren Händen streichelte. <br />Und er ließ sie. <br />Und er war ihr nah, er war von ungeheuerer Präsenz.<br />Minutenlang geschah nur dies.<br />Und dann hörte sie auf zu weinen, es ging vorüber.<br />Bevor Anabelle am frühen Nachmittag mit dem Buch im Café Strauss verschwand, umarmte sie Yorck Berliner innig. Sie legte ihre Arme um ihn und küßte ihn heftig auf den Mund.<br />Yorck Berliner lächelte. Er befreite sich und küßte sie zärtlich auf den Hals. Dabei wirkte er erleichtert, so als hätte nichts ihn jemals verletzt oder als hätte das, was ihn verletzt hatte, andernorts stattgefunden, fern von ihm. <br />Anabelle freute sich über sein Lächeln und küßte ihn wieder, und er machte sich abermals von ihr los.<br />Ich glaube, er hätte alles von ihr bekommen können. Über die wirkliche Größe seiner Macht über Anabelle konnte er nicht ahnungslos gewesen sein. Er hätte sie tragen können wie ein Kleidungsstück. <br />Vielleicht hat er sie gerade deshalb nur beschützt. Weil er wußte, welche Verletzungen es da gab, auf der gegenüberliegenden Seite ihrer Wünsche. Und weil er sie kannte.<br />Als ich ihm in irgendeiner Nacht, lange nach dem 11. September am Strand begegnete und er mir von Anabelle erzählte, waren seine Beschreibungen ihres inneren und äußeren Lebens derart genau und nachdrücklich, daß es mich schmerzte, ihm zuzuhören. Ich mußte ihn mehrere Male unterbrechen, weil ich es kaum ertragen konnte, ihn auf diese Weise über sie sprechen zu hören. <br />Er sprach von der Rückseite ihres Gesichts wie von dem verschlossenen Teil eines Hauses. Von den verschwiegenen Ängsten, die dort wohnten. Von den Mißhandlungen, die Anabelle erfahren hatte, und dem Rhythmus, in dem sich die erlebte Brutalität in ihrem Körper in dunklen Massen wiederholte. Von dem Schmerz, der in sie eingesunken war und der machte, daß sie Nacht für Nacht in ein Labyrinth voller scharfkantiger Steine hinabstürzte. Von den Narben an ihren Handgelenken, die sie im Schlaf manchmal umklammert hielt. So ein Schlaf, wo man sich nicht bewegte, die ganze Zeit nicht, in der Erwartung eines bevorstehenden Angriffs. Und daß sie es sich nur mit der eigenen Hand machte, wenn er ihr dabei zuschaute und sie alles vergessen konnte, sogar ihn und seine Blicke, weil sie sich in seiner Nähe sicher fühlte und wußte, daß er auf sie aufpaßte. <br />Er sprach auch von Anabelles großen Lust zu sterben. Davon, wie stark dieses Verlangen war, so viel stärker als ihr Widerwille gegen den Tod. Er sprach von den Männern, denen sie ihren Körper gebracht hatte, von seiner Unbeweglichkeit unter ihnen. Einer Unbeweglichkeit bis zum Verstummen. Vom Keuchen der Männer, ihren Rufen, ihren Schreien. Vom Blut auf dem Weiß der Laken. <br />Zuletzt sprach er von ihrem Adoptivvater, der Vaseline auf seine Finger tat, um ihre Vagina einzuschmieren, während sie sein Geschlecht rieb, bevor er in sie eindrang. Wie sie anschließend nackt auf die Straße rannte und schrie und der Adoptivvater sie brutal zurückholte und ihr sagte, sie solle still sein, sonst würde er sie zum Schweigen bringen. Und daß sie am Morgen ihres neunten Geburtstages daran dachte, eine Überdosis Tabletten zu nehmen, was ihr aber mißlang, weil ihr Mund zu trocken war, denn sie hatte sich die ganze Nacht erbrochen, nachdem er mit seiner wahnsinnigen Liebe bei ihr gewesen war.<br />Wenn Yorck Berliner im Film davon spricht, wie er Anabelle an jenem Nachmittag vom Strand aus auf der offenen Terrasse des Café Strauss beim Lesen beobachtete, muß ich hinzufügen, daß umgekehrt auch er oft von ihr beobachtet wurde, mit derselben Intensität und Wachsamkeit. Hätte Anabelle nicht mit dem Buch von Tournier dort gesessen und gelesen, hätte es mich nicht gewundert, wenn auch sie ihn zur selben Zeit heimlich angeschaut hätte. <br />Allerdings kann ich mir bis heute keinen Grund vorstellen, der Anabelle dazu hätte bewegen können, ihre Lektüre zu unterbrechen. Vielleicht hätte sie einen Moment lang aus Jeanne aufgeblickt und ihn angesehen, wenn er sich neben sie gesetzt hätte, ganz so, als sähe sie ihn zum ersten Mal. <br />Und dann wäre ihr wieder eingefallen, daß sie ihn kannte. Sie hätte das Buch und den Bleistift auf den Tisch gelegt und seine Hand genommen und ihn still und eingehend betrachtet, wie sie es oft tat. <br />Danach hätte sie ihm aufgeregt einige der Stellen gezeigt, die sie in dem Buch angestrichen hatte. Etwa die Stelle, an deren Rand sie seinen Namen und das Datum ihrer ersten Begegnung geschrieben hatte: Das damals war wirkliche, warme Zuneigung, die nichts jemals ersetzen konnte ... Oder jene, an deren Rand sie seinen und Elisas Namen gesetzt hatte: ...ihn allmählich zu dem hinzuleiten, was sie im Geheimen die Welt unter dem Schnee nennt: alles, was vergraben ist, aber pulsiert und was man lernen muß, zu befreien. <br />Ich weiß nicht mehr genau, wann er mir davon erzählte, von den Sätzen, die Anabelle in Jeanne unterstrichen hat. Es könnte ebenfalls in jener Nacht am Strand gewesen sein, als er nach ihrem Tod das erste Mal länger über sie sprach. <br />Besonders denke ich an diese eine unterstrichene Stelle: Soll man alles wieder in Ordnung bringen, versuchen, einen Plan zu erkennen... <br />Ich glaube, daß es darauf keine Antwort gibt. Falls es doch eine gibt, wird niemand sie jemals finden.<br />(…)</div>
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Die erste Liebe in Anabelles Leben ist nicht ihr leiblicher Vater, den sie sowenig kennt wie ihre Mutter. Die erste Liebe ihres Lebens ist ein Fremder. <br />Er, dieser Fremde, begegnet ihr spät, am Ende ihrer Kindheit, die genaugenommen bereits zu Ende ist, bevor sie anfangen kann. <br />Plötzlich gibt es da jemanden, der sie kennt und der sofort alles von ihr weiß. Jemand, der sie mitnimmt, ohne etwas von ihr zu wollen. Und der da ist, wenn sie sich die Haare ausreißt oder das Gesicht und die Arme und Beine zerkratzt oder mit Rasierklingen blutig ritzt. Jemand, der sie festhält, wenn sie sich laut schreiend an die Wände ihres Zimmers wirft. Oder der sie verbindet, wenn sie sich ihrem Kopf an der Wand blutig hämmert. <br />Da gibt es jemanden, der sie sehen kann und der manchmal sogar schnell genug ist, um sich ihr in den Weg zu stellen, bevor sie sich ein weiteres Mal verletzt. Der ihr zeigt, daß sie, auf andere Weise als bisher, ertragen kann, was ihr vergangenes Leben in ihr hervorbringt. Und der an anderen Tagen, wenn sie sich unter ihrem Bett verkriecht und sich nicht mehr rührt, stundenlang bei ihr sitzt und mit ihr redet oder schweigt, bis sie wieder hervorkommt. <br />Unerwartet gibt es da also jemanden in ihrem Leben. Jemand, mit dem sie mitgegangen ist. <br />Es ist dieser Fremde, der Schriftsteller, der ihr von Anfang an zuhört, wenn sie ihm etwas erzählt. Sie kann sich nicht erinnern, daß jemals zuvor irgend jemand auf diese Weise aufgepaßt hat, daß jemand anders ihr zugehört hat, wenn sie etwas sagte. Nicht auf diese Weise.<br />Sobald etwas in ihr erstarrt und sie nicht mehr weiter weiß, spürt sie, daß er ihrem Schweigen lauscht wie kurz vorher ihren Worten, mit derselben Aufmerksamkeit. An der Art, wie er ihren Worten, wie auch ihrem Schweigen nachgeht, erkennt sie, daß er mit ihr fühlt und sich auf sie einstimmt.<br />Ohne daß sie daran zweifelt, aber auch ohne etwas darüber zu wissen, denkt sie, daß seine Gründe hierfür andere sind als die aller anderen, die ihr zuvor begegnet sind. Ihr fällt bald auf, daß er sich tatsächlich für das interessiert, was sie ihm erzählt, daß er wirklich Sympathie für sie empfindet. <br />Wie sehr er von dem, was sie ihm erzählt, berührt wird, verwundert sie zunächst. Auch, wie behutsam und konzentriert er ist, wenn er mit ihr spricht. Das alles ist neu für, sie kennt es noch nicht. In der Vergangenheit ist es immer so gewesen, daß man nur so getan hat, als würde man ihr zuhören. So wie man anschließend dafür auch immer etwas von ihr gewollt hat. <br />Schon nach ein paar Wochen wird ihr klar, daß er vor allem anderen weiß, wovon er spricht, und daß sie ihm vertrauen kann, wenn er ihr sagt, daß das, was sie erlebt hat, nicht alles ist, was sie ausmacht. Daß das Gräßliche, das hinter ihr liegt, nur halb so machtvoll ist, wie sie meint. Daß sie noch jung ist. Und daß sie doch alles erreichen, sich neu erfinden, alles mögliche aus sich machen kann. <br />Sie zweifelt keinen Moment an seinen Worten. Außerdem gefällt es ihr, wenn er so mit ihr redet und macht, daß sie sich gut fühlt, irgendwie wertvoll, als ob sie ausgewählt ist. <br />Dann glaubte sie ihm sogar manchmal, wenn er ihr sagt, daß er sie schön findet, schön und klug, ein schönes und kluges Mädchen. <br />Vor allem fühlt sie sich schön, wenn sie nackt im Badezimmer steht und dieses Mädchen sie aus dem großen Spiegel anblickt, mit einem von Narben entstellten Körper, und er hinter sie tritt und einige der Narben sanft berührt und sie sich dann an ihn lehnt und er ihr Haar streichelt und mit seinen Fingerspitzen über ihr Gesicht streicht und ihren Hals und anschließend über ihren Körper und ihr dabei etwas von der Blondheit ihrer Haut ins Ohr flüstert, der die Narben nichts anhaben können.<br />Noch bevor sie von Lisa erfährt, ahnt sie vielleicht, daß er das, was er ihr sagt, früher bereits zu irgendwem gesagt hat, auf ähnliche Weise. Sie kann nicht erklären, wie sie darauf kommt. Vielleicht eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen, verbunden mit einer unerfüllbaren Sehnsucht nach etwas, das er vor sehr langer Zeit verloren hat.<br />Als er ihr dann von Lisa erzählt, weint sie, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geweint hat. Sie weint, weil sie versteht, daß Lisa wie ein zerbrochener Stein gewesen ist, den er versucht hat wieder zusammenzusetzen. Ihr wird klar, daß es mit ihr ähnlich ist, daß er mit ihr dasselbe versucht wie mit Lisa und wie ernst es ihm damit ist. <br />In der Nacht, nachdem er ihr von Lisa erzählt hat, liegt sie neben ihm im Bett und ist sich gewiß, daß er sie liebt. Sie schlingt ihre Arme um seinen Körper und preßt sich fest an ihn. Sie fühlt etwas für ihn, daß sie noch nie zuvor für einen Menschen empfunden hatte, nicht einmal für sich selbst. Es fühlt sich an wie ein Druck auf die Innenseiten ihrer Rippen, ganz anders als die Last, die sie sonst dort spürt. Eher wie ein Gewicht, das ihren Körper anhebt, statt ihn niederzudrücken. <br />Wenn sie die Augen schließt, sieht sie winzige Wasserperlen, die sich hinter ihren Augen sammeln und dann durch ihre Kehle hinunter in ihre Magengrube stürzen und sich von dort aus einen Weg in das verwahrloste Feuchtgebiet zwischen ihren Schenkeln bahnen und dort alles zum Kribbeln bringen. Endlich fühlt sie, daß dort unten etwas vorhanden ist, das sie besitzt, etwas, das nicht den anderen gehört, obwohl es, seit sie denken kann, immer den anderen gehört hat. <br />Während sie einschläft, denkt sie, daß es darauf ankommt, sich jede Nacht so neben ihn zu legen und dort einzuschlafen und jeden Tag mit ihm anzufangen. Doch dazu muß sie bei ihm bleiben und darf nicht wieder fortlaufen. <br />Um den alten Fallen zu entkommen, muß sie sich an alles in ihrem Leben erinnern, was ihr einfällt, und sie muß es ihm erzählen, damit er die einzelnen Teile für sie richtig zusammensetzt. Er wird ihr schon zuhören, allem, was sie zu sagen hat. Und selbst wenn sie ihre innere Stimme verliert und mit der unvermittelten Stille nicht fertig wird, wird er, lange bevor der Schmerz einsetzt, ihren Kopf nehmen und ihn auf seine Brust legen und ihr vom Dämmerlicht über dem Fluß erzählen. Sie wird sich an ihn schmiegen, unterdessen er ihr Haar und ihren Hals streichelt, bis sie ihre Stimme wieder in sich hören kann. <br />Und dann, während sie fühlt, wie sie sich ihm nähert, wird er ihr sagen, wie sie zu sich hinkommt, damit sie sich selber sehen kann, und was sie tun muß, um sich zu erfinden. Er wird ihr erklären, warum sie nach rechts gehen muß, wenn ihr gegenüber jemand darauf beharrt, sie soll nach links gehen, nur weil alle nach links gehen. Auch, warum es für jemanden wie sie zwecklos ist, sich eine Karte zeichnen zu lassen, um sich besser zu orientieren. Warum sie vielmehr die Augen schließen und in sich in einen toten Winkel ihrer Erfahrungen kommen und dort alles wie Blindenschrift erspüren muß, damit die Dinge für sie einen Sinn ergeben können. <br />Sie muß ihm nur zuhören, wie sie noch nie jemanden zugehört hat. Niemand außer ihm kann ihr sagen, daß sie das, was sie erlebt hat, nicht einfach so abschütteln kann wie einen Alptraum, damit das Leben für sie weitergeht, sondern daß sie ihr Leben zuerst einmal gewinnen muß. Zudem wird sie keinem anderen glauben, wenn der ihr sagen würde, daß sie nach dem Unbekannten Ausschau halten muß, um nicht den Halt zu verlieren. Und daß es ausreicht, kleine Schritte zu machen, weil schon die kleinste Veränderung an der Oberfläche die größte Veränderung in der Tiefe bewirkt. <br />Nur ihm, ihm glaubt sie. Sie glaubt ihm alles, was er zu ihr sagt. Nicht wie so eine Dumme, die aufhört zu denken, wenn ihr einer etwas sagt. Vielmehr weil sie sieht, daß er immer weiß, wo etwas herkommt. <br />Und während sie ihm mit ihren Augen überallhin folgt, ist sie nun nicht mehr erstaunt darüber, daß er sie zu einem Teil seines Lebens macht und dabei zu einem Teil ihres Lebens wird. <br />Jeden Morgen frühstückt er mit ihr, sie machen gemeinsam Besorgungen, kochen am Abend und sehen sich Filme auf DVD an, hören Musik oder lesen. Sie gehen oft am Strand entlang und beobachten das Meer und den Himmel. <br />Am Anfang nimmt er ihre Hand, bis sie es irgendwann wagt, seine zu nehmen. <br />Sie geht wieder zur Schule, fährt jeden Morgen mit dem Zug nach Lisieux, erzählt dort, daß sie bei ihrem Onkel lebt.<br />Dieser Fremde, denkt sie sich an manchen Tagen, wenn er ihr bei den Hausaufgaben hilft oder ihr geduldig etwas erklärt, bis sie es versteht, ist vielleicht wie ein Vater oder ein entfernter Verwandter, von dem sie lange nicht wußte, daß es ihn gibt, und der in ihrer größten Not unangemeldet aufgetaucht ist, um sich um sie kümmern. Sie vergleicht das, was er tut, mit dem, was ihre Kameradinnen aus der Schule über ihre Väter erzählen, und findet, daß er seine Sache gut macht. <br />Dann, nach einer gewissen Zeit, die sie mit ihm verbringt, stellt sie fest, daß er doch nicht wie ein Vater ist, auch nicht wie ein Onkel oder ein anderer Verwandter. Sie findet heraus, daß sie ihn mit niemandem vergleichen kann, daß er anders ist als alle anderen, die sie kennt. In Wirklichkeit ist er nur ihr ähnlich. Auch die Beziehung, die sie miteinander haben, unterscheidet sich von allen anderen Beziehungen, die sie kennt oder von denen sie gehört hat. <br />Das, was sie mit ihm hat, kann sie nicht mit einem Vater haben. Das ist ausgeschlossen. Diese Nähe zu ihm, daß sie ihn berühren kann, auf diese Weise, und daß er ihre Berührungen erwidert, genauso wie sie es braucht, damit sie sich gut fühlt, das kann kein Vater. Außerdem kann kein Vater jemals ihre Wunden sehen, geschweige denn verstehen, was es bedeutet, auf diese Weise zu leben, so verletzt. Das kann nur jemand, der Vergleichbares erlebt hat. <br />Schließlich macht sie sich eigene Vorstellungen von ihm und dem, was sie mit ihm hat, und entscheidet sich dafür, daß dieser Fremde weniger ein Vater für sie ist als ein Freund, der mit ihr einen Pakt geschlossen hat und sich mit ihr verbündet, damit sie ein Leben, von dem sie alles weiß, aufgibt für ein Leben, das sie noch nicht kennt.<br />Ich sehe gewisse Dinge zwischen ihnen, die sie einander nicht verschwiegen und die sie annahmen und zuließen, innerhalb der Grenzen, die sie für sich ausgemacht hatten. Berührungen, Zärtlichkeiten, diese besondere Nähe, die außerhalb aller anderen Grenzen lagen. Dinge, die niemand von uns jemals verstehen, geschweige denn hätte anerkennen können, so sehr gingen sie über jede unserer Vorstellungen hinaus. <br />Man konnte es kaum glauben, nach allem, was man darüber gehört und gelesen hatte, daß einer von uns sich auf diese Weise seiner Tochter nähern würde, wie er sich Anabelle genähert hatte. <br />Eine solche Intimität zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, wie man das in dem Film von Jacques Winter mit eigenen Augen gesehen hatte, das war ausgeschlossen. Auch was er selbst darüber geschrieben hatte, über sich und dieses Kind. Und das dann noch in Caen aufzuführen. Wie skandalös. Gewiß hatten sie recht, sie ihm wegzunehmen. <br />Von alldem abgesehen, war es für die meisten Leute sowieso nur schwer vorstellbar, daß es Menschen wie ihn und Anabelle überhaupt gab. Menschen, die so schwer verletzt waren, daß einen ihr Anblick, wenn er einen nicht sofort beschämte, nach kurzer Zeit aggressiv machte. Für einen selbst blieb es undenkbar, daß es andere Menschen waren, die ihnen diese Verletzungen beigebracht hatten. <br />Daß es tatsächlich Menschen waren, die den beiden das angetan hatten, wie sollte man erfassen, was das bedeutete, auch für einen selbst, der man dazugehörte. Vor allem, daß es eben diese Wunden waren, das ganze Ausmaß dieser Wunden, die seine und Anabelles Lebensweise beeinflußte. <br />Manchmal wirkten die beiden, als wären sie von allem abgetrennt, als wären sie von einem fremden Planeten auf diese Welt gekommen.</div>
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In dem aufgegebenen Manuskript habe ich über diesen Jungen geschrieben, den Anabelle aus dem Meer gerettet hat. <br />Ich schrieb, daß dieser Junge, Albert, später einmal, wenn er ein Mann wäre, sagen würde, er habe da draußen nicht allein um sein Leben kämpfen müssen. Ganz deutlich hörte ich ihn sagen, daß er an diesem Nachmittag nicht gezwungen gewesen sei, sich allein zu retten. Er habe den Körper Anabelles gespürt, dessen Wärme und Festigkeit. Bereits in dem Moment, als sie nach ihm gegriffen habe, sei von ihrem Körper eine Sicherheit ausgegangen, die sich auf ihn übertragen und ihn sein ganzes Leben nicht mehr verlassen habe. <br />Ich schrieb, daß er nie wieder Angst verspürt hat, zumindest nicht eine so entsetzliche Angst wie an jenem Nachmittag im Meer. Die Angst eines Fünfjährigen, der um sein Leben kämpfen mußte, im Körper eines Mannes, das ist ihm erspart geblieben. Ich hörte, wie er sagte, daß er manchmal noch zusammenzucke, weil er zu einer beliebigen Tageszeit Anabelles Herzschläge an seinem Rücken spüre. Ihr vor Anstrengung hämmerndes Herz, das er damals habe fühlen können, als sie mit ihm zurückgeschwommen sei. <br />Albert Kahnweiler, so habe ich geschrieben, würde diese Geschichte oft erzählen, den Kindern am Strand oder sonstwem. Gewiß würde er sie später seinen eigenen Kindern erzählen. Sogar nachdem er nicht mehr davon sprechen würde, bliebe die Berührung durch Anabelle an jenem Nachmittag im Meer die ganze Zeit über in seinen Körper eingeschrieben wie eine tiefe, unauslöschliche Umarmung. <br />In dem aufgegebenen Manuskript habe ich nicht darüber geschrieben, daß er und Anabelle sich nie wiederbegegnet sind. <br />Ich habe nicht darüber geschrieben, daß Albert, unmittelbar nachdem er von Anabelles Tod erfahren hat, alleine mit dem Zug nach Quimperle gefahren ist. Jemand hat ihn dort am Ufer stehen sehen, an der Stelle, wo man Anabelles Sachen gefunden hatte. <br />Er habe dort gestanden, als versuchte er zu begreifen, daß Anabelle tot war. Anabelle, die sein Leben gerettet hatte.</div>
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Einige der Leute, die an jenem Nachmittag am Strand waren, meinten später, Anabelle sei irgendwie vorbereitet gewesen. Als ob sie gewußt hätte, daß das passieren würde. Anders sei es nicht zu erklären.<br />Jemand sagte, er habe den Jungen in dem Boot gesehen und wie das Boot von den Wellen zum Schwanken gebracht worden sei. Im selben Augenblick sei Anabelle schon an ihm vorbeigerannt. Sie habe sich während des Laufens die Kleider vom Leib gerissen und sich dann ins Meer gestürzt. <br />Und dann sei sie hinausgeschwommen. <br />Die Leute blieben am Strand stehen und beobachteten nervös Anabelle, die lange, sehr lange hinausschwamm. <br />Plötzlich verschwand der Junge zwischen den Wellen. Man konnte ihn nicht mehr sehen. <br />Gleich darauf sah man ihn wieder, aber nur kurz. <br />Dann verschwand er abermals, dieses Mal länger. <br />Schon glaubte man, seine Angst fühlen zu können, zu spüren, wie sich seine Lungen mit Wasser füllten, wie er um sein Leben rang. Bis man sah, wie der Junge von Anabelle gepackt wurde. Bis man aufatmete. <br />Einige der Leute klatschten vor Erleichterung in die Hände oder schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Andere fragten sich, ob die Kleine es wohl schaffen würde, mit dem Jungen zurückzukommen. Was für die anderen überhaupt keine Frage war. Vor allem die Kinder wußten es. Selbstverständlich würde sie den Jungen retten.<br />Und dann, als Anabelle mit dem bewegungslosen Jungen zurückkam, applaudierten ihr die Leute, die am Strand waren. Und die Kinder, diese wunderbaren Kinder, die Anabelle so sehr liebten, blieben in ihrer Nähe. Sie bildeten einen Halbkreis, hinter dem die Erwachsenen stehenblieben.<br />Und dann ist es so, daß ich, während ich dies hier schreibe, sehe, daß da noch etwas anderes war. Etwas Besonderes, das sie mit diesem Jungen in ihren Armen verband. Daß sie ihn hielt, wie sie ihren kleinen Bruder gehalten hätte, hätte sie einen gehabt. Und daß jedes dieser Kinder am Strand ihr auf dieselbe Weise nahe war: ein Bruder, eine Schwester, alle aus jenem Geschlecht, dem der Kinder, um die sie sich sorgte, weil sie wußte. Wußte, was man ihnen antun konnte. Für einen Erwachsenen hätte sie keinen Finger gerührt, da bin ich sicher. <br />Ich sehe wieder, wie der Arzt sich einen Weg durch die Menge bahnte und ihr den Jungen aus den Armen nahm und mit zwei Sanitätern erste Rettungsmaßnahmen einleitete. <br />Anabelle stand auf, nackt, atemlos und so entkräftet, daß ihr vor Erschöpfung Tränen in den Augen standen. Ihr ganzer Körper zitterte. Er wirkte kraftlos, dieser Körper, als würde er im nächsten Moment zusammenbrechen. Während sie diese Schwäche überwand, wurden die Leute sprachlos ihrer Narben gewahr. Wie aus allen Himmeln gefallen, starrten einige ihren vernarbten Körper an. <br />Die ganze Zeit über blieb Anabelle gänzlich unempfindlich gegen die ihr dort am Strand unvermittelt zuteil werdende Aufmerksamkeit, mit der sie nicht das geringste anzufangen wußte. <br />Das Erschrecken, das ihre Narben bei einigen auslöste, interessierte sie nicht. Es ist schwer zu sagen, ob es überhaupt von ihr bemerkt wurde. Sie wirkte wie ein völlig verschlossener Raum, den man nur von außen betrachten konnte.<br />Während man ihr ein Handtuch reichte, mit dem sie sich trockenrieb und anschließend in ihre Kleider schlüpfte, beobachtete sie voller Mißtrauen den Arzt und die Helfer, die den Jungen mit ein paar geübten Handgriffen ins Leben zurückholten. <br />Als der Junge hustend und Wasser erbrechend zurückkehrte und sich ihre Blicke trafen, öffnete sich ihr ansonsten eher abweisendes Gesicht für einen Moment. <br />Ich sehe dieses feenhafte Lächeln wieder, das sie ihm schenkte. Es war ein Lächeln, daß er sein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Und die Kinder. Sie schlugen sich untereinander in die Hände und strahlten ihre Heldin an oder umarmten sie. Für sie war Anabelle eine von ihnen. Und nun hatte sie einen von ihnen vor dem sicheren Tod bewahrt. Sie hatte den Jungen hören können, noch bevor er um Hilfe gerufen hatte. Sie konnte alles sehen, schon bevor es geschah. Mit den Augen eines Adlers und dem Gehör eines Indianers, wie ich einen der halbnackten Jungen sagen hörte.<br />Und dann hörte ich jemand sagen: Das ist der Sohn des Richters.</div>
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Von der Rettung Alberts durch Anabelle erfuhr Yorck Berliner von Sandrine Landier, als er in der Woche darauf am Marktag an ihrem Stand den bestellten Fisch abholte. <br />Er erzählte mir, daß Sandrine Landier noch nicht einmal richtig begonnen hatte, über das Ereignis am Strand zu reden, als sie von ihren Kindern bereits unterbrochen wurde. <br />Während die zwölfjährige Paula die Augen verdrehte, verzog ihr drei Jahre jüngerer Bruder Paul das Gesicht zu einer mißmutigen Grimasse. <br />Die Kinder redeten unentwegt dazwischen und behaupteten, daß alles ganz anders gewesen war, als ihre Mutter es erzählte. <br />– Diese Geschichte. <br />– Also, sie handelt davon, daß Anabelle einen Jungen vor dem Ertrinken rettet. <br />– Und von den Cornflakes heute morgen.<br />– Und davon, daß die Milch sauer war und ich die Cornflakes trocken essen mußte, was voll eklig war.<br />– Auch von dem toten Fuchs auf der Route Nationale.<br />– Der Fuchs war nicht tot, ich habe es dir schon heute morgen gesagt.<br />– Und von der schönen Anhalterin mit den Rastalocken.<br />– Die gerochen hat wie die Fischreste in der Tonne hinter dem Haus.<br />– Und von den Chips und den Crepés, die wir verdrückt haben.<br />– Und von den zwei Flaschen Cola.<br />– Und von der Skulptur von Flaubert, die Paul angepinkelt hat, weil er es nicht mehr halten konnte.<br />– Und noch von unserem unendlich dicken Cousin Pierre aus Limoges. <br />– So dick, daß er die Sonne verdunkelt, wenn er vor sie tritt, echt wahr.<br />– Und davon, wie er im vergangenen Jahr beinahe ertrunken wäre, in der Rhône, als er am Ufer spielte.<br />– Und dann geht es in der Geschichte noch um Alberto, der früher in unserer Straße gewohnt hat und wieder zu seinem Vater nach Montpellier gezogen ist. <br />– Davor ist er bei Cherbourg von einer Fähre gefallen. <br />– Zumindest haben sie das behauptet. <br />– Aber er ist wohl eher gesprungen, das ist doch ganz klar. <br />– Er wollte bei seiner Mutter sein, die im Winter davor gestorben war. <br />– Kein Erwachsener versteht das: daß ein Kind so traurig sein kann.<br />– Für sie bleibt Alberto von der Fähre gefallen. <br />– Nie würden sie zugeben, daß er gesprungen ist, weil er bei seiner Mutter sein wollte.<br />– Erzähle endlich von Anabelle.<br />– Also, der Himmel war grau.<br />– Ein helles Grau, so eins, das man in keinem Wasserfarbenkasten findet.<br />– Und der kleine Albert da draußen, in seinem winzigen Boot.<br />– Und dann zwischen den riesigen Wellen. <br />– Und niemand in der Nähe, um ihn herauszuholen, auch Gott nicht. Nur Anabelle, die ganz weit hinausgeschwommen ist, bis man sie vom Strand kaum noch sehen konnte. <br />– Sie hat das ganze Meer durchquert, von einem zum anderen Ende, total kraß. <br />– Aber sie hat ihn zurückgebracht.<br />– Und vielleicht war Gott ja doch da.<br />– Wenn er da war, dann in Anabelle.</div>
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Anabelle hatte einem Jungen das Leben gerettet und kein Wort darüber verloren. So als wäre ihr klar gewesen, daß sie, indem sie zu dem Jungen hinausgeschwommen war, bereits alles verändert hatte. <br />Selbst wenn sie Albert Kahnweiler nicht hätte retten können, wenn sie da draußen gescheitert wäre, hatte sie doch alles riskiert und ihr Leben für ihn in die Waagschale geworfen.<br />Yorck Berliner sah das große Risiko, das sie eingegangen war und war beeindruckt von ihrer Tapferkeit. <br />Obwohl es ihm sichtlich schwerfiel, vermied er es, Anabelle darauf anzusprechen, nachdem Paul und Paula ihm davon berichtet hatten. <br />Anabelle werde ihre Gründe haben, nicht mit ihm darüber sprechen zu wollen, sagte er zu mir.<br />Ich erinnere mich, wie wir ein paar Wochen, bevor er spurlos verschwand, noch einmal über diesen Vorfall am Meer gesprochen haben. Mit welchem Nachdruck er darauf bestand, daß man einfach daran glauben mußte, daß man immer nach dem Guten verlangte. Ganz egal, was einem widerfahren war.<br />– Sogar wenn man sich weigert, sich dem Guten näherzubringen, ist doch alles in einem darauf angelegt, ihm entgegenzugehen. Nach allem, was Anabelle widerfahren ist, welchen Grund sonst hätte sie haben sollen, den Jungen zu retten.<br />Er meinte, daß man sich dem Guten nicht verweigern konnte. Um dies zu tun, müßte man aufhören, es zu denken. <br />– Wie hätte ich in der Vergangenheit Lisa, Elisa oder Anabelle ansehen können, ohne dabei das Gute zu denken. <br />An dem Morgen war es ihm unnatürlich vorgekommen, nicht das Gute zu denken. <br />– Das Leben ist so kurz und für viele so wenig, wie kann da einer mehr Schlechtes als Gutes wollen.<br />Er fand sogar, daß jedes seiner Kriegsbücher ein Schritt auf dem Weg zum Guten wäre, auch wenn er wahrscheinlich der einzige sei, der es so sehe.<br />– Nach diesen Büchern blicke ich zurück und erkenne, daß ich nicht mehr der bin, der ich am Anfang war. <br />Plötzlich sagte er, daß Anabelle keine Kraft mehr zum Guten gehabt habe.<br />– Sie hat das Undenkbare möglich gemacht.<br />Ihm war anzumerken, daß er diesen Tod, ihren Tod, noch immer nicht begreifen konnte.<br />Er sagte, daß es keine Entfernungen gebe, schon gar nicht durch den Tod.<br />– Es ist immer alles hier.<br />Später sprach er noch über Elisa.<br />Er war enttäuscht, daß Elisa Hals über Kopf nach Montreal gezogen war, ohne ihm ein Wort davon zu sagen.<br />– Mit diesem Rockstar.<br />Er sagte, daß er Elisa vermisse und daß die Trennung ihn schmerze.<br />– Aber ich denke nicht mehr darüber nach, ob die Liebe etwas ist, das nur eine gewisse Zeit andauert und dann nie wiederkehrt.<br />Er sagte, daß er sich nicht mehr die Frage stelle, was mit ihrer Liebe in der Zeit geschehe, in der er nichts von Elisa höre oder sie nicht sehe.<br />– Es ist unsere gemeinsame Geschichte, in der wir fortfahren, mit derselben Zuneigung. <br />Er sagte, es sei diese Liebe, die für jeden von ihnen immer zu nah oder zu fern sei.<br />– Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß wir diese Geschichte so leben, weil wir keine andere Wahl haben.<br />Er sagte, daß er aus der Zeitung erfahren habe, daß sie mit dem Musiker nach Montreal gegangen sei – das habe ihn gekränkt.<br />– Doch wenn ich dann einen Moment ruhig bin, fühle ich diese tiefe Verbundenheit mit Elisa.<br />Er sagte, daß er von ihrer ersten Begegnung an keinen Tag ohne Elisa gewesen sei.<br />– Ich kann nicht anders, als in alles einzuwilligen, was sie tut.<br />Als er sagte, daß sie ihn aufgenommen habe, mit ihrer ganzen Liebe, spürte ich, daß er Elisa gegenüber voller Dankbarkeit war.<br />– Sie ist die Freundin, die mein Leben gerettet hat.<br />Er sagte, daß Elisa, schon als sie jung gewesen sei, mit ihrer Liebe dafür gesorgt habe, daß er an seiner Einsamkeit nicht zugrunde gegangen sei. Und er habe das alles erwidert, so gut es ihm möglich gewesen sei.<br />– Diese Liebe, in der einer den anderen sichtbar macht, das ist mit nichts zu vergleichen.<br />Er sagte, daß er wisse, was er immer gewußt habe, daß sie vereint seien, ohne je herauszufinden, was es sei, das sie vereine. Und solange er sie liebe, werde sie wirklich anwesend sein. Auch wenn sie in Montreal lebe, oder wenn er nie wieder etwas von ihr höre.<br />– Ich sage ihren Namen und schon ist sie da. Und sie spürt es, wenn ich ihren Namen sagen, ganz egal, wo sie gerade ist.<br />Er meinte zu mir, daß er ihren Namen jeden Tag sage, mehrere Male, so wie man bete.<br />– Diese Liebe war nie an Bedingungen geknüpft. Und das wird sie auch niemals sein.<br />Als er lächelte, wurde seine ganze Schönheit sichtbar.<br />– Wenn es nach alldem in meinem Leben soviel Liebe in mir gibt, bedeutet das für mich die Gewißheit, daß es einen Gott gibt.<br />Ich weiß noch, daß ich in dem Moment, als er das sagte, den Atem anhielt. Ich war mir nicht sicher, ob er sich über die Bedeutung seiner Worte völlig im klaren war. Vielleicht hatte er noch keine Zeit gefunden, das Gesagte zu begreifen. <br />An dem Morgen spürte ich, daß er nicht mehr der Mann war, der Angst davor hatte, daß Elisa ihn verließ. Er hatte etwas Verlorenes wiedergefunden: Vertrauen. Und er war bereit, die Dinge verstreichen zu lassen.</div>
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An einem Abend, einige Wochen nach dem Vorfall am Meer, kamen die Kahnweilers, um sich bei Anabelle für die Rettung ihres Jungen zu bedanken. <br />Als Yorck Berliner öffnete, wollte ich gerade gehen. <br />Hélène Kahnweiler kam ohne Umschweife auf die Rettung Alberts zu sprechen und wünschte Anabelle zu sehen.<br />Anabelle war von unbestimmbarer Höflichkeit, als sie die Begrüßung der Kahnweilers erwiderte. Ihre ganze Haltung war zögernd, als wäre sie von einer inneren Macht gezwungen, hinter sich selbst zurückzubleiben. Ihr Körper schien undurchdringlich. Er glich einer Rüstung, die sie sich angelegt hatte, um bei einem möglichen Kampf mit weiteren Ungeheuern vorbereitet zu sein.<br />Jeder, der sie so erlebte, fühlte sich augenblicklich unwohl in ihrer Nähe. Da gab es etwas, das einen zutiefst beunruhigte, wenn man ihr gegenüberstand. Allerdings vermochten die meisten, die ihr begegneten, nichts genaues darüber zu sagen. <br />Manche meinten, daß ihre ganze Erscheinung den Eindruck erweckte, als wäre sie von allen anderen getrennt. Andere fanden, daß man tun könne, was man wolle, um ihr nahezukommen. Es bliebe dennoch aussichtslos. Anabelle würde entfernt bleiben, nichts und niemanden an sich heranlassen. <br />Eine Ärztin, die Anabelle gekannt hatte, sagte vor wenigen Wochen zu mir, daß Anabelle eine junge, schöne Kriegerin gewesen sei, die von Geburt an gekämpft habe. Ihr Leben sei für sie wie eine Arena gewesen, in der sie sich ständig bedroht gefühlt habe. Und zur selben Zeit seien all die Kränkungen und Plünderungen, die sie früher erlebt habe, wie ein Sturm durch sie hindurchgezogen.<br />Diese Ärztin, die mehrere Male Anabelles Wunden versorgt hatte, nachdem sie überfallen oder von Freiern zusammengeschlagen worden war, machte auch noch eine Bemerkung über ihren Körper. <br />Rein äußerlich sei Anabelles Körper der eines jungen Mädchens gewesen, sagte sie. Aber ebenso ein Körper, in dem sie sich verbarrikadiert habe, nachdem man ihn schön gefunden und begehrt und gewollt und ihn sich genommen habe, ohne sie selbst in ihm wahrgenommen zu haben. Und zwar schon damals, als dieser Körper noch der eines Kindes gewesen sei. Als es noch nicht darum gegangen sei, sich mit ihm zu zeigen, gut anzukommen, schön zu sein. <br />Und dann fällt mir wieder ein, was Jacques Winter noch über Anabelle sagte. Daß sie auf einen wirke, als sei sie aus einem der Bilder von Jock Sturges oder Fabio Cabral herausgetreten und Wirklichkeit geworden. Als gäbe es keinen schöneren Körper als ihren, nichts Einzigartigeres als den Körper dieses jungen Mädchens, der auf etwas verweise, das noch kommen werde. Doch sei es zur gleichen Zeit unmöglich, die Zeichen zu übersehen, die einem ihr berührter Körper regelrecht vorwerfe.<br />Ich erinnere mich an Robert Kahnweilers Blick, als er Anabelle an diesem Abend das erste Mal sah. Wie ihm ihr Anblick den Atem stillstehen ließ. Wie er von dem Blau ihrer Augen und dem Ausdruck darin gleichzeitig angezogen und zurückgestoßen wurde.<br />Ihr Blick habe ihm an diesem Abend wie beiläufig enthüllt, daß sie angetastet worden sei, sagte er nach ihrem Tod zu mir. <br />Ihre Schönheit sei ihm vollkommen abwegig vorgekommen, denn er habe sie mit nichts von dem, was er sonst noch an ihr wahrgenommen habe, in Verbindung bringen können.<br />Auch Hélène Kahnweiler war sichtbar beunruhigt, wie sehr Anabelles Schönheit gebrochen wurde durch ihren Blick, der ihre Wunden in einem fort zum Vorschein brachte, sobald man einmal angefangen hatte, diese zu bemerken. <br />Obwohl sie unsicher war, wie sie sich Anabelle gegenüber verhalten sollte, überwand sie diesen Moment der Unentschlossenheit rascher als ihr Mann und wandte sich direkt an sie. <br />Als Anabelle erfuhr, weshalb die Kahnweilers gekommen waren, blickte sie minutenlang nach unten. Ihr Gesicht richtete sich wie gebannt auf den Boden. Auf die Frage von Hélène Kahnweiler, ob sie ihr etwas schenken könnten, schwieg sie anhaltend. <br />Ich sah, daß ihre Hände zu zucken begannen, als hätten sie ein eigenes Leben. Als hätte man ihnen angedroht, sie zu peitschen. Als hätte jedes einzelne ihrer Fingerglieder einen Namen, die von der Peitsche gerufen wurden und die bereits bei der Nennung ihres Namen zurückwichen. <br />Auch Robert Kahnweiler bemerkte erstaunt das auffällige Zucken ihrer Hände. <br />Vielleicht habe Anabelle ja einen Wunsch, den sie sich erfüllen wolle, fügte Hélène Kahnweiler freundlich hinzu. <br />Dann machte sie Anstalten, ihre Handtasche zu öffnen. <br />Ich denke heute, daß Anabelle, obwohl sie weiter wie unbeteiligt zu Boden blickte, diese Geste zweifellos registrierte. Demnach müßte sie sofort angenommen haben, daß man ihr nun Geld anbieten würde, weil sie den Jungen gerettet hatte, und dies wie einen Angriff empfunden haben. Anders kann ich mir das, was unmittelbar danach geschah, nicht erklären.<br />Unvermittelt sah Anabelle auf. Ihr Gesicht, in dem sich die Augen unnatürlich geweitet hatten, war zu einer Maske erstarrt. Da war etwas, das wie eine einzige Bewegung durch ihren Körper hindurchging und ihn zurückweichen ließ. <br />Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment der Schwäche bei ihr. Ich nahm ihre Erschöpfung war, spürte, wie wehrlos sie sich fühlte. <br />Sekundenbruchteile später entdeckte sie in ihrem Inneren diesen Funken Kraft, den sie benötigte, um den Ansturm von Schwäche zu überwinden. <br />Im nächsten Atemzug trat Anabelle energisch einen Schritt nach vorne. Mit großer Kraft schlug sie Hélène Kahnweiler kurz hintereinander auf die Hand und ins Gesicht, so daß diese mit einem Schmerzenslaut zurückwich, nach hinten stolperte und gefallen wäre, hätte ihr Mann sie nicht gehalten. <br />Anabelle war kaum wiederzuerkennen. Sie erschien einem wie eine andere Person, mit dieser Kraft, die sie in sich entfesselte, robust und kampfbereit. <br />Robert Kahnweilers Körper versteifte sich wie unter einer großen Gefahr. Auch in seinem Gesicht war deutlich die Anspannung zu erkennen.<br />Anabelle versuchte die richtigen Worte zu finden. Etwas, das wie ein harter Knebel in ihrem Mund steckte und ihr bis tief in ihren Körper hineinreichte, machte ihr das Sprechen zuerst unmöglich. Und während sich ihr ganzer Körper bewegte, als wäre er von dieser fremden Kraft ergriffen worden, preßte sie die Worte aus sich heraus, in Stößen, wie eine Gebärende ihr Kind.<br />– Erkennen Sie nichts wieder!?<br />Ihre Stimme klang in ihrer Wut dunkel und schroff.<br />An dieser Stelle sehe ich Anabelle wieder deutlich vor mir. Sie ist nun vollkommen außer sich. Sie stampft fest mit den Füßen auf, als wollte sie in den Boden unter sich ein Loch treten. Ihre Hände hat sie in die Hüften gestemmt. Sie sind verkrampft, zu Fäusten geballt, daß die Haut über ihren Knöcheln weiß schimmert. Ihr Blick hat einen wilden Ausdruck angenommen. <br />– Einem Kind zu helfen, wenn es in Not ist, das ist so selbstverständlich, da ist jedes weitere Wort überflüssig.<br />Und dann, schreiend:<br />– Hören Sie, ich weiß das, ich weiß alles, ich war einmal Kind, glauben Sie mir das.<br />Hélène Kahnweiler ist offensichtlich nicht bereit, lange über den Sinn dessen nachzudenken, was Anabelle gesagt hat. Sie geht von einem Mißverständnis aus und versucht sofort, etwas darauf zu erwidern, um die Dinge in ihrem Sinne zu klären. <br />Ich sehe, daß sie reflexartig eine versöhnliche Handbewegung in Richtung Anabelle macht, die diese erbost abwehrt.<br />– Dafür gibt es keine Gegenleistung, und ich will von Ihnen nichts haben. <br />Anabelle ist nicht bereit, das weiter zu erörtern. Allein der bedrohliche Klang ihrer Stimme läßt keinen Zweifel daran aufkommen, wie ernst es ihr damit ist. <br />Es sei genau derselbe Tonfall gewesen, mit dem sie zuvor angedeutet habe, daß sie kein Kind mehr sei, der ihn habe aufhorchen lassen, sagte Robert Kahnweiler nach ihrem Tod zu mir. Anscheinend habe sie genug darüber gewußt, was es bedeute, selbst Kind gewesen und nicht gerettet worden zu sein.<br />Ich sehe Robert Kahnweiler, wie er ohne zu zögern Anabelle an der Schulter berührt und sie zwingt, ihn anzusehen. Ich erinnere mich genau an den Ausdruck in Anabelles Gesicht. Ich sehe ihr Zurückweichen, den blanken Haß in ihren Augen, was seine Hand auf ihrer Schulter angeht. Auch, wie Robert Kahnweiler ihrer Bewegung folgt, wie er ihren Blick aufnimmt, ihn annimmt, ohne ihre Schulter loszulassen.<br />– Offensichtlich ist das nicht selbstverständlich, denn du bist hinausgeschwommen, niemand sonst. Du warst bereits im Wasser, noch bevor irgend jemand etwas bemerkt hat. <br />Nun schweigt er und sieht sie an. <br />Sein Blick ist erschöpfend.<br />Anabelle ist sichtlich überrascht, daß er seine Hand auf ihrer Schulter läßt, wehrt sie nun aber nicht mehr ab. Sie erwidert Robert Kahnweilers Blick lange und hält ihm stand. <br />Ich sehe ihren herausfordernden Blick, der sanfter wird, je länger der Blickkontakt mit dem Richter dauert. <br />Es ist, als ob Robert Kahnweiler Anabelles Situation begreift. Als ob er ihr eine Tür zu einem ganz bestimmten Raum in sich öffnet und sie auffordert einzutreten. Was immer Anabelle ihm nun sagen oder zeigen wird, er ist bereit, es mitzuerleben. <br />– Ich möchte trotzdem nichts von Ihnen.<br />Anabelles Stimme klingt so leise, daß sie kaum zu verstehen ist.<br />Robert Kahnweiler nickt.<br />– Hattest du keine Angst? Man hat mir gesagt, daß unser Junge ziemlich weit draußen war. Du hättest selbst ertrinken können.<br />Anabelle sieht ihn an. <br />Da ist ein Ausdruck von Verwunderung in ihren Augen, der mich heute noch niederschmettert. Es ist offensichtlich, daß Anabelle den Richter nicht versteht. Sie durchschaut nicht gleich, was gemeint ist. <br />Und dann sehe ich, wie sie langsam beginnt zu verstehen.<br />– Sie meinen, ob ich Angst hatte zu sterben?<br />Hier ihr Blick auf Robert Kahnweiler. Dieser besorgte Blick, ob sie ihn richtig verstanden hat. Ob ihre Antwort genügt. <br />Und dann, in ihre Unsicherheit hinein, Robert Kahnweilers erneutes Nicken.<br />– Ihr hättet beide da draußen sterben können.<br />Während ich sehe, wie Anabelle abermals zu Boden blickt, spüre ich ihre Hilflosigkeit, ihre große Verlorenheit, die sich ausbreitet wie ein Fluß, der über das Ufer tritt. Wieder sehe ich sie sich selbst überlassen, mit ihrem durch Drohungen und Gefahren aufgestörten Herzen, unter einem gewaltigen, rotumränderten Himmel, an die Kette ihrer Herkunft gefesselt, zerfressen von der Brandung bizarrer Bewegungen, mit denen man sich ihr einst näherte. Und ich höre ihre Schreie die Nacht zerreißen. <br />– Du hättest sterben können.<br />Anabelle blickt vom Boden auf und sieht Robert Kahnweiler wieder an. Sie hat die Besorgtheit in seiner Stimme gehört. Langsam begreift sie, daß die Sorge des Richters nicht nur seinem Sohn gilt, sondern ebenfalls ihr. <br />Sie kann es nicht nachempfinden. Es leuchtet ihr nicht ein. Sie kann einfach nicht verstehen, daß ihr Tod anderen etwas ausmachen würde.<br />Und dann sagt sie es:<br />– Dann wäre ich eben ertrunken, da ist doch nichts dabei. Das hätte doch niemanden gestört.<br />Hélène Kahnweiler zuckt unter Anabelles Worten zusammen. <br />Auch im Gesicht des Richters kann man erkennen, wie sehr ihn ihre Worte getroffen haben. <br />Ahnt Anabelle, wie bestürzt man über ihre Worte ist. <br />Sie zögert einen Moment. <br />Und dann sagt sie:<br />– Wir gehen kaputt bei dem, was wir tun. Jeden Tag kann man das sehen, überall. Ich habe es auch schon an mir selbst gesehen.<br />Ich sehe sie erneut warten, um die richtigen Worte zu finden.<br />– Der Tod ist doch nichts, man kann doch nicht vor nichts Angst haben.<br />Sie sieht Robert Kahnweiler an. <br />Ganz kurz ist ihr Blick, direkt, ohne jede Einschränkung. <br />– Und obwohl du glaubst, daß der Tod nichts ist und daß nichts dabei ist zu sterben, hast du unseren Jungen gerettet.<br />Ich erinnere mich deutlich an das Beben in seiner Stimme. <br />Dann sehe ich, wie Anabelle ihn anlächelt. <br />Sie legt ihre Hand auf die Hand des Richters, die noch immer auf ihrer Schulter liegt.<br />Und dann sagt sie:<br />– Aber ja, er ist ein Kind und er hatte große Angst.<br />Dann trat Yorck Berliner von hinten an Anabelle heran und legte beide Arme um sie. <br />Anabelle umfaßte seine Hände und küßte sie. <br />Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie dankbar nickte und sich verabschiedete. <br />Kurze Zeit später hörte man Musik aus ihrem Zimmer. <br />Wir gingen hinüber ins große Zimmer. Wir alle schwiegen. Wir schwiegen noch lange. Wir schwiegen wegen ihrer Worte. Wegen dem, was sie bedeuteten. Was sie für Anabelle bedeuteten. Und für uns. Und für die Welt.<br />Das Gewicht ihrer Worte und wie es auf uns lag, ich glaube heute, es war ihr nicht wirklich bewußt geworden.<br />Später, als wir wieder redeten, da, im großen Zimmer, warnte Robert Kahnweiler Yorck Berliner eindringlich davor, weiter mit Anabelle auf diese Weise zusammenzuleben. Hinsichtlich der Phantasie bestimmter Leute könnten die Auswirkungen fatal sein. <br />Der Richter riet ihm, die Beziehung zwischen Anabelle und ihm in einem Adoptionsverfahren von einem Gericht anerkennen zu lassen. Doch als er ihm sagte, daß es durchaus möglich war, daß er und Anabelle getrennt würden, winkte Yorck Berliner ab. Er wollte nichts mehr davon hören. <br />Schon lange davor hatte Yorck Berliner keinen Grund mehr gesehen, nach den Vorstellungen der anderen zu leben. Warum sollte er ausgerechnet jetzt damit anfangen. Überhaupt, warum sollte er nicht mit Anabelle leben, wo doch er es war, der für sie sorgte?</div>
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Ein Mädchen, das wir kennen. So hatte das Thema des Aufsatzes gelautet. <br />Folgendes hatte Anabelle geschrieben:</div>
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Für andere ist das Mädchen jedesmal etwas gewesen, das ihnen gehörte. Jeder von ihnen hat andere Gründe dafür gehabt, weshalb das so war. Doch für das Mädchen änderte das nichts. Auch wenn manche vertrauliche Sätze zu ihm gesagt haben oder nett zu ihm waren. <br />Am Ende der Freundlichkeit haben sie es immer bis in die Knochen aufgeschreckt. Vor allem die Männer. An jedem Tag seines Lebens haben sie ihm weh getan und das Mädchen und sein Leben schmutzig gemacht. <br />Das Mädchen hat keine Worte für das, was sie ihm angetan haben. <br />Früher hat es nach passenden Worten gesucht. Dabei hat es einen starken Schmerz gefühlt. <br />Danach hat es sich entschieden, daß es besser keine geeigneten Worte gibt. Und falls doch, wollte es sie um nichts auf der Welt hören. Und während das Mädchen weitergemacht hat wie zuvor, ist sein Leben schon bald weniger geworden. <br />Eines Tages, als sein Leben beinahe verschwunden war, stand das Mädchen auf der steinernen Mauer am Rande des Meeres. Es hat sehr leise gesprochen und sich gesagt, daß es keine Ende nimmt. Es sagte sich auch manche Dinge, die es sich ansonsten nicht sagte. <br />Danach fühlte es sich wertlos und müde. Und es weinte. Aus und vorbei, hat es sich gesagt, und daß sich ihm jetzt niemand mehr nähern soll. <br />Doch dann ist dieser Mann aufgetaucht. <br />Zuerst hat das Mädchen ihn beobachtet, wie er es aus der Entfernung betrachtete. <br />Während es noch überlegte, ob es ihn kannte, ist der Mann langsam nähergekommen. <br />Als er nahe genug war und das Mädchen ihn besser sehen konnte, stellte es fest, daß es ihn nicht kannte. <br />Der Mann hat es lange schweigend angesehen. <br />Dann hat er zu dem Mädchen gesagt, daß sein Leben nur im Leben enden kann und daß er es nun heimbringen wird. Dabei hat er dem Mädchen seine Hand entgegengestreckt. <br />Vielleicht sind es die Worte des Mannes gewesen. Die Art, wie er gesprochen und es dabei angesehen hat. Denn das Mädchen konnte sich nicht erinnern, daß jemals zuvor irgend jemand auf solche Weise mit ihm gesprochen hatte. Jedenfalls fühlte der Körper des Mädchens sich zum ersten Mal nicht mehr kalt an. <br />Noch bevor das Mädchen den Mann fragte, ob er ihm helfen kann, hat es ihm geglaubt, daß er es heimbringen wird. Es hat ihm geglaubt, bevor es ihm von den Dingen erzählte, die es sich gesagt hatte. Bevor es überhaupt wußte, was es bedeutete, daß sein Körper sich nicht mehr kalt anfühlte. Es reichte dem Mädchen schon aus, daß es spürte, wie sein Körper warm wurde und es innen nicht mehr fror. Und daß es vor allem anderen spürte, daß der Mann bei ihm war. <br />So hat das Mädchen die Hand des Mannes genommen und ist mit ihm gegangen. <br />Seit diesem Tag steht der Mann vor dem Mädchen wie ein großer Baum und wirft seinen Schatten auf es. <br />Der Mann nimmt das Mädchen mit zu sich. <br />Zunächst gibt er ihm ein eigenes Zimmer und richtet es nach den Wünschen des Mädchens ein. <br />Das Mädchen sagt ihm, daß es einen Schlüssel haben will, um sein Zimmer abschließen zu können. <br />Der Mann hat keinen Schlüssel für das Zimmer. <br />Er sagt zu dem Mädchen, daß es in der ganzen Wohnung keine Schlüssel gibt, für keines der Zimmer.<br />Das Mädchen erklärt dem Mann, daß es das schon einmal gehört hat, früher, als es noch ein Kind gewesen ist.<br />Deshalb telefoniert der Mann nach einem Handwerker, der das Schloß in der Tür austauscht.<br />Nun bekommt das Mädchen einen Schlüssel für sein Zimmer.<br />Im Beisein des Mädchen bittet der Mann den Handwerker, ebenso das Schloß an der Tür zum Badezimmer auszutauschen. Als der Handwerker sagt, daß das nicht geht, weil die Tür zu alt ist, fordert der Mann ihn auf, an der Innenseite der Badezimmertür einen soliden Riegel anzubringen.<br />Daraufhin verläßt das Mädchen die Wohnung und geht hinunter zum Strand. Der Mann soll nicht sehen, wie sehr es deswegen weint. <br />Das Mädchen fühlt sich wie aus allen Himmeln gefallen. Noch nie zuvor in seinem Leben hat jemand etwas so Großes für es getan.<br />Danach schließt das Mädchen niemals sein Zimmer ab, obwohl es jetzt einen Schlüssel hat.<br />Als nächstes findet der Mann, daß das Mädchen neue Kleider braucht, einen Rucksack, andere Dinge, die ein junges Mädchen benötigt. <br />Er fragt das Mädchen, was es davon hält.<br />Spontan sagt das Mädchen, daß es einverstanden ist. <br />Dann fällt dem Mädchen ein, daß es gar nicht weiß, was es braucht.<br />Es sagt, daß es dumm ist, weil es nicht versteht, was ein solches Mädchen, das es nie gewesen ist, anzieht.<br />Der Mann sagt zu ihm, daß man nun zu zweit ist in dieser Dummheit, der, nicht zu wissen, was ein Mädchen braucht, und daß es sich deswegen keine Gedanken machen soll. <br />So eine sagenhafte Dummheit, sagen beide gleichzeitig. <br />Und dann lachen sie laut darüber.<br />Danach ruft der Mann, der Schriftsteller ist, seine Verlegerin in Paris an. <br />Er will von ihr wissen, was junge Mädchen heutzutage tragen, in welche Geschäfte man gehen muß. Er fragt nach Alissa.<br />Seine Verlegerin verspricht ihm, Alissa anzurufen. Sie sagt, daß sie sich mit ihm in Verbindung setzen wird. <br />Der Mann sagt zu dem Mädchen, daß Alissa ihnen helfen wird.<br />Das Mädchen will von ihm wissen, wer Alissa ist.<br />Der Mann erklärt dem Mädchen, daß Alissa die Tochter seiner Verlegerin ist, daß sie ein paar Jahre älter ist als das Mädchen.<br />Am selben Abend ruft Alissa den Mann an, um sich mit ihm und dem Mädchen im Verlag zu verabreden.<br />Frühmorgens, am darauffolgenden Tag, treffen sich der Mann und das Mädchen mit Alissa in Paris.<br />Alissa ist freundlich und aufmerksam. Sie weiß, was angesagt ist. Sie ist hilfsbereit und nimmt Rücksicht auf die Unerfahrenheit des Mädchens, was diese Dinge angeht. Alissa sagt dem Mädchen, was gut an ihm aussieht, welche Farben zu ihm passen, was ansprechend ist und was vulgär. Das Mädchen ist erstaunt, was Alissa alles weiß, und daß sie all diese Geschäfte kennt. <br />Als der Mann mit dem Mädchen zurückfährt, ist das Taxi voller Tüten und Schachteln. Das Mädchen könnte platzen vor Entzücken. <br />Irgendwann danach glaubt der Mann, daß es gut für das Mädchen ist, wenn es wieder zur Schule geht. Er spricht mit ihm darüber. Zuerst will das Mädchen nichts davon wissen. Der Mann läßt die Sache auf sich beruhen. <br />Eines Tages hat sich das Mädchen die Sache mit der Schule anders überlegt. So sagt es dem Mann, daß es doch zur Schule gehen wird. <br />Bald fährt das Mädchen jeden Morgen mit dem Zug nach Lisieux, um dort zur Schule zu gehen. <br />Einige Male wartet der Mann vor dem Gebäude der Schule, um das Mädchen abzuholen. Man fragt das Mädchen nach ihm. Außerdem fehlen noch einige Papiere, um es anzumelden.<br />Das Mädchen sagt allen, daß der Mann, der es abholt, sein Onkel ist. Auch, daß seine Eltern kürzlich bei einem Brand ums Leben gekommen sind. Daß es bei seinem Onkel gewesen ist, als es gebrannt hat. Daß alles verbrannt ist.<br />Das Mädchen hält sich an das, was der Mann mit ihm besprochen hat.<br />Man fragt das Mädchen nicht weiter. Niemand hat einen Grund, ihm nicht zu glauben. Außerdem kennen die meisten den Onkel des Mädchens. Sie wissen von den Büchern, die er geschrieben hat. Sie haben in den Zeitungen über ihn gelesen. <br />Auch das Mädchen hat in den Büchern des Mannes gelesen, ebenso einiges von dem, was man über ihn geschrieben hat. Daher vermutet es, alle denken, daß es besser ist, man legt sich nicht mit ihm an. Nicht wegen einiger fehlender Papiere, die jederzeit nachgereicht werden können, wie das Mädchen in einem der Flure die Direktorin zu seiner Klassenlehrerin sagen hört. <br />Ein kluges Mädchen, aber noch weit davon entfernt, eine gute Schülerin zu sein, hört es die Direktorin sagen. <br />An diesem Kind ist etwas Tragisches. Schon wie es sich absondert. Und dann diese Traurigkeit. Wahrscheinlich wegen des unerwarteten Todes ihrer Eltern. <br />Die Direktorin nickt.<br />Man muß bei Gelegenheit mit seinem Onkel sprechen.<br />Die Klassenlehrerin stimmt ihr zu.<br />Hin und wieder findet der Mann das Mädchen zusammengekrümmt auf dem Boden liegen. <br />Dann legt er sich neben es. Er öffnet das Hemd des Mädchens und streichelt es. Er streichelt es hinab bis dorthin, wo sein Schreien anfängt. Bis sich das Mädchen in seinen Händen niederlassen kann. Bis es ihm gelingt, sein Schreien anzuhalten. Bis es vorübergeht. <br />Wenn es vorbei ist, legt der Mann sein Ohr auf die Brust des Mädchens und sagt zu ihm, daß es nicht fortgehen muß, daß es bleiben kann. <br />Er sagt, daß er jetzt mit ihm ist, dort, in seiner unteren Welt. Bevor das Unglück das Mädchen wiederaufnehmen und ihm erneut die Sprache verschlagen kann, wird er es ablenken. <br />Das Mädchen schließt die Augen und nimmt die Hand des Mannes und hält sie fest umklammert. Vielleicht versteht es nicht alles, was er zu ihm sagt, aber es spürt genau, daß dieser Mann anders ist als alle Männer, die es bisher kannte. <br />Das Mädchen sagt sich, er sieht mich, wenn er mich ansieht. Ich kann ihm alles von mir erzählen, ohne daß er erschreckt. Er weicht nie zurück. Und er glaubt mir. Und manchmal, nachts, wenn ich vor lauter Angst aufwache und nicht mehr einschlafen kann, gehe ich zu ihm hinüber. Ich lege mich unter die Decke und drücke mich an ihn und höre zu, wie sein Herz schlägt. Sein Herz, das niemals schlafen kann, weil es für mich wach bleibt, wie er zu mir gesagt hat. Und ich habe ihn nicht gleich verstanden, als er das zu mir sagte. Ich habe gedacht, was redet er da bloß und daß sein Herz schlägt, weil es nicht anders kann. Deswegen habe ich zuerst darüber gelacht. Und plötzlich habe ich ihn verstanden und mußte weinen.<br />Und so rückt das Mädchen noch näher an ihn heran und flüstert dem Mann ins Ohr, daß er allein die Antwort auf all seine Bitten ist. </div>
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Ich erinnere mich daran, daß vor jenem Abend im Mai das Meer wie toll war. Und an den Regen. <br />Es regnete Tag und Nacht. Es hörte gar nicht mehr auf. Die Straßen waren wie leergefegt. Es war unmöglich, das Haus zu verlassen. <br />Vom Fenster aus konnte ich am entfernten Strand zwei Hunde sehen, die dort herumtollten. <br />Der schwere, vom Meer kommende Wind brachte die beiden Tiere zu dicht an den Rand oder sie wagten sich in ihrem Übermut zu nah heran. Und sofort wälzten sich mannshohe Wellen über sie, packten ihre Körper und zogen sie mit hinaus. <br />Nach einer Weile spuckte das Meer sie wieder aus, warf sie mit unvorstellbarer Wucht an den Strand zurück.<br />Dann, in den Tagen danach, als es aufhörte zu regnen und der Nebel verschwand, der den ganzen Himmel bedeckte, erwärmte sich die Luft plötzlich derart, daß von einem verfrühten Sommer gesprochen wurde. Die Cafés ließen ihre Türen geöffnet. Auf ihren Terrassen trafen sich die ersten Leute, um die unerwartete Wärme zu genießen. Nach und nach kamen sie aus ihren Häusern und aus den Hotels. Auf den Straßen, am Strand und in den Cafés, überall waren sie zu sehen. Die Erleichterung darüber, nicht mehr Tag und Nacht miteinander eingesperrt zu sein, diesem Übermaß an Nähe, das sie mehr voneinander entfernt als einander nähergebracht hatte, entkommen zu sein, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie waren glücklich, daß die Regen vorbeigezogen waren, ohne allzu großen Schaden angerichtet zu haben. Und daß das Meer, das nun wieder vor ihnen lag wie ein riesiger hingestreckter Körper, versöhnt war und darauf verzichtet hatte, seine Überlegenheit vollends auszuspielen. <br />Wenn die Leute später davon redeten, von jenem Abend im Mai, als die drei Wagen vor dem grünen Haus anhielten, wurde dieses Ereignis immer mit dem Regen, dem danach unvermittelt hereinbrechenden Sommer und den beiden toten Hunden in Verbindung gebracht.</div>
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– Plötzlich war der Sommer da, von einem zum anderen Tag.<br />– Nach dem großen Regen.<br />– Die Hunde, kann sich noch jemand an die beiden Hunde erinnern? <br />– Ja, wie sie da am Strand lagen, völlig zerfetzt.<br />– Die Kinder hatten noch nie zuvor etwas derartiges gesehen.<br />– Das Meer hat ihnen sämtliche Knochen gebrochen.<br />– Und wie weit aufgerissenen ihre Augen waren.<br />– Man glaubte zu sehen, was sie durchgemacht haben.<br />– Das war die nackte Angst. Und der Schrecken.<br />– Ich habe so etwas noch nie gesehen. Nicht bei einem toten Hund.<br />– Meine Kleine hat nächtelang von den verdammten Augen geträumt.</div>
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– Die Polizisten sind aus den Wagen herausgesprungen.<br />– Zivile und welche in Uniform.<br />– Sie sind sofort in das Haus eingedrungen.<br />– Sie haben die Terrassentür aufgebrochen und sind hineingestürmt. <br />– Sie waren geschickt und schnell.<br />– Einer filmte alles mit einer Videokamera.<br />– So ein Aufwand, ich dachte zuerst an eine Geiselnahme.<br />– Als ob sie gekommen wären, um einen bewaffneten Schwerverbrecher abzuholen.<br />– Die wollten es auf die harte Tour, von Anfang an.<br />– Und irgendwann kamen zwei von denen mit dem Mädchen wieder heraus.<br />– Die Kleine ist halbnackt gewesen.<br />– Die sind in ihren Körper eingebrochen wie kurz vorher in die Wohnung.<br />– Sie waren wie Tiere, ja, große, wildgewordene Tiere.<br />– Die Kleine hat sich gewehrt, und wie.<br />– Die mußten drinnen schon gekämpft haben, so ramponiert wie die beiden aussahen. <br />– Dem einen hat die Nase geblutet, und der andere hatte ein zugeschwollenes Auge.<br />– Dem mit der blutenden Nase hat sie in die Hand gebissen. <br />– Und dann, als er sie kurz losließ, um seine Hand aus ihrem Mund zu befreien, hat sie ihm mit voller Wucht ihr Knie zwischen die Beine gestoßen.<br />– Der klappte zusammen wie ein Taschenmesser, er quiekte wie ein Schwein, als er zu Boden ging.<br />– Dann konnte der andere sie allein nicht mehr halten, er stolperte und fiel hin.<br />– Und dann saß sie schon auf seiner Brust. <br />– Sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt und fest aneinadergepreßt und damit in sein Gesicht gehämmert.<br />– Die Kleine hatte Übung, das merkte man sofort, die hat nicht zum ersten Mal um ihr Leben gekämpft.<br />– Hat diese uniformierte Kanaille zwei Vorderzähne gekostet, recht so.<br />– Was für eine Kraft.<br />– Wie verzweifelt muß sie gewesen sein.<br />– Danach sind die anderen gekommen und haben mit ihren Stöcken auf sie eingeprügelt.</div>
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– Sie waren verrückt vor Wut.<br />– Ich habe gerufen: Das könnt ihr nicht machen, das ist ein Kind. <br />– Sofort kamen zwei von ihnen angelaufen und drohten meinem Mann mit ihren Knüppeln.<br />– Die Kleine blieb am Boden liegen, sie hat sich nicht mehr gerührt. <br />– An der Stirn hatte sie eine Platzwunde.<br />– Und sie blutete aus dem Ohr.<br />– Anschließend hoben sie sie auf und warfen sie hinten in den Wagen.<br />– Wie einen Sack Kartoffeln.<br />– Davor war da noch der Arzt bei ihr, er stieß ihr eine Spritze in den Oberschenkel, nachdem die Polizisten sie niedergezwungen hatten.<br />– Sie haben an alles gedacht.<br />– Die Frau, die dabei war, lief nervös mit ihren Papieren herum und rauchte eine Zigarette nach der anderen.<br />– Die war vom Jugendamt.<br />– Ich habe gehört, wie der Arzt zu ihr sagte, daß man das Mädchen nach St. Claire bringen wird.</div>
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Ein alter Mann sagte folgendes:<br />– Das war eine Deportation. <br />Und dann spuckte er auf den Boden.<br />– Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die für dich da sind, wenn du sie brauchst. Wenn du sie brauchst, schlagen sie mit ihren Knüppeln gerade auf ein wehrloses Kind ein.<br />Und dann spuckte er ein weiteres Mal aus. Diesmal voller Verachtung. <br />– Obwohl wir die deutschen Nazis damals weggejagt haben, hören sie nicht auf, da zu sein. Die haben uns ihr verdammtes Gift dagelassen und es frißt uns auf. <br />Er fluchte.<br />– Du mußt das Nazigift in dir drin haben, um so was mit einem Kind zu machen.</div>
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Die Jungen, die zum Terrassenfenster hineingeschaut hatten, erzählten, wie die Polizisten im Inneren der Wohnung auf Yorck Berliner losgegangen waren.<br />– Die haben es ihm richtig gegeben.<br />– Er und Anabelle wollten sich gegenseitig helfen, aber die hielten sie fest.<br />– Dann konnte Anabelle sich losmachen.<br />– Sie ist wie eine Wahnsinnige auf die losgegangen.<br />– Hat ihr bloß nicht viel genutzt, nicht bei der Übermacht.<br />– Und wie die Polizisten ihn verdroschen haben.<br />– Dabei hat er sich nicht einmal gewehrt.<br />– Erst als sie Anabelle wegschleppten, als sie nach ihm rief, da ist er durchgedreht.<br />– Aber er hatte keine Chance.<br />– Zuletzt lag er auf seinem Bett, zwei Polizisten saßen auf seinen Armen und seiner Brust, zwei andere auf seinen Beinen. </div>
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Ein älterer Junge mit blauen Augen und schwarzem Haar, ein Eingewanderter, der abseits von den anderen Jungen stand, sagte dies zu mir:<br />– Ich kenne die. Ich weiß, was sie dir antun können. Zuerst greifen sie dich an. Und dann, nach einer Weile, fühlst du dich schwach. Und dann bemerkst du, wie dein Wille zerreißt. Und noch während du bemerkst, daß dein Wille zerreißt, ist er bereits zerrissen. Und dann ist dein Körper nicht mehr dein Körper. <br />Ich erinnere mich, daß er seinen Sweater nach oben zog. Auch, daß man eine Anzahl von tief in die Haut gehenden Narben sehen konnte, auf dem Rücken und auf der Brust.<br />– Wenn sie dich so weit haben, ist deine Schwäche wie eine Tür, die sich ständig vor dir öffnet, ohne sich wieder schließen zu können, und sie können alles mit dir machen.<br />Er bedeckte seine Narben wieder und blickte eine Weile schweigend zu Boden.<br />Und dann sagte er:<br />– Sie haben mit ihm dasselbe gemacht wie mit Anabelle. Sie machen das mit allen. Sie machen das, weil sie das können.</div>
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Und dann wieder die anderen Jungen, die sich nun um den Jungen mit den blauen Augen und dem schwarzen Haar herum aufstellten, nachdem sie seine Narben gesehen hatten: <br />– Erst als der Wagen mit Anabelle abgefahren war und ein Ziviler in das Innere des Hauses ging und den anderen ein Zeichen gab, ließen sie ihn los.<br />– Vorher schlug der Zivile ihm noch ins Gesicht, mehrere Male, mit beiden Fäusten. Er sagte: Du wirst jetzt schön hier liegenbleiben, du elender Kinderficker. Du bleibst jetzt hier, bis wir dich holen. Und dann schlug er ihm immer wieder ins Gesicht.<br />– Während die anderen ihn festhielten.<br />Ein marokkanischer Junge sagte:<br />– Das war so kraß, was die mit ihm gemacht haben. Und das haben die mit einem Weißen gemacht. Mit einem von ihren Leuten.<br />– Diese miesen Bullenschweine.<br />Die Stimme des Jungen mit den blauen Augen und dem schwarzen Haar klang leise, sie war kaum zu hören. <br />Erst als die anderen Jungen zustimmend nickten, wiederholte er es mit lauter Stimme.<br />– Diese miesen Bullenschweine.</div>
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– Dieser Mann, Yorck Berliner, er stürmte nach draußen und rief nach dem Mädchen. Er rief ihren Namen, andauernd: Anabelle, Anabelle. Er schrie. Er weinte. Er war außer sich.<br />Es war die Studentin aus Rouen, die das sagte.<br />– Die Polizisten waren von seinem Auftauchen überrascht, sie wußten zuerst nicht, wie sie sich verhalten sollten. <br />Ihre Stimme bebte geradezu, als sie weitersprach.<br />– Nachdem das Mädchen nicht antwortete, wiederholte er seinen Ruf. <br />Sie schwieg einen Moment.<br />– Ich werde seine Stimme bis ans Ende meines Lebens nicht mehr vergessen. <br />Um sich wegen der Erinnerung an seine Stimme am Weinen zu hindern, wandte sich die Studentin aus Rouen jäh ab und schaute in den Himmel über dem Meer.<br />– Und dann das Blut, überall sein Blut, es tropfte aus seinem Gesicht überall hin. <br />Die Studentin aus Rouen schaute weiter lange in den Himmel. <br />Sie wirkte in diesen Augenblicken wie eingeschlossen in jener hoffnungslosen Geste des Zurückbehaltens ihrer Gefühle, die ich jetzt beim Schreiben wiedersehe.<br />– Und als dann keine Antwort kam, warf er sich ohne zu überlegen auf einige von denen, die noch in der Nähe der Tür standen, und ging mit ihnen zu Boden.<br />Dann kehrte die Studentin aus Rouen ihre Blicke vom Himmel ab, um mich anzusehen. <br />– Er kniete über einem von ihnen und verabreichte ihm in rascher Abfolge mehrere Fausthiebe ins Gesicht. Ich sah, wie die Haut des Polizisten aufplatzte.<br />Erst jetzt, wo ich ein weiteres Mal darüber schreibe, fällt mir auf, wie schwer es der Studentin fiel, überhaupt davon zu sprechen, über diese Gewalt, die sie miterlebt hatte.<br />– Die anderen brauchten einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen. <br />An dieser Stelle erkenne ich jetzt deutlich ihren Widerstand. <br />Sie wollte nicht weitersprechen. <br />Doch dann überwog ihr Wunsch, darüber zu sprechen.<br />– Sie standen auf und griffen nach ihren Knüppeln. Auch die anderen, die herangeeilt kamen, holten ihre Knüppel hervor. Und auch er richtete sich blitzartig auf. Er nahm den Knüppel des verletzten Polizisten an sich und drohte ihnen damit.<br />Ich frage mich, weshalb ich, als ich zuerst darüber schrieb, übersehen habe, wie bestürzt sie über die Gewalt war, die sie miterlebt hatte, wo es doch offensichtlich ist.<br />– Er schrie, so habe ich noch nie zuvor einen Menschen schreien hören.<br />Die Studentin preßte ihre Hände ineinander.<br />– Dann, plötzlich, hörte er auf, sich zu bewegen. <br />Sie schaute dorthin, auf jene Stelle am Strand, wo es passiert war.<br />– Wie irgendwo zurückgeblieben, legte er den Knüppel auf den Boden. Dann hob er beide Arme, bis seine Handflächen auf die Uniformierten deuteten. Er gab auf, tief in sich drin gab er auf. Die anderen verstanden das sofort. <br />Die Studentin aus Rouen war im Nachhinein noch darüber erstaunt.<br />Ein langen Moment, als könnte sie auf diese Weise etwas von dem Geschehenen rückgängig machen, deutete sie auf die Stelle, an der das alles geschehen war, unmittelbar vor dem grünen Haus.<br />– Während sie ihre Knüppel sinken ließen und betreten zu Boden blickten, ging er zurück ins Haus. Abends holten sie ihn dann ab, um ihn zu verhören.</div>
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– Er hat nichts mit Anabelle gemacht, was sie nicht wollte.<br />Die anderen Jungen bestätigten, was dieser Junge sagte.<br />– Einmal waren sie beide abends draußen.<br />Der Junge deutete auf Yorck Berliners Wohnung, auf die zum Meer hin offene Terrasse.<br />– Sie hörten Musik und lachten und er lackierte ihr die Finger- und Fußnägel und dann lackierte sie seine Nägel.<br />– Sie hatten viel Spaß an dem Abend.<br />– Er hat sich um Anabelle gekümmert.<br />– Nachdem sie bei ihm lebte, ging sie sogar wieder regelmäßig in die Schule. Wir sahen sie immer auf dem Schulhof.<br />– Sie gehörte irgendwie nicht dazu.<br />– Aber es schien ihr nichts auszumachen.<br />– In den Pausen saß sie draußen auf dem Schulhof oder in einem der Gänge. Meistens hat sie gelesen.<br />– Als ob sie es gewohnt war, allein zu sein.<br />– Und wenn man sie ansprach, hörte sie einem zu. Und manchmal sagte sie etwas.<br />– Sie gefiel uns allen, sie war was Besonderes. <br />– Ein Klassemädchen.<br />– Wir waren auch ein bißchen verliebt in sie.</div>
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– Keiner hier kann sagen, woher sie kam, wie lange sie am Strand gelebt hat, oder wo sie war, wenn sie nicht hier war. Wir haben sie oft gesehen.<br />Der Mann, der das sagte, sah seine Frau fragend an.<br />– Ihre Schönheit und dann dieses Leben am Strand, wie eine Obdachlose, ich konnte das nie zusammenbringen. Und sie war offenbar klug, sie las Bücher. Ich habe sie nie ohne ein Buch gesehen.<br />Die Frau überlegte.<br />– Dieser Schriftsteller wußte, was er tat, als er sie mit zu sich nahm. Er war der einzige, der wußte, was zu tun war. Ich glaube nichts von dem, was man über ihn gesagt hat.<br />Und dann sagte der Mann dies:<br />– Für das Mädchen war es das größte Glück ihres Lebens, daß sie ihm begegnete. <br />Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau.<br />– Ich sprach einmal mit ihr, als sie schon bei ihm wohnte.<br />Seine Frau blickte ihn überrascht an.<br />– Du hast mit ihr gesprochen?<br />Der Mann erinnerte sich. Und dann gab er wieder, was Anabelle zu ihm gesagt hatte:<br />– Früher hat man mir die Haut heruntergerissen. Ich mußte alles tun, um ein bißchen geliebt zu werden. Das ist jetzt vorbei. Ich glaube, ich bin gerade zum ersten Mal glücklich.<br />Jäh preßte der Mann beide Hände vor sein Gesicht, um eine plötzliche Erschütterung zu verbergen.<br />– Da war ein solches Vertrauen. Manchmal, wenn sie seine Hand nahm, konnte man es bemerken.</div>
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Ich weiß heute, daß Anabelle sich mehrere Tage in Lyon aufhielt. Sie wurde in den ersten Septembertagen dort gesehen. <br />Genauer gesagt, war sie beim Diebstahl von Zigaretten und Lebensmitteln in der Abteilung eines Kaufhauses von einer Kamera erfaßt worden. Doch offenbar hatte sie die beiden Detektive, die sie durch die Stockwerke verfolgten, rechtzeitig bemerkt und konnte ihnen entkommen. <br />Falls sie vorhatte, nach Trouville zu fahren, hätte sie von Lyon aus den Zug nehmen können. Wäre sie gleich morgens gefahren, hätte sie am frühen Nachmittag in Trouville sein können. <br />Aber ich glaube nicht, daß sie den Zug genommen hätte. Mit dem Zug hätte sie über Paris fahren müssen. Sie hätte nach ihrer Ankunft am Gare de l’Est oder Gare du Nord den Bahnhof wechseln und von St. Lazare aus weiterfahren müssen. Wahrscheinlich hätte sie dort einen Aufenthalt gehabt. Und ich weiß, daß man sie auf dem Bahnhof St. Lazare einmal zusammengeschlagen hat. <br />Nein, ich denke, sie wäre per Anhalter gereist, wie früher schon. Höchstwahrscheinlich hätte sich jemand gefunden, der sie mitnahm. Von einer der Raststätten aus, bei Lyon. Vielleicht ein älteres Ehepaar, auf dem Weg an die Küste. Oder eine Familie mit Kindern. <br />Anabelle hätte sich auf einer Raststätte zuerst mit den Kindern angefreundet und die Kinder hätten anschließend ihre Eltern gedrängt, sie mitzunehmen. Sie hat mir einmal erzählt, daß es so am einfachsten sei, ohne belästigt zu werden: ein älteres Ehepaar oder eine Familie mit Kindern. <br />Doch weshalb Quimperle? Gab es dort jemanden, den sie kannte? Oder wollte sie nur so schnell wie möglich aus Lyon verschwinden und war irgendwo mitgefahren und schließlich in Quimperle gelandet? Hat sie damit gerechnet, in Quimperle jemanden zu finden, der sie nach Trouville mitnehmen würde?<br />Obwohl sie diesen Brief geschrieben hat, denke ich immer noch, er wäre ohne Bedeutung geblieben, wenn es ihr gelungen wäre, nach Trouville zurückzukehren. Denkbar wäre, daß sie Yorck Berliner von diesem Brief erzählt oder ihn ihm vorgelesen hätte. Oder der Brief wäre zufällig von ihm entdeckt worden, vielleicht wenn er nach ihrer Rückkehr ihren Rucksack ausgepackt hätte. <br />Schon die Tatsache seiner Existenz hätte ihn tief bestürzt. Er hätte ihre ganze Liebe darin gesehen und zu ihr gesagt, daß es völlig ausgeschlossen sei, mit soviel Liebe in sich sein Leben wegzuwerfen wie eine alte Büchse und diese Liebe zu verraten.<br />Komm, laß uns die Platte von Audrey Hepburn auflegen und miteinander tanzen, hätte er zu ihr gesagt. <br />Anschließend hätte man sehen können, wie er sich ihr genähert hätte, aufmerksam, als glaubte er, daß auch nur eine einzige falsche Bewegung von ihm sie unwiderruflich zerstören könnte. <br />Man hätte gesehen, wie sie bei seinem Näherkommen ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihn lange angesehen hätte. Er hätte sie liebevoll umfaßt und zärtlich über ihren Rücken gestrichen, eine Geste, die von ihr erwidert worden wäre. <br />Wie oft zuvor in ihrem letzten gemeinsamen Sommer hätte man sie auf der Terrasse tanzen sehen können. Und aus der Wohnung hätte man die Stimme von Audrey Hepburn gehört: Moon River, wider than a mile/ I'm crossing you in style some day…</div>
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<br />Auszug: Lisa, Elisa, Anabelle<br />© RW; 2008, BoD<br />ISBN: 978-3837015065</div>
Vizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-15731727640909985392012-08-26T10:12:00.001-07:002012-08-26T10:12:11.866-07:00Lucia oder die Liebe II.<div style="text-align: justify;">
<br />Einmal, als ich jung war, kannte ich ein Mädchen mit langen braunen Haaren. Sie hatte einen Körper, den man als traumhaft bezeichnen konnte. Sie fühlte sich wohl in ihrem Körper und konnte sich gut mit ihm bewegen. Die Männer drehten sich nach ihr um und schauten sie an und warfen ihr bewundernde Blicke zu. Ich glaube, es war damals etwas Besonderes für mich, wenn ich mit ihr unterwegs war. Ich war gerne in ihrer Nähe. Umgekehrt war es genauso. Auf eine flüchtige Art, die ich heute nicht mehr verstehe, gefielen wir uns oder hatten Lust aneinander. Ich weiß es nicht mehr. Es war eine Beziehung ohne gegenseitige Verpflichtung. Wir unternahmen viel zusammen, gingen essen, tanzen, ins Kino, fuhren gemeinsam in die Ferien oder trafen uns mit anderen. Sicherlich hätte ich mich leicht aus dem Staub machen können, als sie Krebs bekam. Doch ich bin geblieben. Merkwürdigerweise hatte ich keine Angst vor dem Krebs. Auch nicht die vielen Male, als ich bei ihr im Hospital war und sah, was der Krebs mit ihr machte. An manchen Tagen tat es weh, sie anzuschauen, so schön war sie. Und es gab andere Tage, da tat es weh, sie anzuschauen, weil ich den Krebs beobachtete und was er mit ihrem Körper machte. Das sagte ich ihr nie, aber mir war klar, sie wußte, daß es so war. Ich ermunterte sie, nicht aufzugeben und weiterzumachen, so gut ich es damals eben vermochte. Wir blieben irgendwie zusammen, ohne weiter darüber zu reden, zunächst in ihrer Wohnung, später in meiner. Wohl wegen der langen, bis auf den Boden reichenden Fenster. Weil sie es schön fand, wenn die Sonne schien und sie stundenlang auf den breiten blauen Kissen liegen und hinausschauen konnte auf den Spielplatz. Auch wegen der großen runden Badewanne und weil man im Badezimmer Musik hören und fernsehen konnte. Wegen des geräumigen Balkons, von dem aus man in einen Park schauen konnte, auf das Licht und wie es sich den ganzen Tag über veränderte. Und dann noch wegen einiger praktischer Dinge, etwa, weil meine Wohnung sehr viel näher am Hospital lag, oder weil ich eine Putzfrau hatte und es jemanden gab, der einkaufte und die Wäsche machte. Weil es vieles einfacher machte und es bequemer war, bei mir zu sein als bei ihr. Weil wir in meiner Wohnung das erste Mal miteinander geschlafen hatten, ein paar Wochen nach ihrer Brustamputation. Und zuletzt noch wegen dieser bunten Stehlampe, die gerade soviel Licht spendete, daß es ihr möglich war, sich mir nackt zu zeigen, mit ihrer Wunde. </div>
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Mit einer Frau zu schlafen, die nur eine Brust hatte, ich weiß nicht mehr, ob ich mir damals überhaupt Gedanken darüber machte. Wie sie auch, war ich möglicherweise zu jung, um darüber nachzudenken. Ich erinnere mich nicht daran, Ekel empfunden zu haben oder Angst. Nur eine Mischung aus Scheu, Zögern und Ergriffenheit, wie ich sie oft empfinde angesichts der Zartheit, Wärme und Anmut eines nackten weiblichen Körpers neben mir oder wenn ich mit einer Frau schlafe. Den Körper einer Frau auf diese Weise zu berühren, auch wenn er verstümmelt ist, hat für mich etwas, das ich mit Worten nur schwer ausdrücken kann. Es ist über alle Maßen hinaus ergreifend. Als würde ich mich dafür bedanken, etwas berühren zu dürfen, das so schön ist wie eine Frau, wenn ich sie berühre oder von ihr berührt werde. Fast immer, wenn eine Frau mich berührt, kommt es mir so vor, als ob jemand von außen seine Hand auf mich und diese schrecklichen Geschichten legt, die tief in mir verborgen sind. Es gibt dann nicht mehr nur die Geschichten. Plötzlich gibt es noch diese Hand. Und schon ist alles anders. Ich bin ein anderer. Natürlich sind die Geschichten in mir noch da, aber nun mit einer Hand auf ihnen. Wenn ich mit einer Frau zusammen bin, egal auf welche Weise, ob mit guten Freundinnen beim Frühstück, Abendessen oder sonstwo oder mit einer Geliebten im Bett, versuche ich jedesmal, ihr etwas von dem zurückzugeben. Dann lege ich meine Hand auf die Geschichten, die ich in ihnen spüre. Ich freue mich, wenn ich bemerke, wie alles anders wird, daß die eine oder andere Geschichte ihre böse Macht verliert. <br />Jedenfalls wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Sie zu verstoßen, sie schutzlos an ihre Krankheit auszuliefern, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern, von denen ich erfahren habe, daß sie eine kranke, brustamputierte Frau an ihrer Seite nicht ertragen und sie aus genau diesem Grund verlassen, mußte ich gar nicht erst darüber nachdenken. Es geschah einfach. Wir blieben zusammen, es war die natürlichste Sache der Welt. Sie war da und der Krebs war da, und ich war da, weil sie da war. Was fehlte, das waren ihre linke Brust und die Jahreszeiten, viele davon, die Aussicht, ein bißchen zu leben, ich meine, Spaß zu haben und Freude zu empfinden, ein paar Dinge in diesem Leben zu erfahren und sie wieder loszuwerden, und das eine oder andere in sich zu bewahren, trotz des Krebses und anderer Gegenkräfte. </div>
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Sie ist im Jahr darauf gestorben. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Ich war dabei, als es zu Ende ging, es dauerte acht Monate. Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Ich sehe, wie ich auf ihrem Bett sitze und ihre Füße massiere. Ich halte ihre Hand, und sie bedankt sich, und sie sagt, daß ich das alles nicht hätte mit ihr durchmachen müssen und daß sie mich liebt, und wir küssen uns, als ob der Tod uns egal ist, als ob es gleich wieder von vorne anfängt, das Leben, mit all den wunderbaren und tragischen Dingen, die dazugehören. Ich glaube, da ist noch mehr, aber ich kann es im Moment nicht sehen. Allerdings, an einem Morgen, ich weiß es noch genau, es war im Dezember, kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag, ist sie gestorben. Ich hatte nie das Gefühl, daß ich, wie sie glaubte, etwas mit ihr durchgemacht habe, was mich heute nicht verwundert. Ich war gerade meiner Kindheit entronnen, ich hatte sie überlebt, wie andere vor mir die Lager. Deshalb waren die Dinge für mich womöglich anders. Ich hatte ihr nicht gesagt, daß ich sie liebte. Ich habe niemals so etwas gesagt, weder damals, noch später irgendwann. Ich wußte lange nicht, wie es war, jemanden zu lieben, wie sich das anfühlte, wie ich es in mir spüren konnte. Zum ersten Mal habe ich es zu dir gesagt, da war ich fünfundvierzig. Obwohl ich heute sicher bin, daß es ihr klar war, im Gegensatz zu mir. Ich wußte damals nicht, daß es so war. Ich bin bei ihr gewesen, die ganze Zeit, auch als sie bestrahlt wurde, und später, als sie die Chemotherapien bekam. Ich habe sie gewaschen, für sie gekocht, ihr die Khakifrüchte und Mangos geschält und in kleine Stücke geschnitten, und noch später, als sie nicht mehr kauen konnte, habe ich ihr die Früchte mit einem Mixstab püriert und sie mit einem kleinen Löffel gefüttert. Manchmal, wenn sie in der Nacht aufwachte und vor Angst schrie wie ein Tier, das man angefahren und am Straßenrand liegengelassen hatte, legte ich meine Hand auf ihren Bauch und atmete mit ihr, bis sie ruhiger wurde. Ich umarmte sie stundenlang, wenn sie sich frustriert fühlte und verbittert und zornig war, weil sie so jung war und Krebs hatte und einen verstümmelten Körper und keine Haare mehr. Wenn wir zusammen schliefen, fühlte sie ihren Körper oft, als wäre er weit weg von ihr, und dann streckte ich meine Hand nach ihm aus und holte ihn langsam für sie zurück. Ich glaube, es ist damals so gewesen, daß ich ahnte, wie ich ihren Körper berühren mußte, welche Worte ich sagen mußte, damit sie zu ihm zurückkehren konnte, damit sie zu ihm zurückwollte. Damit sie ihn wieder schön finden konnte, mußte zuerst ich ihn schön finden. Ich streichelte und küßte ihren nackten Schädel und die Narben der Amputation zärtlich und liebevoll und leidenschaftlich, so als wären da noch ihre langen braunen Haare oder ihre zweite prächtige Brust. Ich fand Worte für das fehlende Haar, für die fehlende Brust, Worte, die nicht ersetzten, was fehlte, die nichts beglichen oder erneuerten und die dennoch etwas ausfüllten, von dem ich bis heute nicht sagen, was es war. Zuweilen war sie bestürzt und weinte, vor allem, wenn wir uns tagsüber liebten, ohne den Schutz der Dunkelheit oder das gedämpfte Licht der bunten Stehlampe. Doch meistens freute sie sich, daß sie wieder in ihren Körper zurückgefunden hatte. Manchmal sagte sie: Mein Körper ist häßlich, und er tut mir weh, aber es ist meiner. Und deine Worte und wie du ihn dabei anschaust und anfaßt machen ihn jedes Mal wieder schön für mich. </div>
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Obwohl ich weder Englisch verstand, noch singen konnte, lernte ich ein Lied von ihrer Lieblingsgruppe, den Scorpions, auswendig und sang es für sie an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, den sie im Hospital verbrachte. Ich denke, ich wollte sie glücklich machen und mit ihr glücklich sein. Für mich war das viel, wie ich heute weiß. Ich wollte ihren Mund küssen und ihren Körper streicheln, dieser Körper, der schön war und anmutig und so voller Metastasen, daß sie schließlich kaum noch atmen konnte. Sie hatte entweder Schmerzen oder wegen der Schmerzmittel Halluzinationen. Wenn sie Schmerzen hatte, weinte oder schrie sie, ohne damit aufhören zu können. Hatte sie Halluzinationen, sah sie ein Kind mit zwei Köpfen, das sich ein Brot mit Butter und Orangenmarmelade bestrich. Sie sah kleine runde Tiere, deren Fell rot war, und einen Mann und eine Frau, die aussahen wie Fred Astaire und Ginger Rogers und auf dem Meer tanzten. Sie sah Katzen, die mit schwarzen und blauen langstieligen Rosen zu einer Beerdigung kamen, und einen Grabstein aus Glas, der ihren Namen trug. Sehr oft weinte sie still vor sich hin, weil sie dreiundzwanzig war und bald sterben mußte. Doch an dem Morgen, als ich das Lied von den Scorpions sang, freute sie sich. Sie lachte, daß man es bis im Flur hören konnte. </div>
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Wie seltsam, daß ich erst heute spüren kann, was es ihr bedeutet haben muß, daß ich auf diese Weise für sie da war. Daß ich sie geliebt habe. <br />Doch dann denke ich an den Jungen mit den blauen Augen und dem blonden Haar. Ich denke an diesen Jungen, der ich war, daran, wie er die Liebe erfahren hat. Ich denke an ihn, bis ich ihn in meiner Nähe spüre. Ich streiche über seinen Rücken. Er zittert, er sagt leise zu mir: Weißt du, es tut verdammt weh, ich weine in meinem Rücken. <br />Schon bald sehe ich, daß dieser Junge die Liebe mit einem schwarzen Gummiknüppel erfahren hat, auf dem Fußboden in der Küche. Ich sehe sein Blut auf den schwarzweiß gemusterten Steinen, seine blauen Augen, die weit aufgerissen sind, sein blondes, verschwitztes Haar. Ich spüre seine Angst, sein Zittern und einen solchen Schmerz, daß ich fast ohnmächtig werde. Vor allem bin ich überrascht, daß er kein einziges Mal schreit oder weint. Auch nicht, als er in vielen Nächten im Kinderzimmer vor seinem Vater kniet, dessen Penis in seinem Mund. Er hat tatsächlich nie geweint, dieser Junge. Er hat nicht geschrien, kein einziges Mal. Nur manchmal hat er seinen Körper verlassen. Dann beobachtete er von der roten Deckenlampe in der Küche aus, wie sein Vater Dinge mit seinem Körper tat und bestimmte Worte sagte, die ihm wehtaten und falsch vorkamen. Ich erinnere mich, wie er aufhörte zu sprechen und jahrelang stotterte. Daran, daß alle ihn deswegen auslachten, und daß keiner sah, was der Gummiknüppel mit ihm machte, oder die Narben, die er auf dem zerbrechlichen Körper hinterließ, und wie sein kleines Herz von ihm zugerichtet wurde. Keiner sah den Penis, wie er in seinem Mund steckte, nicht nur in den Nächten, wenn sein Vater bei ihm war, sondern die ganze Zeit über, auch als er längst kein Junge mehr war. Und jene, die es wußten, wie seine Mutter, schwiegen darüber. Und dann ist es noch so, daß ich das alles jedes Mal ein wenig mehr spüre. Daß es nach wie vor schwer für mich ist, darüber zu reden. Es ist nämlich so, daß der Schmerz, der entstünde, wenn ich darüber redete, langsam auf meine Freunde und dann auf die ganze Welt übergreifen würde, bis man darüber weinte und weinte und weinte, ohne jemals wieder damit aufhören zu können. </div>
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Sie hieß übrigens Judith, Judith Olivier, das war ihr Name. Gerade erinnere ich mich an ihren Duft, an ihre Hände auf meinem Körper und in meinem Gesicht. Ich sehe uns in diesem großen Zimmer, wo wir auf den blauen Kissen aufs Sterben warteten, auf den Tod. Man kann es ruhig aussprechen, daß wir auf das Ende ihres Körpers warteten, und daß wir nicht wirklich darauf vorbereitet waren. Jetzt fällt mir auch wieder ein, wie sie Nächte hindurch redete, über Dinge, die sie tun wollte, daß sie Pläne für ihr Leben machte, bis zum Schluß. Wie sie Nacht für Nacht ihren Tod verschob, mindestens bis zum nächsten Morgen, wo sie aufwachte und so gerührt darüber war, noch am Leben zu sein und mich zu sehen, daß sie weinen mußte. Ich erinnere mich, wie sie mich jede Nacht, bevor sie einschlief, anschaute und sagte: Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Daran, wie ich mich in der Nacht vor ihrem Tod zu ihr legte, daß wir sangen, sie mit schwacher, kaum wahrnehmbarer Stimme, und ich so falsch wie eh und je, daß sie sagte: Ich habe nie jemanden so schlecht singen hören wie dich. Und: Du bist erste Mann und der letzte Mann. Niemand hat mich so berührt wie du. Schlaf gut, bis morgen. Ich sehe, wie ich mein Ohr an ihre Lippen lege, um besser verstehen können, was sie sagt, um noch einmal zu hören, wie sie sagt: Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Ich weiß nicht, daß sie es nach dieser Nacht nie mehr sagen wird, ich weiß erst hinterher, daß sie es da zum letzten Mal gesagt hat. Ich spüre ihren Atem an meinem Ohr, nachdem sie eingeschlafen ist, erinnere mich an das Gefühl von damals, als ich neben ihr lag, wie glücklich ich war, daß sie einfach nur atmete, daß ich da sein und ihr dabei zuhören konnte, ich weiß nicht wie lange, ich hatte noch ihre Worte im Ohr: Du bist erste Mann und der letzte Mann. Niemand hat mich so berührt wie du. Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Ihre Worte, ich hörte sie wie den Refrain irgendeines Liedes, da war der Vollmond, sein Licht drang durch die großen Fenster, vermutlich bin ich eingeschlafen. Am nächsten Morgen halte ich ihre Hand, ich höre sie nicht mehr atmen, ich erkenne zuerst nicht, was es bedeutet, bis der Notarzt kommt und den Tod ihres Körpers feststellt, auch dann kann ich es nicht gleich begreifen, ich begreife nicht, daß ihr Leben nicht mehr voller Zukunft ist, daß mein Leben mit ihr vorbei ist. Sie erscheint mir noch lebendig, wie sie da liegt, auf den blauen Kissen, als würde sie schlafen, ein krankes Mädchen, das sehr müde ist, ich höre mich wieder, wie ich zu dem Arzt sage: Ich denke, sie schläft. Sie ist entsetzlich müde. Wissen Sie, wie sie gekämpft hat, wie tapfer sie war. Sie atmet anders, man sieht es kaum. Wenn jemand so kämpft und so tapfer ist wie sie, da ist der Atem anders. Man sieht nicht, daß sie atmet. Geben Sie ihr etwas, damit sie kräftiger atmen kann, damit sie aufwacht. Ich verstehe nicht, weshalb der Arzt den Kopf schüttelt, warum die Männer der Gerichtsmedizin sie mitnehmen wollen, ich will sie bei mir behalten, ich sage: Ich will nicht, daß Sie das tun. Sie wird wieder aufwachen. Warten Sie es nur ab. Sie wird heute Abend über die Dinge reden, die sie noch tun will. Sie wird mit mir singen und mir anschließend sagen, daß ich nicht singen kann. Ich werde ihren Atem an meinem Ohr spüren. Sie müssen ihr nur endlich etwas geben, damit sie wieder aufwacht. Ich erzähle von den letzten Wochen, wie zuversichtlich sie war, von ihren Plänen, welche Musik wir gehört, was wir uns im Fernsehen angesehen, was wir gegessen, über was wir geredet, worüber wir gelacht und geweint haben. Ich erzähle alles dreimal, ich knie mich neben sie, ich nehme ihre Hand, ich sage: Mache schon die Augen auf. Du mußt die Augen öffnen. Wenn du die Augen nicht aufmachst, werden sie dich mitnehmen. Ich rede mit ihr, bis der Arzt hinter mich tritt, er legt seine Arme um mich, er zieht mich langsam zurück, er sagt, daß sie tot ist, man muß ihren Körper mitnehmen, man kann ihn nicht hier lassen, es geht nicht. Die Männer heben ihren Körper ruckartig von den Kissen, sie packen ihn langsam in eine Metallwanne. Ich sitze auf dem Boden und halte den einäugigen Stoffbären in den Händen, ich umklammere ihn, ich glaube, er hieß Frankie, ich erinnere mich an die Lederklappe, die sein fehlendes Auge bedeckte. Ich sehe den Männern zu, zum letzten Mal sehe ich ihren Körper, er sieht ausgezehrt aus, völlig entkräftet, mir fällt erst da auf, wie winzig er geworden ist, er wiegt noch achtunddreißig Kilo, wie ich später erfahre. Es ist also wahr, ich glaube es jetzt, die Männer schließen ihren Körper ein, sie tragen ihn durch das Treppenhaus drei Stockwerke nach unten, ich bleibe zurück, ich stehe oben am Fenster, während unten der Wagen losfährt, in dem ihr Körper liegt, ich höre ihre Stimme, wie sie zu mir sagt: Durch den Krebs ist mein Körper anders geworden und ich bin durch dich zu jemand anderem geworden. Es ist der 29. Dezember, in zwei Tagen habe ich Geburtstag, ich werde zwanzig Jahre alt, ich liege auf den blauen Kissen, ich blicke aus den Fenstern auf den Spielplatz, ich halte den Stoffbären, ja, er hieß Frankie, sie hatte ihn, seit sie vier oder fünf Jahre alt war, er riecht nach ihr, die ganze Zeit, noch Wochen nach ihrem Tod riecht Frankie nach ihr. Ich klammere mich an Frankie, den Stoffbären, er ist mein einziger Halt, bis es Frühling wird. </div>
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An einem Sonntagmorgen im Mai verlasse ich zum ersten Mal nach ihrem Tod die Wohnung. Ich gehe dorthin, wo sie ihren Körper begraben haben. Mir fällt wieder ein, daß ich auf dem Weg zum Friedhof die Vorstellung kaum ertrage, daß Erde ihr Gesicht und ihren Körper bedeckt. Aus diesem Grund kehre ich mehrere Male um, bis der Taxifahrer die Geduld mit mir verliert und mich am Friedhof zum Aussteigen zwingt. Ich erinnere mich, daß ich den Friedhof zuerst umrunde, bevor ich ihn betrete, daran, daß ich später vor ihrem Grab stehe, wie verwirrt ich bin, daß auf dem Grabstein tatsächlich ihr Name steht, daß ich das Datum ihrer Geburt und das ihres Todes lese, und wie ich mit einem Mal begreife, daß es nicht mehr anfängt, daß es vorbei ist, das mit ihr. Kein Körper mehr, kein Streicheln, kein Lachen, kein Weinen, keine Küsse mehr, keine pürierten Khakis und Mangos, kein vierundzwanzigster Geburtstag. Ich werde nicht mehr für sie singen, keine Pläne mehr, kein: Schlaf gut, bis morgen. Kein Morgen mehr, nichts mehr, nie mehr. Niemand mehr, der mich vorm Einschlafen ansieht und sagt: Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Keine Worte mehr, nie mehr, es ist vorbei. </div>
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Heute weine ich darüber, jetzt, gerade, in diesem Augenblick. Ich weine, weil sie gestorben ist, weil der Raum, wo früher ihr Körper war, seitdem leer ist. Ich weine, weil ich fühlen kann, daß ich sie geliebt habe, als ich jung war. Weil ich fühlen kann, was diese Leere bedeutet, und wie sehr dieser Verlust mein ganzes Leben verändert hat.</div>
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Es gab noch jemanden, der gestorben ist in jener Zeit, als ich jung war. Gestern abend, als ich die Platten von Tori Amos hörte, dachte ich wieder an sie. Sie hieß Patricia. Ich spreche kaum über sie. Auch nicht mit Freunden, weil es zu schmerzlich für mich ist. Patricia ist mit fünfzehneinhalb gestorben, sie ist in die Seine gegangen, neunzehnhunderteinundachtzig, am Ende des Sommers. Davor wollte sie meine Frau sein, sie wollte Kinder mit mir, später, nachdem sie erwachsen geworden war. Damit du mein Mann sein kannst und ich irgendwohin gehöre und du irgendwohin gehören kannst. Was mehr ist, als jede andere Frau in meinem Leben jemals für mich oder mit mir zusammen gewollt hat. </div>
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Als ich Patricia kennenlernte, war sie dreizehn. Sie war das jüngste Mädchen auf dem Babystrich in Frankfurt am Main, in Deutschland, wo ich früher lebte. Bevor sie bei mir einzog, lebte sie auf der Straße, sie aß Ravioli aus der Dose und ging mit fremden Männern, um einen Platz zum Schlafen zu haben. Ihr Haar war blau gefärbt und stand in alle Richtungen. Sie las Gedichte von Rimbaud, Rilke, Ginsberg und Emily Dickinson. Quer über das Gesicht hatte sie eine lange tiefe Narbe. Von ihrem Vater, der sie mit der Bullenpeitsche geschlagen hat, wie sie mir einmal erzählte. Am Morgen ihres zehnten Geburtstags hat ihr Vater ihre Mutter getötet und sich danach selbst erschossen. Patricia glaubte, daß dieser Tag einer der guten Tage in ihrem Leben war. Wohl deshalb, weil ihr Vater ihr danach nicht mehr wehtun konnte. </div>
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Ich sah Patricia auf Fotografien, in einer Art Laufstall, an Hals, Armen und Beinen angebunden, wie ein Tier im Käfig, und das in einem Alter, in dem Kinder in die Schule kommen. Ihr Vater hatte sie in einschlägigen Zeitschriften angeboten: Gut gewachsenes Füllen, gut eingeritten. Da war sie neun Jahre alt. Er hatte bereits vorher Videofilme aufgenommen, auf denen sie und er zu sehen waren. Auf diesen Videofilmen konnte man sehen, wie er Dinge mit ihr machte, die ich auch heute noch nicht aussprechen kann, so sehr erfüllt mich das, was ich gesehen habe, mit Scham. Manchmal sah Patricia sich diese Videos an, als versuchte sie nachträglich zu verstehen, was mit ihr geschehen war. Von Zeit zu Zeit forderte sie mich auf, ich solle mir gemeinsam mit ihr diese Videobänder anschauen, was mich jedesmal Überwindung kostete. Das bin ich, in dem Film, siehst du das. Ich streichelte ihre Schultern und ihr Gesicht, weil mir nichts einfiel, was ich ihr hätte sagen können. </div>
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In ihrem Zimmer, ganz oben, auf dem wackligen Regal, das sie grün angestrichenen hatte, stand lange Zeit ein brauner Schuhkarton, in dem Patricia alte Fotografien, Postkarten, Bilder, die sie gemalt hatte, Schreiben von Jugendämtern und Gutachten von Ärzten aufbewahrte. Im darauffolgenden Sommer verbrannte sie alles. Das ist meine Vergangenheit gewesen, sieh nur, wie leicht sie brennt. Danach wurden ihre Alpträume seltener. Es gab kaum noch Nächte, in denen sie ihre Stimme verlor, sobald sie mir von den Träumen erzählte, oder in denen zuerst ihre Hand und dann ihr ganzer Arm so steif wurden, daß ihr der Stift aus der Hand fiel, als sie versuchte, diese Träume aufzuschreiben. Keine Nächte mehr, in denen sie abwechselnd sprach, schrieb, weinte, laut schrie, ihren Kopf gegen die Zimmerwand schlug und sich dabei übergeben mußte. </div>
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Ich erinnere mich, daß sie in manchen Nächten oft von ihrer Freundin Püppi sprach, die sie ermordet auf einer Müllkippe gefunden hatten, damals, im Sommer Neunzehnhundertachtzig, am zweiten August, um es genau zu sagen, also jenem Tag, an dem faschistische Extremisten im Bahnhof von Bologna in Italien eine Bombe explodieren ließen, wobei Hunderte von Menschen verletzt wurden und achtzig ums Leben kamen. Für Püppi, die sie an jenem Morgen gefunden hatten, zuerst ihren Kopf und im Lauf des Tages die restlichen Teile ihres Körpers, verteilt über den gesamten Müllplatz, gab es wegen der vielen Toten in Bologna in den Abendnachrichten keinen Platz mehr. Patricia sagte, es gibt keine Worte für das, was der Freier mit Püppi gemacht hat, und daß es schon gar keine Worte gebe für das, was der Müll später aus Püppis Körper gemacht habe. Sie sprach davon, daß Püppi alles mitbekommen habe, als ihr Körper noch lebendig gewesen sei, alles, was der Freier mit ihr angestellt hat, sagte sie, und sie sei sich sicher, daß Püppi das nicht verdient habe, nicht so ein Ende, nicht nach so einem Leben, wie sie sagte. Sie erzählte von Püppi, als sie noch am Leben gewesen war, und von dem Steckohrring mit dem roten Herz, den sie ihr im Jahr zuvor zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und sie sagte, das rote Herz steckte noch an Püppis Ohr, aber ihr Ohr war nicht mehr an ihr dran, als sie sie fanden, sie fanden es anderswo. Jedes Mal, wenn sie an die Stelle kam, weinte sie laut. Dann legte ich meine Arme um sie. Sie schloß die Augen und sie sagte, nachdem etwas Zeit vergangen war, verwundert, ehrlich, daß ich die Augen zumachen kann, wenn du mich anfaßt. Sie fragte, womit sie es verdient habe, mit mir zusammenzusein. Ich sagte, weil du dafür sorgst, daß ich genug Sonne habe. Wie auf der einen Fotografie, die ich nicht mehr habe, weil sie sie mitgenommen hat, als sie in die Seine ging. </div>
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Es war die Fotografie, wo sie am Fenster steht und gerade die Sonne aufgeht, und sie hält ein chinesisches Eßstäbchen in der Hand, und es sieht so aus, als könnte sie die Sonne herbeizaubern, und sie hat darunter geschrieben, ich sorge dafür, daß die Sonne scheint, wenn du das Haus verläßt. <br />Das habe ich ihr geglaubt, denn in ihrer Nähe fühlte es sich so an. </div>
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In diesem Moment weiß ich nicht, ob ich weiter darüber sprechen will, über sie und die Zeit, die ich mit ihr verbracht habe. Aber ich will erzählen, wie wir uns begegneten, an jenem Morgen, vor einem Club, dessen Namen ich vergessen habe. Sie trieb sich dort herum und winkte mir zu, als ich herauskam. Ich fragte: Was machst du hier? Wohnst du irgendwo? Sie sagte: Ich wohne in Alaska. Ich trug einen Smoking von Valentino und ich war müde und noch betrunken von der Nacht und ich glaubte ihr kein Wort und sagte: Das ist verdammt weit weg. Und sie musterte mich von oben bis unten und sagte: Was du da anhast, also ehrlich, das ist das Letzte, man muß sich ja schämen, mit dir gesehen zu werden. Ich sah an mir hinunter und lachte, ohne näher darauf einzugehen. Sie fragte mich nach Zigaretten, und ich gab ihr welche, und wir rauchten und waren eine Weile still, während das Licht des beginnenden Tages heller wurde und ich sie besser sah, ihre verdreckten, zerrissenen Kleider, die große Narbe, die wie ein tiefer Riß durch ihr Gesicht ging, und sie bemerkte meinen Blick und fuhr mit dem kleinen Finger ihrer linken Hand ganz vorsichtig die Narbe entlang, und sie sagte: Die Väter hinterlassen solche Spuren, weißt du. Sie wurde ganz still, weil sie mir sofort ansah, daß ich wußte, wozu Väter fähig waren, und wir schwiegen eine Weile, bis sie sagte: Wenn du willst, zeige ich dir Alaska. Und ich wollte es, und dann nahm sie mich mit zum Ostbahnhof, und auf einem Abstellgleis stand ein alter Güterwaggon mit der Aufschrift: Alaska Seelachs, und sie fragte: Willst du sehen, wie es in Alaska ist? Und ich nickte und ging mit ihr, und in Alaska hingen Poster von Janis Joplin und Gedichte von Rilke und Rimbaud an den Wänden und Songzeilen von Jim Morrison, und es war schön und kalt und wir haben uns gegenseitig gewärmt. In Alaska haben wir uns auch zum ersten Mal geliebt, auf einer vergammelten Matratze, meine Kleider waren hinterher total verschmutzt, und sie lachte darüber und sagte: Dieses schwarze Ding da, deinen Smoking, kannst du wegwerfen, den brauchst du nicht mehr, wenn du mein Freund bist. Und so bin ich ihr Freund geworden. </div>
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Danach, als es vorbei war, nachdem sie gestorben war, fragte ich mich all die Jahre, warum sie auf diese Weise gegangen war, und wie sie es angestellt hatte, in die Seine zu gehen, ohne jemals wieder an die Oberfläche zu kommen, und ob sie einen Rucksack mit Steinen gefüllt hatte, bevor sie in den Fluß gegangen war, und woher sie die Steine hatte, die dazu nötig gewesen waren, denn damals lagen in der Nähe des Pont Neuf keine Steine, die von ihrem Umfang und ihrer Größe geeignet gewesen wären, ihren Körper unter Wasser zu ziehen, ihn auf den Grund des Flusses sinken zu lassen und ihn dort zu halten, und ob sie vielleicht vorher durch Paris gelaufen war und nach passenden Steinen gesucht und diese auch gefunden und sie anschließend durch die Stadt geschleppt hatte, und ob sie womöglich gar nicht vom Ufer aus in den Fluß gegangen, sondern von der Brücke aus hineingesprungen war, und auch dann müßte sie Steine oder etwas vergleichbar Schweres bei sich gehabt haben, das sie rasch hätte sinken lassen und es ihr unmöglich gemacht hätte, wieder nach oben zu kommen, und ihr Tod wäre dann ein anderer gewesen, ein schnellerer, schneller als wenn sie vom Ufer aus in den Fluß gegangen wäre, um stumm das Wasser zu atmen und auf die Körper zu schauen, die vor ihren Augen erschienen wären, jene leuchtenden Körper, die der Tod mitbringt, wenn der Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, und die sie nicht mehr gefürchtet hätte, wo sie doch zuvor in ihrem kurzen Leben schon hundertmal ertrunken war, so sehr gequält von einem unsichtbaren Volk und seinen Stimmen und dieser wahnsinnigen Königin, die sonderbare Zeichen auf eine weiße Mauer schrieb, die wie Schmerzenslaute waren und die Patricia empfindlich gemacht hatten, Laut für Laut, wie eine Plage, die sich bei jedem Versuch, sich von ihr zu befreien, unendlich vermehrte. Und dann sah ich noch, daß sie ihre Augenlider fest zusammengepreßt hielt, als das Wasser über ihr zusammenschlug, und daß sie vielleicht wie ein Kind war, das sich im Wald verirrt hat, am Ende des Tages, bei Anbruch der Dämmerung, wenn über den Gipfeln der Bäume bereits die Nacht anbricht, in der Stunde der Stille, in der das Unheil manchmal seinen Lauf nimmt und dieses Kind nach etwas sucht, mit dem es seine Angst besiegen kann. </div>
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Ich glaube heute, daß sie in die Seine gegangen ist, weil sie zu müde war und ihre Gedanken nicht mehr aushielt, weil ihr Herz zu sehr verletzt war und zu schwach für ihre Gedanken. Weil sie nicht mehr weiter wußte. Auch wenn sie immer sagte: So ist das Leben, wir müssen immer ein neues Versteck finden. Und: Wir dürfen nicht in Selbstmitleid versinken. Ich glaube, sie wußte gar nichts mehr. Es gab keinen Ort mehr, an dem sie sich verstecken konnte, weder in ihr, noch außerhalb von ihr.</div>
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Ich bin zwei Monate in Paris geblieben. Ich habe ganze Tage und Nächte am Ufer zugebracht, in der Nähe des Pont Neuf, während die Taucher den Fluß nach ihr abgesucht haben. Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, ich dachte damals, daß sie vielleicht noch am Leben war, daß sie ihre letzten Worte, die auf dem Zettel standen, den ich in unserem Hotelzimmer in der Rue Masseran fand, nicht wahrgemacht hatte: Bin bei Pont Neuf in die Seine gegangen... dies ist das eigenartigste Leben, das ich kennengelernt habe. Nachdem die Taucher sie nicht fanden, lief ich tagelang mit einer kleinen Fotografie von ihr durch Paris und suchte sie. Die Leute haben flüchtig auf das Bild geschaut, sie waren in Eile. Ich wirkte wie ein Verrückter auf sie, als ich zu ihnen sagte, daß sie mir helfen müssen, sie zu finden, daß es unmöglich sein kann, daß sie in die Seine gegangen ist. Daß sie tot war, ich konnte es lange nicht glauben, ich habe mit ihr gesprochen, die ganze Zeit, so wie man mit jemandem spricht, der noch lebt. Ich habe erst spät damit aufgehört. Ich habe damit aufgehört, als du in mein Leben kamst, als ich wegen dir die Notwendigkeit spürte, mein Herz wieder zu öffnen und dich zu lieben.</div>
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Nach Patricias Tod war ich noch in derselben Wohnung. Ich saß auf denselben blauen Kissen und sah hinunter auf den Spielplatz. Ich dachte Tag und Nacht an sie. Ich dachte auch wieder an Judith. Ich hatte innerhalb von vier Jahren zwei Menschen verloren, die mir etwas bedeutet hatten. Beide waren gestorben, bevor sie wußten, wer sie waren, bevor sie sie selbst werden konnten. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich war vierundzwanzig. Und ich war allein. Ich war kurz davor, wahnsinnig zu werden vor Trauer. Ich konnte nicht weinen. Ich konnte es nicht wegen dieses Jungen, dem mit dem blauen Augen und dem blonden Haar. Der Junge, der ich gewesen war und der nie geweint hatte, als man ihm diese Dinge antat. Jene grauenvollen Dinge, die bei anderen Beklemmung und Entsetzen auslösen, sobald ich darüber spreche. Solche Dinge, die ich auch heute, nach über dreißig Jahren, kaum auszusprechen wage, um niemanden damit zu verletzen. Hätte ich damals geweint, als zuerst Judith starb und danach Patricia, wäre mir dieser Junge in mir wiederbegegnet. Ich hätte seinen Schmerz, seine Trauer und seine Angst gespürt. Ich hätte es nicht ertragen, diese entsetzliche Scham, ein so sehr beflecktes Kind zu sein. Der Kummer darüber hätte mich in einen Schmerz getrieben, für den ich damals noch nicht bereit war. </div>
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Ich schäme mich übrigens heute noch, daß ich danach weitergelebt habe. An manchen Tagen ertrage ich es kaum, dieser Junge gewesen zu sein. Bevor ich dir begegnet bin, habe ich oft geglaubt, daß man es mir ansieht: diese Schande, daß es den Leuten deshalb schwerfällt, auf mich zuzugehen, weil sie es mir anmerken. Wegen des Ekels, den sie möglicherweise empfinden, sobald sie mit mir zusammen sind. Oft bin ich Berührungen aus diesem Grund ausgewichen. Ich dachte lange, man würde mir ansehen, daß mir Gewalt angetan wurde. Ich hatte Angst, daß man mich haßt, weil ich nicht an dem gestorben bin, was man als Kind mit mir gemacht hat. Ich sage das hier zum ersten Mal. Nicht einmal Charlotte weiß etwas darüber. </div>
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Ich erinnere mich nicht, wie lange ich nach Patricias Tod getrunken habe. Wie viele Wochen oder Monate es waren, ich kann es nicht sagen. <br />Ich glaube, daß ich sehr krank war, daß ich bereit war aufzugeben.<br />Als ich nach dreizehn Tagen aus dem Koma erwachte, saß ein Arzt neben mir.<br />– Wenn sie so weitermachen, werden sie sterben.<br />– Das ist in Ordnung, das Überleben wird sowieso überschätzt. </div>
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Der Arzt hat nicht nachgegeben. Er ermutigte mich, in ein Sanatorium zu gehen, es lag im Schwarzwald, es war Winter, als ich dort eintraf. Ich blieb lange dort, bis zum folgenden Sommer. Ich weiß noch, daß ich gemalt habe in dieser Zeit, im Sanatorium. Eine Ärztin versuchte, mit mir sprechen, sie fragte mich nach Ursachen, Motiven und Gründen für meinen Zustand. Aber ich hatte ihr nichts zu sagen. Ich glaube, daß mein Schmerz zu groß war, um darüber zu sprechen, was sie wohl bemerkte. Also war sie aufs Malen gekommen. </div>
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In der dritten oder vierten Woche habe ich mich ausgezogen und mich am ganzen Körper schwarz angemalt und mich nackt vor einen Spiegel gesetzt. <br />Die Ärztin setzte sich neben mich, nachdem sie mich eine Weile angeschaut hatte.<br />– Was sehen Sie? <br />– Einen Überlebenden. <br />– Was hat er überlebt? <br />– Seine Kindheit, sich selbst, den Schrecken des Todes, ich weiß es nicht.<br />Ich sprach nicht über Judith und Patricia. Ich erwähnte sie mit keinem Wort. <br />– Ihre Kindheit, was ist das für Sie? <br />– Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich hatte keine Kindheit, ich bin ohne Gedächtnis.<br />– Was reden Sie denn da, jeder Mensch hat eine Kindheit und ein Gedächtnis, um sich daran zu erinnern.<br />Ich schwieg und blickte sie an. Ich wollte mich nicht erinnern. <br />– Haben Sie Ihr Gedächtnis vielleicht verloren, ist es das?<br />– Ich habe mich entschieden, kein Gedächtnis mehr zu haben.<br />Sie forderte mich auf, in den Spiegel zu schauen. <br />– Was sehen Sie?<br />– Das ist nicht so schwer. Ich sehe einen schwarzen Mann.<br />Ich sehe wieder, wie sie an dieser Stelle lächelt. <br />Sie steht auf und stellt sich hinter mich. Ich kann sie im Spiegel sehen. <br />– Ich sehe einen blonden Jungen, er ist acht, neun oder zwölf Jahre alt, er hat nie geweint, und er hat sich schwarz angemalt, um nicht mehr gesehen zu werden. <br />– Warum will er nicht mehr gesehen werden?<br />– Vielleicht hat man ihm sehr weh getan.<br />– Ja, das wäre möglich.<br />Damals forderte sie mich auf zu weinen. <br />– Ich wüßte ein oder zwei gute Gründe, um mit Ihnen zu weinen. <br />Als sie es zu mir sagte, hatte sie Tränen in den Augen. Sie weinte fast, was mich damals beunruhigte. <br />Ich sah sie lange an.<br />– Es ist noch nicht die richtige Zeit dafür. </div>
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Heute, wo ich endlich mein Herz spüre und es nicht länger verschließen muß, weine ich wegen dieses Jungen. Ich werde weinen, wenn Charlotte oder jemand anders mich umarmen und ihn versehentlich dabei berühren, weil er sich nur schwer daran gewöhnen kann, anschließend nicht geschlagen oder mißbraucht zu werden. Und wenn Tori Amos singt und ich an Patricia denke, weine ich wegen ihr. Ich weine auch wegen dir, weil du und das, was wir miteinander hatten, noch in meinem Leben sind und zur selben Zeit so sehr darin fehlen. Ich weine mit meinem ganzen Körper. Ich weine überall, die ganze Zeit, und manchmal merkt man es mir an. </div>
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Gestern abend, als ich an Patricia dachte, sang Tori Amos 1000 Oceans. Sie sang: ... ich würde 1000 Ozeane mehr weinen, wenn es das wäre, was nötig ist... Vielleicht ist es so, daß ich soviel weine, weil es nötig ist, um weiterzukommen, um darüber hinwegzukommen, über das alles. Um es anzunehmen und dann endlich loslassen zu können. Um auf die andere Seite, um endlich ins Leben zu kommen. Um keine Angst mehr zu haben vor diesem unmöglichen, einsamen und bodenlosen Leben.<br />(…)</div>
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<br />aus: Lucia oder die Liebe<br />© RW; 2009, BoD<br />ISBN: 978-3839116906</div>
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Vizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-39736095374260877392012-08-26T10:05:00.000-07:002012-08-26T10:05:27.114-07:00Lucia oder die Liebe<div align="justify">
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<br />Nacht für Nacht geschieht es, daß du in mein Leben zurückkommst. Ich liebkose dich, dein Gesicht, deine Schönheit, ich tue die ganze Zeit nichts anderes. Ich sehe, wie einsam du bist. Niemand ist einsamer als du. Und dann ist da deine Verletzlichkeit. Die Verletzlichkeit des kleinen Mädchens, das ich in jeder deiner Bewegungen sehe, auch wenn du neben mir schläfst. Wie das Mädchen, über das ich irgendwo geschrieben habe, bist du jedesmal wachsam. Du versiegelst deinen Körper mit der Decke. Bis du findest, daß es anstrengend ist. Es gefällt dir nie lange, alleine zu liegen, auf der anderen Seite des Betts. Du kommst unter deiner Decke hervor und schlüpfst unter meine. Du schmiegst dich an mich, du sagst: So ist es besser, mein Lieber. </div>
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Als ich aufwache, siehst du mich bereits an, schon länger, wie es scheint, du lächelst verhalten.<br />Du sagst: Ich werde dich nicht vergessen, hörst du. Ich werde dich niemals verlassen. Also glaube bitte nicht, daß ich einfach fort bin, nur weil ich gehe. <br />Du nimmst mein Gesicht in deine Hände, du reibst es, du kannst deine Blicke nicht von mir lassen, du küßt mich, du kommst über mich, ich höre dein Herz klopfen und meins, deine Augen halten mich wie eine zarte Hand, wir küssen uns, zuerst zärtlich, dann leidenschaftlich, du öffnest dich, ich komme in dich, alles ist weich und warm, du stöhnst auf, du flüsterst.<br />Du sagst: Ich weiß nicht, wie ich gehen kann, ich bin so erfüllt von dir, von deiner ganzen Liebe. <br />Ich sehe dich an, ich spüre mich, ich spüre dich, ich bin dankbar, daß es dich gibt, ich denke an nichts, du bist hier und ich bin hier, und das ist alles, was ich wissen muß. </div>
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Ich bin im Zimmer auf der Hofseite. Ich schreibe dies hier. Ich höre dein Lachen, deine Stimme, morgens, nach dem Aufstehen, und mittags, und am Abend, und nachts, wenn sie flüstert. Ich erinnere mich an dein Haar in meinem Gesicht, an deinen warmen Atem an meinem Hals, an den Geschmack deiner Lippen, an die Farbe und kaum auszuhaltende Zartheit deiner Haut, daran, wie sich deine Küsse anfühlten, an die Weichheit deines Geschlechts, an seine Wärme. Ich sehe deinen nackten Körper, wie er wiederholt aufblüht, wie er sich an meine Berührungen und Küsse erinnert, die dich zum Weinen brachten, an einem Dienstagmorgen. Ich sehe deine schwankende Zärtlichkeit und Unsicherheit, die dich daran hindern, über das hinaus zu lieben, was dich so sehr festhält, etwas ganz und gar Bedrohliches, über das du zum ersten Mal redest, als du mir begegnest. </div>
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Wenn ich dich sehe, dann immer auch wie auf den Fotografien, diesen Kinderfotografien, auf denen deine Verletzungen die Luft zerreißen. Etwas in dir war erstarrt. Ich habe es wiedererkannt. Ich gelange ins Innerste dessen, was ich ahne. Ich weiß, was du nie wissen wirst. Ich schreibe.</div>
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Wir sind am Meer. Die Sonne verschwindet bald hinter den Wolken. Du hältst die Tasse zwischen deinen Händen. <br />Du sagst: Ich bin fünfundzwanzig. Ich habe das ganze Leben vor mir. Ich weiß nicht, wie du mich derart lieben kannst. Das ist kaum auszuhalten. Niemand hat mich je so geliebt wie du. Weißt du, daß du verrückt bist. <br />Es irritiert dich, daß es so ist, daß ich dich liebe. Es gefällt dir, so geliebt zu werden, sogar sehr, es beunruhigt dich. <br />Du sagst: Du kannst fünfundzwanzig sein, aber ich nicht zweiundfünfzig. Das ist der Unterschied. <br />Ich sehe dich an, ich kann es sehen, die siebenundzwanzig Jahre, die zwischen dir und mir liegen, mehr als ein Vierteljahrhundert. Was heißt das schon.<br />Ich sage: Das ist gar nichts für jemanden, der so verrückt ist wie ich. <br />Du lachst darüber. Dein Lachen ist herrlich, es zieht über den Strand.<br />Du sagst: Mein schöner Verrückter. <br />Und dann lachst du erneut, jenes makellose Lachen, nach dem sich alle Welt umschaut. Selbst die Möwen, die am Strand entlanglaufen, drehen ihre Köpfe und blicken in deine Richtung. <br />Ich sage: Zu lieben, noch mehr zu lieben, wie die Blumen in den Parks ihren Duft verströmen, das ist es, was zählt. <br />Du nimmst einen Schluck Tee, du siehst mich aufmerksam an, du wiederholst meine Worte. <br />Du sagst: Zu lieben, noch mehr zu lieben, wie die Blumen in den Parks ihren Duft verströmen. <br />Du lächelst. <br />Du sagst: Das gefällt mir. Wirst du es aufschreiben? Schreibe es auf. </div>
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Ich schreibe: Dein Körper ist nicht mehr neben mir. Du siehst mich nicht mehr an. Ich möchte vor Kummer sterben. Ich erfinde deinen Körper neben meinem, wie du mich ansiehst, dein Haar am Atlantik, die Blondheit deiner Haut, die Tasse zwischen deinen Händen, deine Stimme, ihre Sanftheit. <br />Du sagst: Alles hat seine Zeit. Nur die Liebe steht außerhalb der Zeit. <br />Deine einfache Art etwas zu sagen. Es so zu sagen, daß es wie geschrieben ist. <br />Du sagst: Aber was weiß ich schon, ich habe dich verlassen, ich bin fünfundzwanzig, wie traurig das ist.<br />Du schaust auf den schwarzen Öltanker, der weit draußen dahinzieht. <br />Du hast Tränen in den Augen. <br />Ich schweige. <br />Wir sehen beide aufs Meer, schweigend, um uns nicht ansehen zu müssen. <br />Es gelingt uns nicht lange. <br />Wir werden traurig darüber. <br />Wir sehen uns wieder an. <br />Du stellst die Tasse in den Sand. <br />Du blickst auf die beiden Ebenen aus Himmel und Meer, auf diese unendliche Weite. <br />Mit großer Sorge sagst du: Du bist mir doch nicht böse. <br />Ich kann nicht antworten. <br />Du streckst mir deine Hand entgegen. <br />Ich nehme sie, ich halte sie. <br />Wegen dieser kleinen Berührung bist du erleichtert. Ich sage: Du bist die Einzige. <br />Ich sehe dich an. <br />Du erwiderst meinen Blick. <br />Du beginnst zu verstehen, daß ich es noch nie zuvor gesagt habe, daß ich es womöglich nie wieder sagen werde. <br />Du weinst deswegen. <br />Du weinst, weil du die Einzige bist. <br />Du sagst: Ich will nicht die Einzige sein, es ist das Schönste, was jemals jemand zu mir sagen wird, es gefällt mir. <br />Du wartest. <br />Du suchst nach den richtigen Worten. <br />Du sagst: Es ist schrecklich, daß es so ist, daß es mir so sehr gefällt. <br />Die Sonne kehrt zurück, kraftvoll und grell. <br />Ohne unsere Hände loszulassen, schließen wir im selben Augenblick die Augen.<br />Wir sind wie zwei Kinder. Wir tragen bunte Wolljacken und Mützen. Wir sind stark. Nichts kann uns verletzen. <br />Wir schauen einander an, mit geschlossenen Augen, wir sehen uns. <br />Das geht. <br />Wir können es. <br />Wir konnten es schon immer. <br />Ich sage: Du bist fünfundzwanzig, du hast mich verlassen, ich liebe dich, mehr als alles auf der Welt. <br />Du seufzt mehrere Male. <br />Und ich sehe dich, mit geschlossenen Augen. <br />Die ganze Zeit sehe ich dich. <br />Diese Liebe vergeht nicht. Sie ist etwas Dauerhafteres als wir selbst. <br />Ich sage es hier, also ist es wahr. <br />Ich schreibe. Ich mache alles neu. Ich erfinde die Wahrheit. </div>
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Ich schreibe: Du kannst mir nicht mehr zuhören, nicht mehr mit mir sprechen. Du siehst nicht mehr mich oder uns. Du weißt nicht mehr, was du bei mir tust, was das soll mit dir und mit mir, warum du überhaupt bei mir bist, was aus dir werden soll. <br />Du sagst: Ich war noch ein Mädchen, ein Kind, da warst du schon da. Du warst immer da, seit ich denken kann. Was für eine unglaubliche, großartige Sache, daß ich nie ohne dich gewesen bin. Du warst der erste Mensch, der mich angesehen hat. <br />Du schüttelst den Kopf, wie über etwas Unerwartetes. <br />Du sagst: Dieses Glück der Nähe, das ganze Unglück darin. Ich komme nicht von dir los, es ist zum Verrücktwerden. <br />Du läufst hinunter zum Strand. <br />Ich folge dir in einigem Abstand. <br />Dann hole ich dich ein. <br />Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander. <br />Irgendwann sagst du: Manchmal habe ich große Angst vor dir, Angst davor, mich dir nicht gewachsen zu fühlen. <br />Du bleibst stehen. Du nimmst mein Gesicht in deine Hände. <br />Du sagst: Ich kann das nicht mehr, Tag und Nacht mit dir zusammensein, in diesem Haus, mit dem Meer vor den Fenstern. Ich habe Angst vor dieser Nähe, daß es mir zu sehr gefallen könnte, daß ich nicht mehr von dir loskomme, daß ich dich zu sehr liebe.<br />Du preßt mein Gesicht fest zwischen deine Hände. <br />Du sagst: So geht es nicht weiter. Ich habe kein anderes Leben mehr, nur noch das mit dir, das ist zuwenig, es reicht mir nicht. Ich bin jung, mein Leben fängt gerade erst an. Ich möchte das fröhliche Glück kennenlernen, jetzt, wo ich es endlich kann. Ich will mit Männern in meinem Alter zusammensein. Ich will nicht nur einmal lieben. <br />Du schaust mir ins Gesicht, als wäre es dir plötzlich fremd und nicht mehr vertraut.<br />Du läßt mein Gesicht los.<br />Du drehst dich zum Meer um. <br />Nach einer Weile siehst du mich wieder an. <br />Du sagst: Wie kann ich dich nur so lieben und dich trotzdem verlassen wollen. <br />Dann vergeht Zeit, am Ozean und anderswo. Die Liebe ist in der Stille zwischen den Wörtern, im Schweigen, ohne aufzuhören. <br />Du nimmst meine Hand, du schaust zu Boden. <br />Du sagst: Ich will von dir loskommen, dich vergessen. <br />Du drückst fest meine Hand. <br />Du sagst: Und doch werde ich jedem von dir erzählen wollen. <br />Du wartest. <br />Du schaust weiter auf den Boden. <br />Du sagst: Du warst der erste Mann, den ich geliebt habe. <br />Du siehst mich abermals an. <br />Du sagst: Ich verlasse dich, nimm mich bitte in den Arm. </div>
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Ich nehme dich ein letztes Mal in den Arm, bevor du gehst. Ich streichele lange dein Gesicht, um es nicht zu verlieren, um mich daran zu erinnern, wenn du nachher fort bist, und morgen, und übermorgen, wenn ich wieder allein bin, um mich an dein Einverständnis zu erinnern, an die vielen glücklichen Tage und Nächte mit dir. Ich weine nicht, ich schreie nicht vor Angst, ich belagere dich nicht. Ich gebe dich zurück an die Dinge. Dinge, die nichts mehr mit mir oder mit uns zu tun haben. Ich gebe dich zurück an andere Männer, an andere Liebhaber und Freunde, die attraktiver sind, erwünschter, weniger bekümmert, alltäglicher, jünger, jedenfalls in deinem Alter. Solche Leute, die deine Aufmerksamkeit mehr fesseln, und die auf dein Begehren antworten, auf andere Weise, in anderen Räumen, unter einem anderen Licht. </div>
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Am 1. Januar gehst du über den Plankenweg zum Bahnhof. Ich schau dir nicht nach. Ich folge dir nicht. Ich tue nichts. Ich lasse es geschehen. Ich halte dich nicht mehr auf. Ich verstehe nicht, wie du gehen kannst, daß du mich zurückläßt. Ich bin nicht wie du, ich gehe nicht einfach weiter. Ich bleibe. </div>
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Ich rede mit der Fotografie, die ich von dir gemacht habe. Das war letzten Oktober. Die Sonne war noch einmal riesig, sie reichte über den ganzen Himmel, bis zum Cap d’Antifer. Wir waren oben in den Hügeln, in dem Garten mit der blauen Villa. Wir lagen auf der Wiese, wir küßten und streichelten uns. Da waren Spaziergänger, die uns anschauten. Es war dir egal, du wolltest mich weiter küssen, mich weiter streicheln. Du wolltest dich mit mir zeigen. Du warst wunderschön, wie nachts der Himmel. Wie der Flug der Vögel. Wie das Adagio des Violinenkonzertes von Bruch. Wie schön du warst an diesem Tag, als du es in dir erlauben konntest, wie sehr ich dir gefiel, daß wir ein Paar waren, daß die Leute es sahen. Du warst so schön, daß ich meine Augen nicht mehr schließen konnte. Später gingen wir zurück, um unsere Körper sich selbst zu überlassen. Wir liebten uns den ganzen Nachmittag, lagen bis zur Dämmerung zusammen, die einander vertrauten Hände an unseren Wangen, dein herrlicher Körper an meinem, wir redeten leise, wir lachten, waren erleichtert, ruhig, wir hatten das gleiche Alter, waren einander ähnlich. Bevor wir zurückgingen, um uns zu lieben, machte ich dieses Bild, in dem Garten mit der blauen Villa. Ich machte noch andere Bilder, ich habe sie alle weggeworfen, bis auf dieses eine. Ich rede achtzehn Tage lang mit diesem Bild. Ich rede mit den Wänden. Ich rede mit der Kühlschranktür und mit meinem Spiegelbild. Der Schmerz der Trennung schleicht sich ein, er ist wie eine endgültige Niederlage, beunruhigend. Was für ein gewaltiger Schmerz, er hat die Größe eines Ballsaals, ich durchquere ihn, bis er und ich eins werden. Ab hier gibt es keine künftige Zeit mehr, in der alles neu ist. Jeder bevorstehende Augenblick wird den Augenblick der Trennung wiedererwecken, ich werde mich nie mehr ganz davon erholen. Was auch immer ich vergessen werde, wird mich nicht vergessen. Es fühlt sich an, als würde ich mitten im Leben meinen eigenen Tod betrauern. </div>
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Ich hebe den Hörer des Telefons ab, ich rede mit dir, ich tue so, als wärst du am anderen Ende. Es ist wie früher, wir reden miteinander, unermüdlich, jede Nacht, stundenlang, weil einer dem anderen fehlt, weil wir einander nicht mehr entbehren können, nicht nachdem wir uns einmal gesehen haben. Da ist ein solches Verlangen, die Stimme des anderen zu hören, ihm nahe zu sein. Wir können nicht darauf verzichten, auf diese am Telefon verbrachten Stunden, in denen wir abwechselnd gesprochen und einander zugehört haben. Die Tage und Wochen des Sprechens und Zuhörens, die Monate, die Jahre, ich begreife nicht, wie es möglich war, diese Nähe und Intimität, eine solche Vertrautheit, wie man sich so sehen konnte, am Telefon, ohne sich leibhaftig zu sehen. Ich weiß nicht mehr, was das war, das mit uns, ob du nur bei mir warst wegen deiner großen Verzweiflung, weil du nicht mehr allein sein konntest, nachdem es in deiner Kindheit keinen einzigen Tag gab, an dem du dich nicht allein und verlassen gefühlt hast. Weil zum ersten Mal in deinem Leben jemand für dich da war. Weil ich für dich war, ganz und gar, die ganze Zeit, ohne damit aufzuhören. Ich weiß nicht, was es für dich war, ob es Liebe war für dich. Ich sage in den Hörer: Wenn es Liebe war, muß etwas übrigbleiben, das Liebe ist, etwas Sichtbares, sonst war es nichts. Ich lege den Hörer zurück. </div>
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Ich laufe hinunter zum Strand. Ich habe große Lust, ins Meer zu gehen. Ich merke es schon seit Tagen. Doch ich habe Angst. Ich will mir nicht weh zu tun, nicht nachdem du mir wehgetan hast. Ich ertrage keinen Schmerz mehr. Ich bin innen und außen ganz wund von der Kerbe, die dein Hieb hinterlassen hat. Ich rede mit mir, ich sage, daß es kalt ist draußen, ich muß den Mantel anziehen. Und dann sage ich mir, nein, ich kann nicht in dem Cashmeremantel von Marc Jacobs, den du mir geschenkt hast, ins Meer gehen, das ist lächerlich. Niemand geht mit Mantel, Schal und Mütze ins Meer, ich werde zur Witzfigur. Außerdem hast du ein Jahr gespart, um mir diesen Mantel schenken zu können, nachdem ich ihn bei Louis Vuitton in der Auslage sah. Ich rede mir gut zu, stundenlang, bis ich die Notwendigkeit spüre zu bleiben. Ich versuche dich weiter zu lieben, dich noch mehr zu lieben, bis ich mir sage, daß es genug ist. Ja, es reicht. Ich weiß nicht mehr, was das alles soll, ich habe dir alles gegeben, du hast alles genommen. Und dann bist du gegangen. </div>
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Ich weiß nicht, ob du mich genug geliebt hast. Ich stelle mir diese Frage immer wieder. Jedesmal lache ich darüber, ich lache über mich. Habe ich dich denn genug geliebt? Liebe ich dich genug? Kann ich dich anschauen und verstehen, dich lieben und beschützen, konnte ich es? Und du, kannst du es, konntest du es? Wie will man genug lieben, genug geben? Man kann nicht genug lieben, nie genug geben, nur zuwenig. Also beginne ich noch einmal, ich strecke dir meine Hand entgegen, stehe neben dir, wenn du dich deinen Ängsten stellst, wie in dem Lied, das ich heute morgen im Radio hörte.</div>
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Ich kann ohne dich nicht leben, ich kann es, aber ich will es nicht. Ich bin im großen Zimmer, ich tanze im Kostüm des Verliebten, ich schreie und tobe. Ich bin völlig irre, betrunken und fühle mich schuldig. Ich stürze und gehe zu Boden, ich schlage mit der Stirn auf den Glastisch, ich blute. Ich reiße mir die Kleider vom Leib und zerschneide sie, mit den Fetzen wische ich mir das Blut von der Stirn und die Tränen aus dem Gesicht. Ich liege auf dem Boden, ich bin völlig nackt. Mit meiner Stirnwunde rezitiere ich John Donne: … in whom alone/ I understand, and grow and see… </div>
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Ich sitze vor dem roten Sofa, ich betrachte es, als wäre es ein eigenes Universum. Ich erinnere mich an Joseph und seine autistische Schwester Chloé, wie sie in dem Film Kleine Teufel von Christophe Ruggia ihre Lust entdeckt, an deine Rührung wegen Chloé, im Moment des Wiedererkennens eines Teils deiner eigenen Geschichte in ihr. Und danach, auf dem roten Sofa, das Zittern deines Körpers unter meinen Berührungen und Küssen. Ich sehe das Verzücken in deinem Gesicht, deinen geöffneten Mund, deine geschlossen Augen, wie du mit den Fingerspitzen über deinen Körper streichst, mit welcher Freude du deine Brüste streichelst, deinen Bauch, mit dieser ergreifenden Zärtlichkeit, die mich jedesmal überwältigt, wenn ich nur daran denke. Ich sehe, wie erschüttert du darüber bist, zum ersten Mal in deinem Leben von soviel Lust erfüllt zu sein, dich dem hingeben zu können, auf diese dir bisher unbekannte Weise. Ich sehe deine Tränen deswegen, deine Kindertränen. Du weinst, weil du glücklich bist, daß die schrecklichen Dinge aus deiner Kindheit in diesem Moment weniger Macht haben als zuvor. Auch wegen dieser starken Liebe. Wegen allem, wie du sagst. Vor allem wegen der Art, wie ich aufmerksam bin, wie ich mich dir nähere, dich liebkose. Wie ich mache, daß du dich auf diese Weise berühren kannst, als wäre ich ein Zauberer. <br />Du sagst: Niemand liebt mich wie du, mit allem, was er ist, mit seinem ganzen Leben. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich jemanden so sehr geliebt wie dich, von der Erde bis zum Mond und wieder zurück.</div>
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Ich weiche nicht zurück, ich lerne diese Farbe auswendig, das Rot des Sofas, auf dem du mir sagst, daß du dich sicher und geborgen fühlst bei mir, daß du mit deinen Gedanken allein sein kannst, wenn du weißt, daß ich in der Nähe bin. Das rote Sofa, auf dem du mir sagst, daß mein Herz schön ist, daß du es niemals brechen wirst, daß du so erfüllt von mir bist, daß ich alles für dich bin, schon dein ganzes Leben lang. Daß es kein Wort gibt für das mit uns, nichts Vergleichbares zwischen Himmel und Erde, und daß du mich niemals verlassen wirst, daß ich dir vertrauen kann, was das angeht. Daß dein Leben nicht nur aus mir besteht, nicht nur aus uns. Daß es noch mehr geben muß als diese Liebe, als uns zu lieben. Daß du nicht mehr bei mir bleibst, daß dein Entschluß feststeht. Auch dies sagst du mir auf dem roten Sofa, zu einer anderen Zeit. Du springst auf und läufst mit geballten Fäusten durchs Zimmer. Du schreist mich an, daß das nicht mehr geht, daß es noch soviel zu erleben gibt, daß du nicht nur in mich verliebt sein willst, daß du dich noch oft neu verlieben willst. Du willst andere Männer lieben, Männer in deinem Alter, du willst, daß sie dich lieben, daß sie dich begehren, du würdest alles dafür tun. Du willst Kinder, eine Familie, willst frei sein, dich frei fühlen, fortgehen. Das mit mir gefällt dir, du findest es schön, lustvoll, anstrengend, interessant, aber es ist nicht das, wovon du träumst, du glaubst, daß es nirgendwohin führt. </div>
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Am Morgen lege ich meine Hand auf das Sofa, ich atme das Rot, den Geruch deiner Haut, deines Haares. Ich höre dich rufen, du schreist nach mir. Von diesem Ort, an dem du jetzt frei bist, höre ich deine Schmerzensrufe. Und dann erstirbt das Rufen, ich höre es nicht mehr. Ich höre draußen Kinder lachen, es regnet aufs Meer. Das Telefon klingelt, ich nehme den Hörer ab, ich sage deinen Namen. Du bist es nicht, es ist ein Vertreter für Tiefkühlkost, er ist aufdringlich, er redet über Großmutters Apfelkuchen, von Cremerollen, einer Pumuckltorte. Ich lege den Hörer zurück, ich gehe nicht mehr ans Telefon, ich rufe niemanden mehr an. Ich lasse mir Wein bringen und Essen, nur deshalb stehe ich auf. Ich gehe zur Tür, um das Essen in Empfang zu nehmen, den Wein. Ich hole die Zeitungen an der Eingangstür, die Post, ich gehe wieder zurück. Es ist jeden Tag dasselbe, derselbe Weg, zur Tür, und wieder zurück. Ich lese die Zeitungen nicht, ich lese keine Zeitung mehr, ich öffne die Post nicht. Ich esse, ich trinke, ich sehe fern, ich fange wieder an zu rauchen. Ich rauche, bis mir schlecht wird, bis ich wieder damit aufhöre, wie mit dem Trinken, mit dem Fernsehen. Ich rauche und trinke bis zur Übelkeit, ich sehe fern bis zum Erbrechen. Ich fange jeden Tag von vorne an, ich rauche, ich trinke, ich sehe fern, und ich höre wieder damit auf. Und dann beginnt es von vorne, bis ich es nicht mehr ertrage: die Weinflaschen, die Essenschachteln, die Zigaretten, die ungelesenen Zeitungen, die ungeöffnete Post, das Fernsehen, mich selbst. Ich ertrage mich nicht mehr, nicht auf diese Weise, ich halte diesen Kummer nicht mehr aus. Ich betrachte mich im Spiegel, mein Körper ist dick und aufgeschwemmt, meine Haut ist bleigrau, fast schwarz. </div>
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Und dann geht es vorbei. <br />Nach fünf Monaten ist es vorbei. <br />Ich wasche mich wieder. <br />Ich rasiere mich. </div>
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An einem Sonntagmittag bringe ich die leeren Flaschen zu den Containern, die Zeitungen, die Zigaretten- und Essenschachteln. Die Leute sehen mich an, sie schauen sich nach mir um. Sie zeigen mit dem Finger auf mich, reden hinter vorgehaltener Hand. Die Kinder laufen lachend hinter mir her. Es ist mir egal, die Kinder, ihr Lachen, diese abscheulichen Leute, worüber sie reden, was sie von mir denken, ihre Blicke, das interessiert mich nicht. Ich konzentriere mich auf mein Atmen, darauf, daß ich nicht ohnmächtig werde. Ich atme schwer. Ich weiß, es sind die Zigaretten, der ganze Dreck, den ich gegessen habe, die Burritos, die Enchiladas, die Frühlingsrollen, die Desserts, die Fertigkuchen, der Dreck, den ich im Fernsehen gesehen habe, die Serien, die Shows, die Kochsendungen, die gutaussehenden Gerichtsmedizinerinnen, die Nachrichten, die abstoßenden Körper der Frauen in Erotik nach Mitternacht, die Dokumentationen über Edelsteine, Massentierhaltung, Finanzkrisen, Serienmörder, gedopte Radrennfahrer, Klimaerwärmung, korrupte Politiker, mißbrauchte und ermordete Kinder, Supermodels, Osama Bin Laden, über Menschen, die auf allen Vieren laufen, und Frauen um die Vierzig, die sich freiwillig ihre inneren Schamlippen beschneiden lassen, um sich sexuell wieder attraktiver zu fühlen. Die sagenhafte Dummheit der Welt, zusammengedrängt in diesem Fernsehkasten, Lügen einer stillstehenden, bedeutungslosen Zeit, in die die Körper stürzen wie in eine sternenlose Nacht, mir ist schwindlig davon. </div>
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Ich ziehe das rote Sofa auf die Terrasse, ich habe Angst, es nicht zu schaffen, Angst, daß ich jemanden aus der Nachbarschaft bitten muß, mir dabei zu helfen, Angst vor den Fragen. Ich will nicht, daß mich jemand fragt, weshalb das Sofa auf die Terrasse soll, nach dieser unbedingten Notwendigkeit, es nach draußen zu bringen, oder daß mich jemand nach dir fragt. Ich will nicht über dich sprechen, will dich vergessen. Es lohnt nicht mehr, an dich zu denken, du bist es nicht wert. Ich brauche einen ganzen Tag für das Sofa, ich fühle mich erschöpft, ohne Kraft, es ist sicher das Herz, das gebrochene Herz. Ich sitze schweißgebadet auf dem Sofa, auf der Terrasse, nachdem ich es geschafft habe, ich biege mich vor Lachen, weil mein Herz gebrochen ist und es trotzdem nicht aufhört: zu lieben, von dir getrennt und trotzdem mit dir zusammen zu sein. </div>
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In irgendeiner Nacht beginne ich einen Brief an dich, ich schreibe: Du warst ein Ereignis, und nun wirst du in Vergessenheit geraten. Ich schreibe weiter: Ich vergesse dich nicht, mehr als alles auf der Welt liebe ich dich. Ich schicke den Brief nicht ab, ich lege ihn zu den anderen, die ich ebenfalls nicht abgeschickt habe, es sind viele, vielleicht hundert, sie liegen alle in einer Weinkiste. Ich wähle deine Telefonnummer, ich warte auf den Anrufbeantworter, auf deine Stimme, die sagt: Freue mich über gute Nachrichten. Ich lege auf, ich wähle erneut. Abermals höre ich deine Stimme, ich sage nicht: Ich vergesse dich nicht, mehr als alles auf der Welt liebe ich dich. Ich sage nichts, ich höre nur deine Stimme, ich lege wieder auf. Ich habe Tränen in den Augen, wegen deiner Stimme, weil ich keine gute Nachricht für dich habe, weil ich es nicht sagen kann: Ich vergesse dich nicht, mehr als alles auf der Welt liebe ich dich. Wegen all dieser Briefe in der Weinkiste, weil ich nicht fertig werde mit dir. Weil ich dich lange genug gesehen habe, um dich nie mehr zu vergessen. </div>
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Ich weiß nicht, warum das alles, es gibt andere Frauen, intelligente, schöne Frauen, die ein Ereignis sein könnten, die Einzige, solche Frauen, die ich lieben könnte. Es gibt den Atlantik vor meinem Fenster, den leeren Himmel, das helle Licht, die Farben, die Musik. Da sind die herrlichen Gärten in den Hügeln, die Stechpalmen und Lebensbäume, die Hortensien, die Kinder am Strand. Vor mir ist der Atlantik, der Anfang von allem. Es ist nicht zu spät, von dieser Liebe zurückzukehren. </div>
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Es ist der erste Tag, es ist Sommer, ich gehe auf den Markt. Zum ersten Mal seit langem bin ich wieder unter Menschen. Ich verlasse die Wohnung, um unter Menschen zu sein, um einzukaufen, was für eine unglaubliche Sache. Ich kaufe Zucchini, Auberginen, Tomaten, eine große Papaya, zwei Mangos, einen Fisch. Später stehe ich in der Küche, ich schäle eine der Mangos, ich halte sie mit beiden Händen, ich beiße hinein, der Saft läuft mir am Kinn hinunter zum Hals, sie schmeckt köstlich, diese Mango ist ein Fest. Ich zerkleinere das Gemüse und die Papaya, ich bereite alles in der großen Pfanne zu, nehme Koriander, Nelken, Zimt, ein wenig Kreuzkümmel, schwarzen Pfeffer, es duftet herrlich, ich gebe Safran dazu. Ich grille den Fisch, ich esse, ich mache weiter. Ich lese die Zeitung, höre im Radio Musik. Ich gehe hinunter zum Strand, ich komme allein zurecht. Die Tage und Nächte vergehen, ich bin ohne dich, ohne deinen Körper, ohne den Klang deiner Stimme, ohne deine Umarmungen und Küsse. Ich weine nicht mehr tagelang, ich trinke nicht mehr. Ich koche, ich esse, ich bin am Leben, was für ein Erlebnis. <br /> (…)</div>
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<br /></div>
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Heute sind drei Mädchen am Strand, sie sind weiter vorne, in der Nähe des Wassers. Sie tragen bunte Kleider, Anoraks und Gummistiefel. Neugierig betrachten sie die Möwen, ihre verrenkten, teilweise zerfetzten Körper, mit den Füßen schubsen sie die verendeten Tiere von einer Seite auf die andere. Das Mädchen, das größer ist als die beiden anderen, sammelt kleine Holzstückchen und bringt sie den anderen, es trägt eine rote Kappe, die ihm tief im Gesicht sitzt. Die Mädchen untersuchen gewissenhaft die Kadaver der Möwen, neugierig heben sie die zerfledderten Gefieder mit ihren Stöckchen an, betrachten die heraushängenden Innereien, die über den Schnäbeln weit aufgerissenen Augen. Als ich näherkomme, schaut das Mädchen mit der roten Kappe auf und sieht mich eine Minute oder länger ununterbrochen an. Unter seinem Blick fühle ich mich, als wäre ich in der Sonne ganz durchsichtig geworden, wie eine Limettenscheibe, wenn man sie ins Licht hält. </div>
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Das Mädchen holt ein Schweizer Messer aus seiner Tasche, es beginnt die Möwe zu zerschneiden, als hätte es nie etwas anderes getan, es ist geschickt. Auch die beiden anderen Mädchen, die mit ihren Stöckchen den aufgeschnittenen Körper offenhalten, wissen offenbar Bescheid. Das kindliche Begehren macht, daß der tote Körper nicht abstoßend wirkt, die Mädchen sind fasziniert von dem, was der Tod übriggelassen hat. <br />Ob das hier das Herz ist, fragt das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln. <br />Das Herz ist ziemlich groß, sagt das Mädchen mit der roten Kappe. <br />Vielleicht war sie ja verliebt, sagt das dritte Mädchen. <br />Die anderen Mädchen stimmen dem Gesagten zu. <br />Die Mädchen sind konzentriert, sie graben mit ihren Händen ein Loch in den Sand. <br />Das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln erzählt von seinem Onkel. <br />Es sagt: Er ist kein normaler Mensch mehr, seitdem meine Tante ihn verlassen hat, er versteht nicht, daß sie fort ist. Er sagt, daß er nicht wußte, daß sie unglücklich war. <br />Und was sagt deine Tante, fragt das Mädchen mit der roten Kappe. <br />Das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln verdreht die Augen. <br />Es sagt: Sie hat erzählt, daß mein Onkel ihr jeden Tag schreibt und daß sie seine Briefe nicht liest. Sie wirft sie weg. <br />Wie gemein das ist von deiner Tante, sagt das dritte Mädchen. <br />Gleich darauf spricht es von der Scheidung seiner Eltern und daß sein Vater die jüngere Schwester ihrer Mutter geheiratet hat und daß sie ein Kind miteinander haben. <br />Es sagt: Meine Mama sagt, daß keiner den anderen so lieben kann, wie er es braucht, es sei vergeblich.<br />Dann erzählt das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln abermals von seinem Onkel, es berichtet, daß er trinkt. <br />Es sagt: Er geht seit Monaten nicht mehr raus. Er hat zu mir gesagt, da ist ein Monster in der Wohnung, das ihn nicht vorbeiläßt. <br />Das muß ein komisches Monster sein, wenn es dich zu ihm reinläßt, aber ihn nicht mehr raus, sagt das Mädchen mit der roten Kappe. <br />Es schüttelt den Kopf und lacht. <br />Die Mädchen legen die Möwe vorsichtig in das Loch und schieben mit ihren Händen den Sand darüber, bis das Loch mit der Möwe darin geschlossen ist. <br />Das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln sagt: Jedes Mal, wenn ich bei ihm war, erzähle ich meinen Eltern hinterher, wie schlecht es ihm geht. Aber sie hören nie richtig zu. <br />Man kann mit seinen Eltern über immer weniger reden, sagt das Mädchen mit der roten Kappe. <br />Es blickt auf, es schaut eine Weile auf das dritte Mädchen. <br />Kopfschüttelnd sagt es: Aber daß dein Vater die Schwester deiner Mutter geheiratet hat, das ist schon kraß. <br />Wenn ich mir vorstelle, daß mein Vater meine Tante heiratet, das wäre voll eklig, sagt das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln. </div>
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Vom anderen Ende des Strandes nähert sich langsam ein weiteres Kind. Es blickt beim Gehen nach unten. Der schmächtige Körper steckt in Jeans und einer grauen Kapuzenjacke. Es zieht sein Bein hinter sich her. Das Kind ist Matti. Als er herankommt, begrüßen die Mädchen ihn. Matti gibt mit nichts zu erkennen, daß er sie gehört hat, er schweigt, blickt weiter nach unten. Mit seinem kranken Fuß schiebt er ein paar der Möwen zur Seite und legt die mitgebrachten Blumen in den Sand. Es ist die Stelle, wo letzte Woche Agathas Körper lag, nachdem die Polizisten ihn an den Strand geschafft hatten. Matti wirkt unschlüssig. Von irgendwoher hört man eine Frauenstimme, die offenbar einem der Mädchen gilt. Im nächsten Moment tritt eins der Mädchen auf eine tote Möwe, ein Knacken ist zu hören, wie wenn Knochen brechen. Matti hebt seinen Blick und schreit. Es ist ein markerschütternder Schrei, der über den Strand zieht, wie in den Nächten zuvor der Sturm. Matti klingt wie ein verletztes Tier, in seinem Gesicht, das sich zusammenzieht, bilden sich Falten, die wie kleine Kratzer und Risse aussehen. Für einen Moment tritt hinter dem Gesicht, das man sieht, die Spur eines weiteren Gesichts hervor, eins, das man sich nicht vorstellen konnte. Ganz kurz scheint darin auf, was er erlitten hat und wieviel Kraft er aufbringen muß, wenn er es überall spürt, so wie eben, wo er einfach nur dasteht und nichts unternehmen kann, um sich in seinem Körper warm und glücklich zu fühlen. Dann bricht der Schrei jäh ab. Matti schlägt die Hände vors Gesicht, er rührt sich nicht mehr, steht stocksteif da, er wirkt absolut schutzlos. Die Mädchen sind erschrocken. Sie sehen sich verzweifelt an, werfen mir hilflose Blicke zu. Sie wollen fort. Und dann sind sie fort. Und ich sehe Matti an, und ich weiß nicht, was ich tun soll. </div>
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Du sagst: Geh zu ihm, du kannst seine Angst in dein Herz lassen. <br />Deine Stimme, das, was du sagst, bringt mich zum Erstarren. <br />Ich sage: Ich kann es nicht, es ist unmöglich. <br />Du trittst an mich heran, du legst beide Hände auf meinen Rücken. <br />Wegen meiner vollkommenen Unbeweglichkeit, die du bemerkst, als du mich berührst, bist du erschrocken. <br />Du sagst: Denke an den anderen Jungen, der auch blaue Augen hatte, an den mit dem blondem Haar, der in die Parks ging und dort Dinge in der Erde vergrub, damit sie sich entwickeln können. Dieser Junge, der sich versteckte, um gefunden zu werden. <br />Ich spüre deine Hände kaum unter den harten Schichten aus Angst, Schweigen und Reglosigkeit. <br />Ich sage: Nein, er versteckte sich, um verborgen zu bleiben. <br />Deine Hände liegen weiter auf meinem Rücken, du streichelst mich, ich möchte um Hilfe schreien. <br />Du sagst: Der Junge wollte nicht mehr wegen jedem kleinen Wunsch schreien und um sich schlagen müssen, aber er wollte gefunden werden. Du weißt, daß es so ist. <br />Ich will dir nicht länger zuhören, ich will, daß du aufhörst. <br />Die Kluft zwischen uns vergrößert sich. <br />Und dann verringert sie sich wieder. <br />Ich sage: Was weiß so ein Junge schon, was er sich am meisten wünscht. <br />Du sagst: Daß wir seinem Schmerz Liebe entgegenbringen, wenn wir ihn endlich gefunden haben, und daß er sieht, daß die Dinge, die er in der Erde vergraben hat, sich entwickelt haben. <br />Ich mache eine abwehrende Bewegung mit meinen Schultern. <br />Du läßt dich davon nicht beirren, deine Hände bleiben auf meinem Rücken, du trittst noch näher an mich heran, ich kann deinen Atem in meinem Nacken spüren. Dein Atem und deine Hände machen, daß ich meine eigene Haut unter meiner Schutzhaut spüre und wie sich diese Schutzhaut durch deine Berührungen verringert. <br />Du sagst: Er ist wie du, er wünscht sich, daß die Dinge, die er vergraben hat, sich so entwickeln, daß Bitterkeit und Zorn in ihm verschwinden, daß er mit Freude und Entschlossenheit weitermachen kann. <br />Ich höre die Schreie eines Kindes, das tief drinnen in seinem Körper lebt, weit genug entfernt von allem, ein Kind, das weder seine Oberflächen kennt, noch die der anderen. Es ist das Kind mit den blauen Augen und dem blonden Haar. <br />Zögernd sage ich: Dazu muß er gefunden werden. <br />Ich spüre deine Hände auf meinem Rücken anders als zuvor. Es kommt mir seltsam vor, auf diese Weise von dir berührt zu werden, ich kenne es nicht. Du mußtest erst gehen, mich verlassen, um mich auf diese Weise berühren, um mir sagen zu können, was nötig ist, hier, in dem Geschriebenen. <br />Du sagst: Geh jetzt zu ihm. </div>
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Ich trete von hinten an Matti heran, ich lege meine Hände auf seine Schultern. Er steht weiter bewegungslos da, er hält die Luft an, hört auf zu atmen. Sein ganzer Körper wirkt zerbrechlich, wie aus Glas. Er ist angespannt, sein Rücken ist hart. Es muß ihm weh tun, sich so anzustrengen, auf diese Weise zu atmen, die zu Fäusten geballten Hände vor sein Gesicht gepreßt. Ja, es tut ihm weh. Und dann, ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, eine halbe Stunde oder länger, atmet er aus, ganz vorsichtig, damit niemand es hört. Ich möchte ihn irgendwie dazu bringen, die zusammengepreßten Hände aus seinem Gesicht zu nehmen, oder seine Hände öffnen, damit er sein Gesicht dort hineinlegen und es ausruhen kann. Ich will ihn an den Rand des Meeres führen und ihm etwas erzählen, während wir uns in den Sand setzen, vielleicht etwas über den Ozean, den Wind und die Möwen. Alles Mögliche über das Leben, das wie ein Stück farbiger Stoff ist, ein Theatervorhang, der Falten wirft und der manchmal zerknittert, und dahinter nichts, wovor er solche Angst haben muß. Ich stehe weiter hinter ihm, meine Hände liegen auf seinen Schultern, ich trete näher an ihn heran. Ich suche die zu Fäusten erstarrten Hände vor seinem Gesicht, lege von hinten meine Hände auf seine Hände, ich umfasse sie. Und dann warte ich. Und minutenlang geschieht nichts. Und dann sehe ich die Splitter von dem, was in ihm zerbrochen ist. Ich erkenne die zerbrochene Stelle in ihm, ähnlich der an seinem Fuß, dieser Knochen, der einmal gebrochen war und anschließend nicht mehr richtig zusammenwachsen konnte. Ich stehe jetzt nah bei Matti, berühre seinen Körper, ich atme seinen Geruch, der identisch ist mit dem auf meiner Haut. Ich beginne damit, seine Hände zu streicheln, spüre sein Herz, wie es in seinem Körper klopft, wie dieses Klopfen macht, daß sein Herz an meinem Körper anhaftet. Und dann beginnt dieses Herz mit einem Mal zu hämmern, es schlägt mit einer Heftigkeit gegen die inneren Wände seines Körpers, als wollte es ihn aufsprengen, während der übrige Körper nach außen hin völlig ruhig ist, reglos. Plötzlich stößt Matti meine Hände aus seinem Gesicht und macht einen Schritt nach vorne, er stolpert, geht zu Boden, überrascht von der Heftigkeit seiner eigenen Bewegung. Er versucht, wieder auf die Beine zu kommen, kniet vor mir, er sieht mich an, sein Blick ist verzweifelt, in seinen Augen stehen Tränen und etwas Unlösbares. Ein paar der Splitter, die in seinem Körper nach innen gerichtet sind, fallen heraus, ich bücke mich danach, sammle sie ein. Sie sehen wie hellbraune Glasscherben aus, an einigen der scharfen Kanten sehe ich getrocknetes Blut. Ich knie mich neben Matti, ohne ihn zu berühren, ohne ihm zu nahe zu kommen. Ich weiß, sein Herz könnte versagen, wenn ich versuchte, seinen kindlichen Körper meiner Nähe auszusetzen, bevor sich der durch meine Berührung entstandene Riß in ihm wieder geschlossen hat. Ich halte die Splitter ins Licht und lasse mir ihre wahre Geschichte erzählen, sehe das Böse, das überall eingedrungen ist, ich erkenne es wieder. Ich empfinde tiefen Ekel. Ich werfe die Splitter in den Sand, ich schneide mich, Mattis Blut und meins vermischen sich. Nun gibt es kein Entkommen mehr. </div>
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Matti streckt mir seine Hand entgegen, es ist wie ein Flehen. Ich ergreife seine Hand, sie ist warm, diese Hand, die warme Hand eines Jungen mit blauen Augen und schwarzem Haar. Ich erkenne in ihm diesen anderen Jungen, den in mir, den mit den blauen Augen und dem blonden Haar, von dem ich immer noch viel zu wenig weiß. Mattis schwarzes Haar, das auch blond ist, seine blauen Augen, dasselbe Blau wie bei dem anderen Jungen, das Blau, in dem der Krieg ist, die Besetzung, fremde Truppen, Schwärze, Gefangennahme, Beraubung, Brutalität, Schläge, die Folter. Da ist eine andere Sprache als die eines Kindes, eine harte Sprache, die befiehlt, die einen zum Schweigen bringt, zum Ersticken, zum Umfallen. Die Sprache der Lager. Mich überkommt eine wahnsinnige Angst, von der ich weiß, daß sie nichts bedeutet, weil die Liebe in mir, mit der ich Mattis Hand halte, eine größere Macht besitzt als das, sie ist mächtiger als alles andere. Ich halte Mattis Hand mit deiner Liebe, mit all der Liebe, die wir zusammen geschaffen haben. </div>
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Matti hat seine Hand zurückgenommen, er hat sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Er steht nun mit dem Rücken zum Meer und zeigt auf die Stelle, wo die Blumen liegen, die toten Möwen, dorthin, wo Agathas Körper lag. <br />Er sagt: Die Menschen machen alles kaputt.<br />Seine Stimme klingt müde, erschöpft. <br />Matti setzt sich in den Sand, er sieht zum Himmel, dann zum Meer, hört auf die Geräusche, die es macht, auf den Wind, der von der Art ist, daß er nichts von dem verweht, was geschehen ist. <br />Matti versucht ein Lächeln. <br />Ohne mich anzusehen, sagt er: Du kannst jetzt neben mich kommen. <br />Ich stehe auf und gehe zu ihm, ich setze mich neben ihn in den Sand, an den Rand des Meeres.<br />Matti ergreift meine Hand, er schmiegt sich an mich, bis ich ihn spüre, das Gewicht seines warmen Körpers, seine ganze Zartheit, es ist unbeschreiblich. <br />Er sagt: Ich dachte immer, es ist besser, allein zu sein, wie dumm von mir.<br />Ich sage: Man täuscht sich meistens, was das angeht. <br />Matti schaut mich an, er blinzelt angestrengt mit den Augen, als müßte er gleich weinen. <br />Er will mir etwas sagen, fängt an, es mißlingt ihm, er schweigt. In einer Mischung aus Ärger und Erstaunen schüttelt er den Kopf. Er fängt erneut an, und abermals mißlingt es. <br />Irgendwann sagt er leise: Ich hatte noch nie einen Freund. Ich glaube, du bist jetzt mein Freund. </div>
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Und jetzt singt sie noch einmal, Agatha, ja, sie singt, ich höre sie singen, ein Chanson von Sardou, und sie tanzt dazu, ein letzter Tanz, sie tanzt einfach, sie vergißt alles, vergißt diesen Mann, seinen Verrat, den Schmerz, den er ihr zugefügt hat, ihr ganzes Unglück, sie ist wunderschön, unwiderstehlich, es ist herrlich, ihr zuzusehen, Agatha, die eine Grenze überschritten und ihre Heilung dem Tod anvertraut hat, bevor die Welt zu ihr kommen konnte, am Rand des Meeres, wo sie singt und dazu tanzt, und ich, ich könnte darüber weinen, die ganze Zeit, weil ich mir so sehr wünsche, daß sie zu den Lebenden gehört, daß sie zu ihnen zurückkehrt, zu den Lebenden, an die man denkt, die man lieben muß, die man mehr lieben muß, noch mehr, wie die Blumen in den Parks ihren Duft verströmen. </div>
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Es ist Mittag. Die Sonne ist wie ein heller, gellender Schrei. Ich gehe über die Holzplanken am Meer entlang. Das Meer ist ruhig und wie durchsichtig in der prallen Sonne. Ich setze mich auf eine der Bänke. Der noch menschenleere Strand ist wie ein glitzernder Teppich, in eine goldgelbe Wärme gehüllt. Auf einer anderen Bank sitzen ein Junge und ein Mädchen und reden leise miteinander. Neben ihnen stehen ihre schweren Rucksäcke. Hinter ihnen die ungeheuere Ausdehnung des Strandes, die unendliche Leere des Ozeans. Das Mädchen zieht nacheinander seine Schuhe und Strümpfe aus, und der Junge nimmt die Füße des Mädchens, legt sie in seinen Schoß und massiert sie. Als das Mädchen seinen Kopf in meine Richtung dreht, sehe ich, daß seine eine Gesichtshälfte verbrannt ist. Da ist eine riesige Brandnarbe, die ihm bis zum Auge reicht und über seine Lippen hinunter zum Kinn. Der Junge bemerkt meinen Blick. Schützend legt er seine Hand auf das zerstörte Gesicht seiner Freundin, er küßt es, liebevoll und zärtlich, auch die zerstörte Hälfte. Das Mädchen erwidert sein Küssen. Die beiden küssen sich, sie küssen sich mit geschlossenen Augen und mit offenen Augen, sie können nicht genug davon bekommen, sie küssen sich die ganze Zeit. Dann kommen die Kinder. Sie steigen die Treppe hinunter zum Strand, sie schauen aufs Meer, laufen sofort hinein, sie lachen, sie tauchen sich gegenseitig unter. Sie sind laut und verrückt und voller Anmut. Die Großen nehmen die Kleinen auf ihre Schultern, bis sie schreien vor Freude. Danach kommen die Erwachsenen, sie rufen nach den Kindern, sie reden miteinander, sie streiten, es ist wie jeden Tag. Ich frage mich, warum diese Leute zusammenbleiben, ob sie überhaupt noch wissen, warum sie da sind, was sie voneinander wollen. Eine Frau sagt zu einem Mann: Ich bin nicht auf der Welt, um dich glücklich zu machen. Ich bin auf der Welt, um selbst glücklich zu sein. Sie hört sich nicht glücklich an, als sie es sagt. Ich glaube, sie würde sich besser fühlen, wenn sie auch auf der Welt wäre, um diesen Mann glücklich zu machen. Dazu müßte sie ein wenig so sein wie der Junge auf der Bank, der abwechselnd die Füße des Mädchens reibt und es küßt. Dieser gutaussehende Junge, der andere Mädchen küssen könnte, die keine Narben haben. Das er dieses Mädchen küßt, begeistert mich für einen Moment. Auch, daß dieses Mädchen jemanden hat, der es küßt. </div>
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Während ich dies schreibe, höre ich die Stimme des Jungen wieder: Du bist die ganze Welt. Das Mädchen rührte sich nicht. Es betrachtete das Gesicht des Jungen wie eine Zeichnung. Es wartete noch, ohne etwas zu sagen. Im nächsten Moment sah man im Gesicht des Mädchens, daß es so war, wie der Junge gesagt hatte. Es war wahr geworden, was er gesagt hatte. Das Mädchen war die ganze Welt geworden. Als ob der Junge dem Mädchen und allen, die es sehen konnten, etwas zurückgegeben hatte. Ich war mir deshalb so sicher, weil das Mädchen mit einem Mal unversehrt wirkte, die riesengroße Narbe war plötzlich verschwunden, oder man achtete nicht mehr darauf. Es war so, als gäbe es die Narbe nicht mehr. Jäh war es möglich geworden, die ganze Welt in einem Mädchen zu sehen und sie zu lieben, bloß wegen einiger Worte und der Blicke eines Jungen. </div>
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Ich sehe diese beiden jungen Liebenden eingeschlossen in der unbändigen Freude des Küssens, gefangen in diesen Augenblicken, in denen man die Ewigkeit denken könnte. Es ist vielleicht eine jener herrlichen Gelegenheiten, in denen die Liebe auf eine Weise erwidert wird, als könnte sie niemals weiterziehen, als könnte nichts sie jemals zum Verschwinden bringen. Da sind ihre Worte zwischen den Küssen, das, was sie sagen und sich einander versprechen, all die Worte der Liebe, die gesagt werden müssen, damit man es glauben, damit man weiter kommen und gehen, sich weiter sehen kann. Du bist ein Ereignis, komm, ich nehme dich mit, ich bleibe bei dir, ich verlasse dich nicht, was für ein Glück mit dir, ich liebe dich mehr als alles. Man muß diese Worte sagen, man muß sie wiederholen, die Treueschwüre und Versprechungen, sie müssen sich wie eine Decke über einen legen. Man muß jedesmal neu daran glauben und damit glücklich sein, damit die Liebe stattfinden kann, um am Leben zu bleiben. Man muß verstehen, daß es mit der Liebe ist wie mit der Sonne, die am Abend den Himmel verläßt und im Meer versinkt und am nächsten Morgen zurückkehrt, und das seit Abermillionen Jahren. </div>
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<br />Es klopft an der Tür. <br />Eine Stimme sagt: Ich bin es, Matti. <br />Ich öffne die Tür.<br />Matti steht da, er sieht mich unsicher an, er wartet ab. <br />Er sagt: Du hast gesagt, ich kann vorbeikommen. <br />Seine Stimme klingt leise, verschüchtert. <br />Er sieht mich eine Weile unschlüssig an. Dann tritt er langsam ein. <br />Er sagt: Ich dachte schon, du wärst fort. <br />Aus seinem Mund klingt es, als wäre ich für immer fortgegangen, als hätte ich ihn verlassen. Ich frage ihn, wie er darauf kommt. <br />Er sagt: Ich habe mehrere Tage hintereinander bei dir angerufen. <br />Ich erinnere mich an das Läuten des Telefons alle zwei Stunden. Daran, daß ich es irgendwann nicht mehr beachtete. Ich antworte ausweichend. <br />Ich sage: Wahrscheinlich war ich am Strand. <br />Matti schweigt. Er schweigt so lange, bis ich denke, daß er womöglich überlegt, ob er mir glauben kann. <br />Ich sage: Ich war da, ich hatte keine Lust, mit jemandem zu sprechen. <br />Er nickt zustimmend. Das Vorwurfsvolle verschwindet aus seinem Blick. Sein Gesicht entspannt sich. Er geht durch das große Zimmer auf die Terrasse. Er deutet verwundert auf das Sofa. <br />Er sagt: Warum steht das hier draußen. <br />Mit einem Mal bin ich distanziert. <br />Ich sage: Ich wollte es so. <br />Der Klang meiner Stimme erschreckt mich. <br />Matti gibt nicht zu erkennen, was er davon hält. Ob er es überhaupt bemerkt. Er zeigt hinaus aufs Meer, auf die Wellen. <br />Er sagt kopfschüttelnd: Das ist ziemlich dumm von dir. Das Salz wird es ruinieren. <br />Er streicht mit beiden Händen behutsam über den roten Stoff. Sein Blick fällt auf die Fotografie, die dort liegt, auf den geschriebenen Seiten. Er sieht dich auf der Fotografie, wie du neben mir auf dem roten Sofa sitzt. Das Sofa steht im großen Zimmer, im Hintergrund ist eine Wand zu erkennen, auf die Licht fällt. Das Licht ist weniger hell als das Licht deines Lachens. Matti betrachtet aufmerksam das Bild. Er versteht vielleicht sofort alles. <br />Er sagt: Du hättest eine Decke drauflegen und es drinnen lassen können. <br />Er setzt sich neben die geschriebenen Seiten. Er nimmt die Fotografie in beide Hände und betrachtet dich darauf. <br />Er sagt: Wie ist sie so? <br />Ich spüre einen Schmerz und jenseits des Schmerzes so etwas wie Freude. <br />Ich sage: In all den Jahren gab es keinen einzigen Tag, an dem ich nicht hingerissen von ihr war. Manchmal konnte ich in ihrer Nähe kaum atmen. Als wir uns das erste Mal küßten, dachte ich, daß ich nie wieder jemand anderen küssen würde. <br />Matti wiegt die Fotografie in seinen Händen. Ich glaube, er stellt sich vor, wie du bist. Es gelingt ihm. <br />Er sagt: Sie sieht aus wie jemand, der große Angst hat, wach zu sein. <br />Matti legt vorsichtig die Fotografie zurück. <br />Er sagt: Sie ist schön. Ich kenne niemanden, der so schön ist wie sie. <br />Was er sagt, macht mich verlegen. Ich wende meinen Blick ab, jedoch nicht für lange. Denn sofort vermisse ich es, Matti anzusehen. Dieser kleine, tapfere Kerl, mit seiner Anmut und Zartheit! Ich möchte ihn die ganze Zeit anschauen, ihn bewachen und nicht aus den Augen lassen, nicht eine Minute. Ich blicke ihn wieder an. <br />Ich sage: Hast du schon mal ein Mädchen geküßt. <br />Er schweigt eine Weile. Wahrscheinlich überlegt er, ob er antworten soll. <br />Schließlich sagt er: Letzten Sommer, Dorothée, meine Schwester. Sie ist zwei Jahre älter. Sie hat mich geküßt, und ein bißchen habe ich sie wieder geküßt. Und noch ein bißchen mehr. <br />Er lächelt kurz. Er erinnert sich, er schließt die Augen dabei. <br />Er sagt: Küssen und das alles, das muß man üben. Das ist wie Traurigsein oder Bärenschießen. <br />Er hält die Augen geschlossen und läßt die Bilder in sich aufkommen, läßt sie von irgendwoher wieder zurückfließen, bis sie ihm von sich und Dorothée erzählen. </div>
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Während ich darüber schreibe, sehe ich dies: Sie, Dorothée, sie sitzt in Bluse und Unterhose auf dem Bett. Ihre Hände malen im Halbdunkel des Zimmers kleine Kreise auf die Bettdecke. Sie sieht aus dem Fenster, als Matti das Zimmer betritt. Er setzt sich neben sie. Er beobachtet abwechselnd sie, das Spiel ihrer Finger auf der Bettdecke und durch das Fenster, in der Ferne, das glatte Meer. Er will nur bei ihr sein, in der Abenddämmerung, und ein paar Worte reden. Er sagt etwas, woraufhin sie ihn ansieht und lächelt. Etwas an ihr überrascht ihn. Er kann nicht sagen, was es ist. Es sind nicht die Tränen in ihrem Gesicht, die kennt er. Ihre Tränen existieren neben allem, sogar neben ihren Lächeln. Ihr Körper, so glaubt er, ist voller Tränen, von Gewalt durchtränkt, wie sein eigener. Die Tränen kommen von überallher, aus ihren Augen, ihrem Mund, aus ihren Nasenlöchern, aus jeder Öffnung ihres Körpers. Sie kommen aus ihrem Lächeln, das über alle Maßen verwirrend ist, geheimnisvoll, von auffallender Schönheit, unvergeßlich, weil es sich mit dem anderen, dem opaken, vollkommen undurchdringlichem in ihrem Gesicht vermischt. </div>
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Ich sehe: Dorothée wendet ihr Gesicht wieder dem Fenster zu. Ihre Hände liegen ruhig auf der Bettdecke. Ihr Blick ist auf einen bestimmten Punkt des Meeres gerichtet. Sie ist weit weg, unerreichbar. Matti ist still. Er beobachtet sie, wie sie aus dem Fenster hinaus auf das ferne Meer schaut. Er versucht nicht in ihr Schweigen einzudringen. Er läßt sie, wie er sie schlafen lassen würde. Die Dunkelheit schreitet voran, sie dringt in das Zimmer. Das Meer in der Ferne ist bald nicht mehr zu sehen. Mit einer Handbewegung schiebt Dorothée das Fenster zurück, ohne es zu schließen. Sie zündet eine Kerze an. Matti sieht Dorothée im Licht der Kerze. Er glaubt, daß ihre Silhouette schimmert. Sie fragt ihn, ob sie ihm einen Kuß geben darf… Er muß keinen Moment darüber nachdenken, dazu ist das Einverständnis zwischen ihnen zu groß. Ja, du darfst… Aber danach ich, versprochen… Und Dorothée dreht sich zu ihm. Versprochen, ja… Er schaut in ihre Augen und findet Dorothée auf einmal auf andere Weise schön. Dorothée rückt näher an ihn heran. Sie beugt sich zu ihm. Ihre Arme umfassen seinen Körper. Er spürt ihre Wärme. Es ist anders als sonst. Durch das angelehnte Fenster hört er das Rauschen des Meeres. Dorothée küßt ihn aufs Haar, auf die Augen, auf den Mund. Er hat Tränen in den Augen, als er ihr Küssen erwidert, als ihre Zungenspitzen sich berühren, außerhalb ihrer Münder. Sein Herz klopft. Er zittert, als sie ihre Bluse öffnet und seine Hände auf ihre Mädchenbrüste legt. Instinktiv streichelt er ihre Brüste, er drückt sie, dann schmiegt er sich in Dorothées Arme. Er atmet den Duft der Haut an ihrem Hals, den Duft ihres Haares, bis ihm schwindlig davon wird. Er sieht seine Schwester im Licht der Kerze, ihr Gesicht, ihren Körper, zum ersten Mal seit Jahren nicht voller Tränen. Danach legt er seinen Kopf in ihren Schoß. Er liegt still dort und beobachtet sie. Er spürt die Wärme ihres Schoßes. Die Wirkung, die von dort ausgeht, geht über seine Kräfte. Er kann es sich nicht erklären, dieses seltsame Prickeln in seinem Körper. Er möchte so liegenbleiben, am liebsten für immer, und Dorothée betrachten, sie so lange anschauen, wie es geht, so lange es sie gibt. Obwohl er sich gegen den Schlaf wehrt, eingehüllt in der Wärme ihres Körpers wie in eine Decke, schläft er ein. Dorothée streicht über sein Haar. Sie bleibt bei seinem schlafenden Körper und hält ihn, betrachtet die Feinheit seiner Glieder, ihre unbeschreibliche Zerbrechlichkeit, die unglaubliche Zartheit seiner Haut. Sie beobachtet ihn und seinen Atem, wie seine Brust sich hebt und senkt. Sie beobachtet sich selbst dabei, wie sie ihn beobachtet. Sie spricht zu ihm, die ganze Zeit. Sie flüstert, sagt ihm, daß sein Herz zu ihrem geworden sei und ihr Herz zu seinem, jeder die Hälfte des anderen. </div>
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In Mattis Gesicht erkenne ich, daß er sich nach diesem vergangenen Sommer zurücksehnt. Jener Sommer, in denen die Nächte so warm waren wie die Tage, und er seine Schwester sah, ohne sie im mindesten wiederzuerkennen. Wie er bemerkte, daß ihre Haut, ihr Haar, ihre Gesten und Blicke anders waren als sonst. Seine Finger brannten von der Berührung ihrer Brüste, deren Existenz ihn in unbeschreiblichem Maße verzückte. Dorothées Lippen waren lange genug auf seinen gewesen, um jeden Morgen, wenn er vorm Aufstehen seinen Kopf in den Armen verbarg, daran zu denken. Die ganze Zeit hatte er ihren Geruch in der Nase. Sie roch wie manche Blumen in den Hügeln, deren Schatten er oft beobachtete, bevor die Sonne verschwand. </div>
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Matti öffnet die Augen. Nach mehreren Minuten sagt er: Danach hat sie ihn mit einem Feuer getötet. <br />Er spricht langsam. Als hätte er Angst, beim Reden zu stürzen. Er sagt nicht, um wen es sich handelt, wen seine Schwester getötet hat. Aber es ist offensichtlich ein Mann gewesen. <br />Ohne jede Vorwarnung sagt er: Nachdem er bei mir war. <br />Auch wenn er sich weiter ausschweigt über diesen Mann, der bei ihm war, auch über das, was geschehen ist, sehe ich ihm an, daß er nichts davon vergessen hat. Die Begegnung mit diesem Mann ist nach wie vor in ihm vorhanden. Ich sehe, daß sie unermeßlich ist. Sie ist wie der Sand am Strand, wie die kommende Unendlichkeit. Die Begegnung mit diesem Mann umhüllt seinen Körper mit einer Art Schattenkörper. In diesem Moment ist sein Gesicht von der Begegnung mit ihm gezeichnet, als würde sie gerade stattfinden. Ich sehe etwas, das nie genug Erinnerung werden kann, um Erinnerung zu werden. Matti muß jedes Wort in sich suchen. Seine Verzweiflung, es nicht zu schaffen, kommt wie ein Ersticken in ihm auf. Doch er schafft es. <br />Er sagt: So wie er bei ihr war. <br />Er würgt. Er wartet. Er legt beide Hände vor den Mund. Er würgt abermals. Er wartet weiter. Es vergeht Zeit. Etwas in ihm vibriert und macht, daß er zittert. Er bemerkt es. Sofort versucht er, es zu verbergen. Es mißlingt ihm. Er bemerkt, daß es ihm mißlingt. Er schämt sich deswegen. Er hört auf zu würgen. Er nimmt die Hände vom Mund. <br />Er sagt: Jede Nacht, jahrelang. <br />Matti zeigt mir seinen Schmerz darüber. Dieser Schmerz ist stark und düster. Die Art, wie er ihn mir zeigt, macht, daß ich ihn erkenne, daß er mir ganz nah kommt. Es ist so, daß sein ganzer Körper den Schmerz ausdrückt. Seine Bewegungen und Blicke sind wie ein Schneesturm, der aus allen vier Himmelsrichtungen gleichzeitig kommt. So ein Schmerz könnte den Himmel zum Wanken bringen, solche Spuren hinterläßt er. Matti sieht hinaus aufs Meer. Er spricht jetzt schnell. <br />Er sagt zum Meer: In der Nacht hat Dorothée mich geweckt und gesagt: Matti, wir machen einen Ausflug. Ich habe gesagt: Es ist noch dunkel. Sie hat gelächelt und gesagt: Dann macht es mehr Spaß. Sie hat mir beim Anziehen geholfen, und wir sind hinuntergegangen. Ich habe es sofort gerochen. Ich habe gesagt: Was ist los, es riecht nach Benzin. Sie hat nur weiter gelächelt und gesagt: Es muß sein, damit es aufhört. Ich wußte genau, was sie gemeint hat. Was aufhören mußte, daß war mir klar. <br />Matti schweigt, minutenlang, mit Blick auf den Ozean. Ich folge seinem Blick. Wir sehen gemeinsam den Ozean. Wir schweigen miteinander. Sein Schmerz heult die ganze Zeit. Sein Schmerz ist wie der Wind in manchen Nächten, er will beachtet werden. <br />Dann spricht Matti wieder zum Meer.<br />Er sagt: Als wir auf der Straße waren, hat sie gesagt: Warte hier auf mich. Ich habe ihr nachgeschaut, wie sie zum Haus zurückging. An der Eingangstür hat sie sich noch einmal zu mir umgedreht. Ihr Gesicht war ernst und schön, aber nicht so wie sonst. Da habe ich gewußt, daß das mit dem Ausflug gelogen war und daß etwas Schlimmes passieren wird. <br />Nachdem erneut Zeit vergangen ist, wendet Matti seinen Blick vom Meer ab. Er sieht mich direkt an. <br />Er sagt: Von der Straße aus habe ich ihn gesehen. Er wollte oben aus dem Fenster klettern. Ich glaube, Dorothée hatte die Schlafzimmertür abgeschlossen. Die Flammen waren überall. Dann ist im Haus etwas explodiert. An der Stelle, wo eben noch das Fenster war, waren die Flammen. Die Flammen waren so hoch wie das Haus und noch höher. Er ist ganz darin verschwunden. <br />Ich betrachte Matti, der aufs Meer blickt. Er wirkt erschöpft, wie zerschlagen. Er ist dreizehn Jahre alt. Ein dreizehn Jahre alter Junge, der etwas weiß, was er nicht wissen sollte. <br />Er sagt: Dorothée stand wieder neben mir. Sie legte ihren Arm um mich. Wir betrachteten das Feuer. Sie sagte: Jetzt ist es vorbei. Ich glaubte ihr. Ich war froh darüber. Ich merkte, wie müde sie war und blaß. Ich glaube, sie hatte Angst. <br />Er schweigt abrupt, er sieht nirgendwohin. Er wirkt wie ein Kind, das sich wünscht, daß etwas bleiben soll, daß nicht alles verlorengeht. Ich sehe, was ihm und Dorothée angetan wurde, ich erkenne es wieder. Ich kenne es so sehr, daß ich es in meinem ganzen Körper spüre. Von dem Moment an, als Matti mich ansieht, ist es so, als würde ich mir selbst in die Augen blicken. Ich sehe den Schrei hinter seinen Worten, der von allen Seiten in das Gesagte hineinragt, es aushöhlt und trotz der Worte nur den Schrei übrigläßt. Ich sehe nun auch, wer der Mann war, der in den Flammen verschwand, daß Matti von seinem Vater spricht. Der Mann am Fenster, jener Mann, der in dem Haus verbrannte, das war sein Vater. Und sie, Dorothée, sie hat ihn getötet. <br />Matti sagt: Dann sind die Feuerwehrautos gekommen. Und die Polizei kam. Und überall waren unsere Nachbarn. Und dann hat eine Polizistin Dorothée mitgenommen. Und danach kam meine Mutter, die eine Freundin besucht hatte. Sie hat geweint. Die Luft zitterte davon. Und ich schaute nach oben. Und da war der Himmel, wie eine große dunkle Wiese, auf der die Sterne blühten. Und für jede Träne, die meine Mutter weinte, kam ein neuer Stern. Und plötzlich habe ich sie wieder liebgehabt. <br />Die Art, wie Matti erzählt, macht, daß das Gesagte in meinem Körper ankommt, zuerst wie ein plötzlicher Lärm, der gleich darauf verschwindet, danach ununterbrochen, wie der Wind, der in Sturmnächten von draußen gegen die Wände und Fensterläden schlägt. Ich sehe Matti an. Ich rufe in mir seinen Namen, als wäre er nie beschmutzt worden. Ich rufe Matti wie jemanden, der zurückgekehrt ist, wie einen Heiligen, dessen feingliedriger Körper von einem Riesen zermalmt wurde und der wiederauferstanden ist, nachdem das Blut seiner zahllosen Wunden getrocknet war. Es geschieht, während ich seinen Namen rufe, daß sich ganz tief in meinem Herzen diese schreckliche Wunde abermals öffnet. Obwohl ich sie in- und auswendig kenne, habe ich das Gefühl, als käme ich zum ersten Mal dort an. Ich höre, wie ich meinen Namen flüstere, jenen schrecklichen Namen, mit dem man mich als Kind gerufen hat und seither nie wieder. Einen Moment lang fühlt sich alles kalt an, kalt wie Stein. Es ist, als ob die Zeit nicht mehr fließt, als würde sich ein alter Weg in mir ins Grenzenlose öffnen und alles andere verschließen. Mein Bauch wird hart. Ich atme schneller. Ich fühle mich, als wäre ich gefroren, als ginge das Leben ohne mich weiter, außerhalb von mir. Dann höre ich in mir deine Stimme. Du sagst Worte, die du nie zu mir gesagt hast, als du noch da warst. Es ist vorbei. Du weißt, du hast es gut gemacht. Du hast überlebt. Du warst ein außergewöhnlicher Junge, der unglaublich viel Mut aufgebraucht hat, um am Leben zu bleiben. Du bist ein wunderbarer Mann. Es ist unfaßbar, wieviel du geleistet hat. Der Klang deiner Stimme in mir, das, was ich dich in mir sagen lasse, um es einmal von dir zu hören, ermöglichen mir einen neuen Blick auf mich. Ich sehe, daß ich nicht mehr auf dieselbe Weise in mir stehe wie damals. Es ist noch ungewohnt für mich, mich so zu sehen. Es ist gerade vierzig Jahre her, was wenig Zeit ist für einen Jungen, der die Gewalt überlebt hat, leben zu lernen. Es gibt Tage, da kommt es mir noch vor, als wäre es gestern oder vorgestern gewesen. Als würde ich gerade erst anfangen zu leben. Im Moment lerne ich, was es heißt, ohne dich zu sein. Ich lerne auch, was es bedeutet, mit einem Jungen zu sprechen, der so alt ist, wie ich es einmal war, und mit dem ich den gleichen Schmerz teile. Ein Wissen vom Schmerz, das nicht nur Erinnerung ist. <br />Matti schaut mich erneut an, jetzt mit großem Ernst. Zeit vergeht. <br />Er sagt: Als Dorothée in den Polizeiwagen gestiegen ist, hat sie alle, die dort waren, angeschaut. Sie hat laut gesagt: Ich war zehn, da kam er das erste Mal in mein Zimmer. Habt ihr das gewußt? Danach hat sich die Welt für immer verändert. <br />Noch bevor Matti selbst weiß, daß das mit der veränderten Welt auch für ihn gilt, weiß es sein Körper. Denn sein Körper ist vom ersten Moment an im Tiefsten gezeichnet durch das, wofür man ihn benutzte. Und er bleibt es, gezwungen, auf immer diese Wunde mit sich zu tragen. Dort, in seinem Körper, erzeugt das Geschehen ein unendliches Echo, von dem die Sprache nur ein Widerschein ist. <br />Matti würgt. Er atmet laut ein und aus. Er wartet, bis er sich wieder beruhigt. <br />Er sagt: Eine Nachbarin hat ihr zugerufen: Dein Vater war ein guter Mann. Du hast ihn umgebracht, du kleines Biest. <br />Matti schüttelt den Kopf. <br />Er sagt: Dorothée hat zurückgerufen: Du hast nicht auf Matti aufgepaßt, keiner von euch. <br />Matti sieht auf seine Fußspitzen. <br />Er sagt: Dorothée hat noch gesagt, daß man Gott manchmal helfen muß. <br />Matti denkt angestrengt nach. <br />Er sagt: Viele, die dort standen, haben den Kopf geschüttelt. Keiner konnte verstehen, daß sie das getan hat. <br />Ich kann ihm ansehen, wie erstaunt er darüber ist. <br />Er sagt: Dorothée hat doch nur gemacht, daß es aufhört. Sie hat verhindert, daß unsere Mutter zu ihm zurückgehen konnte. <br />Der Ozean bewegt sich nicht. Da ist kein Wind, der aufkommt. Obwohl alles still ist, fühle ich einen Luftzug, als hätte jemand im Unsichtbaren eine Tür geöffnet. Matti schweigt so lange, bis ich diese unfaßliche Leere spüre. Eine Leere, die womöglich in ihm bleiben wird, bis er eine Form findet für seine Geschichte und es ihm gelingt, sie für ihn und andere wiedererkennbar zu machen. Bis seine Geschichte von allen verstanden wird. <br />Irgendwann sagt er: Meine Mutter hat Dorothée und mir immer erzählt, daß sie uns liebt. Auch mein Vater hat es gesagt. Ich habe gehört, wie er es sagte, als er bei Dorothée war und ihr den Mund zuhielt, damit sie nicht schreit. Er hat es auch zu mir gesagt, wenn er in mir drin war und seine Worte anders wehtaten als sonst. <br />Matti schließt die Augen. <br />Mit geschlossenen Augen sagt er: Weißt du, sie lieben dich nie. Sie lieben immer nur sich selbst. Sie tun dir weh, wie nicht einmal ein wildes Tier das kann. <br />Ich setze mich neben ihn aufs Sofa. Ich schaue ihn an. Ich spüre seinen und meinen Schmerz, dem ich in diesem Moment ohne Angst begegnen kann. Matti öffnet die Augen wieder. Er sieht mich an. Sein Gesicht ist vollkommen reglos, als er von seinem Vater spricht. <br />Er sagt: Er warf Dinge durchs Zimmer, Teller mit Essen, wenn es ihm nicht schmeckte. Mama mußte sich auf den Boden knien und… <br />Matti unterbricht sich. Er kann es nicht aussprechen. Mit einigen Handbewegungen deutet er an, daß seine Mutter mit den Fingern vom Boden gegessen hat. Was immer er noch über seine Mutter denkt oder für sie empfindet, ich spüre sein großes Mitgefühl für diese niederhockende Frau, die vom Boden ißt, was ihr Mann ihr hingeworfen hat. Mit leiser Stimme spricht er weiter. <br />Er sagt: Oft hat er tagelang kein Wort mit uns geredet. Nur zu Dorothée war er immer freundlich. Wenn meine Mutter ihn angesprochen hat, hat er sie geschlagen. Trotzdem war sie ständig um ihn herum und hat versucht, es ihm recht zu machen. <br />Mattis Gesicht verzieht sich vor Anstrengung. Seine Lippen zittern. <br />Er sagt: Obwohl sie da war, hat sie uns nicht beschützt. Sie hat ihn beschützt. Sie war für ihn. Deshalb konnte sie nicht für uns sein. <br />Er zögert. <br />Dann sagt er: Sie hat uns im Stich gelassen, und sie tut es wieder. Sie ist oft bei ihrem neuen Freund. Ich bin die meiste Zeit allein. <br />Einen Augenblick steht er völlig mittellos vor dem, was er sagt, als ob er seine Worte über die ungenügende Mutterliebe in sich überleben muß. Ohne jeden Zweifel schämt er sich deswegen. Ich spüre seine Bangigkeit, weil er anzweifelt, was er glaubt nicht anzweifeln zu dürfen. <br />Schließlich sagt er: Aber vielleicht kann sie uns ja irgendwann wieder liebhaben, jetzt, wo er tot ist. <br />Matti schaut mich fragend an. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich weiß, daß es nicht leicht ist, in dieser Welt jemanden zu finden, den man lieben kann, dem man sich nicht nur aus Schwäche und Bedürftigkeit öffnet. Auch, daß man niemals damit aufhört, seine Eltern zu lieben, ganz egal, womit sie einen überwältigt haben. Die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern zieht nicht einfach weiter, nur weil sie nicht erwünscht ist oder nicht beantwortet, weil sie verraten oder ausgenutzt wird. <br />Obwohl dies meistens so ist, habe ich vor langer Zeit damit aufgehört. Ich habe diese bestialische, erbarmungslose und Abscheu erweckende Liebe meines Vaters und meiner Mutter losgelassen, nachdem ich vierzig Jahre gebraucht habe, um sie anzunehmen. Es war eine nachhaltige Liebe, die in die Zukunft hineinragte wie eine eigene Welt. Als Kind und noch lange danach gab es keinen einzigen Tag, an dem ich mich geborgen gefühlt habe oder mit irgendeinem Menschen vertraut. Die Liebe meiner Eltern konnte mich nicht töten, aber sie hat das Kind, das ich war, entzweigerissen und heimatlos gemacht in der Welt. Sie war wie die Qual mancher Nächte, in denen ich mich ausgeliefert fühlte und vor Angst zitterte, weil ich wußte, er würde gleich in mein Zimmer kommen, oder weil er gerade bei mir gewesen war, mit seiner ganzen Liebe. An manchen Tagen war es so, als ob ich in einen Gewehrlauf blickte. Ich stand mit dem Rücken an der Hinrichtungsmauer, vor der ich im nächsten Moment liegen würde. Während ich schon spürte, wie mein Blut in der Erde versickerte, dachte ich daran, wie schön es wäre, jene, von denen ich gleich ermordet würde, zurückzurufen, um ihnen unter den weißen Wolken, die den Morgenhimmel bedeckten, die Hände reichen zu können. <br />Matti sieht mich nicht mehr an. Vielleicht versteht er, daß ich keine Antworten für ihn habe. Er betrachtet intensiv die Wellen. Er wartet lange, als ob er in sich erst wahrmachen muß, daß er es ist, der spricht, daß es sich um seine Stimme handelt. <br />Er sagt: Manchmal tragen die Menschen Masken, und oft gibt es gar kein Gesicht hinter der Maske. Bei Dorothée ist das anders. Sie hat mich lieb, sie trägt keine Maske unter ihrer Haut. Sie ist nicht wie meine Mutter oder wie mein Vater war. <br />Er deutet auf dein Bild und streicht mit dem Finger zärtlich über dein Gesicht. <br />Er sagt: Sie ist wie Dorothée. <br />Ohne jede Vorwarnung stößt Matti einen langgezogenen Schrei aus. Er preßt die Hand vor den Mund, aber das Schreien in ihm ist von solcher Kraft, daß es ihm die Hand wegreißt. Er springt auf und humpelt die Terrassentreppe hinunter zum Strand. Er läuft am Strand entlang, in den Ozean hinein. Ich laufe hinter ihm her. Trotz seiner Behinderung ist er schnell. Er ist schon im Wasser, als ich ihn packe. Ich ziehe ihn heraus. Er weint und schreit. Er übergibt sich, hustet. Er schlägt mit beiden Fäusten nach mir. Seine Fäuste treffen mein Gesicht. Ich spüre, wie meine Nase anfängt zu bluten. Ich schmecke das Blut auf meinen Lippen, während ich Mattis Körper fest umschlossen halte. Er schreit jetzt ohne Unterbrechung. Ungeheure Wellen von Schmerz rasen durch seinen Organismus. Sein ganzer Körper bebt von seinem Schreien. Weil ich ihn so fest halte, fühlt es sich an, als würde ich ständig Stromschläge verpaßt bekommen. Mein ganzer Körper ist angespannt. Ich atme ein und wieder aus. Ich versuche, mit meinem Atmen einen Raum zu schaffen für diese Kraft. Gedanken tauchen auf, Gefühle, Erinnerungen, die einen Moment bleiben, vorübergehen und zerfallen. Ich atme, bis mein Bauch weich wird, bis ich mich entspanne. Bis mein Atmen ruhig ist, ruhig und leicht, und alles, was in Matti ist, sich in mir entfalten kann. Bis Matti spürt, wie dies alles sich verwandelt, und er sich dem überläßt. Bis er atmet wie ich, ruhig und leicht und ohne Angst zu haben. <br />Es vergeht Zeit, in der nichts geschieht, außer daß wir atmen und aufeinander hören. Gefühle und Gedanken kommen auf, gehen ineinander über und enden irgendwo in uns oder in der unermeßlichen Weite über dem Meer. In diesem Augenblick haben wir uns von allem gelöst, was uns trennt. Wir haben einen gemeinsamen Körper, mit dem wir die ganze Welt durchmessen. Da ist niemand, der die Liebe mehr verdient als wir. <br />Nachdem abermals Zeit vergangen ist, sagt Matti: Du bist nicht wie dieser Psychologe, zu dem ich einmal die Woche gehe. Im Gegensatz zu ihm, weißt du, wie das ist, wie sich das anfühlt. <br />Er wartet. Er hält sich an mir fest. <br />Er sagt: An manchen Tagen ist das wie der Krieg, den du in den Nachrichten siehst. <br />Er wischt mir mit dem Ärmel seines Pullovers das Blut und sein Erbrochenes aus dem Gesicht. Dann legt er vorsichtig seine Wange an meine. Nachdem erneut Zeit vergangen ist, spricht er dort, am Meer langsam und leise in mein Ohr. Er wählt seine Worte mit Bedacht. <br />Er sagt: Als ich klein war, habe ich ihn zum ersten Mal mit Dorothée gesehen. Sie saß auf seinem Schoß und er hatte die Hände unter ihrem Kleid. Ich wußte nicht, was nicht stimmte, ob es sein Blick war, oder die Hände unter ihrem Kleid, oder daß ihr Höschen auf dem Boden lag. Vielleicht war es, wie Dorothée mich ansah. Als wäre sie zur gleichen Zeit da und in der unterirdischen Stadt, von der sie mir erzählt hat. Ich glaube, daß er mich da zum ersten Mal richtig wahrgenommen hat. Er hat mich angebrüllt, ich solle machen, daß ich rauskomme. <br />Matti holt einige Male tief Luft. <br />Er sagt: Es war immer Dorothée, die er gewollt hat. Er war dauernd um sie herum. Ich habe ihm gesagt, daß er aufhören soll, mit Dorothée diese Sachen zu machen. Das war, als ich verstanden habe, was es war, was nicht stimmte. Ab da war ich nicht mehr unsichtbar für ihn. Er wollte mir wehtun. <br />Matti wartet mehrere Minuten.<br />Er sagt: Eines Morgens waren wir allein, da hat er mich zum ersten Mal geschlagen. Er hat seinen Gürtel ausgezogen und mich damit durchgeprügelt. Ich bin zur Tür gekrochen. Als ich fast durch war, hat er sie zugeschlagen. Er hat sie immer wieder zugeschlagen, obwohl mein Bein noch dazwischen lag. Später hat er allen erzählt, daß es ein Unfall war. Ich hatte zuviel Angst, um zu sagen, was wirklich passiert war. <br />Matti zögert. Erneut wartet er mehrere Minuten.<br />Er sagt: An einem Sonntag hat er mich in seine Hütte mitgenommen. Er hat mich auf den Lattenrost von dem alten Bett im Schuppen gefesselt. Er hat seine Hose aufgemacht und mein Gesicht zwischen seine Beine gepreßt. Dann hat er mir sein Ding in den Mund gesteckt. Ich mußte ihm sagen, daß er mein Vater ist, daß ich ihn liebe und Respekt vor ihm habe. <br />Matti wartet, lange. Sehr lange. <br />Er sagt: Erst im Gericht habe ich erfahren, daß Dorothée uns an diesem Tag gefolgt ist. Sie hat alles gesehen. Sie hat zu dem Richter gesagt: Wenn mein Vater bei mir war, bin ich immer an den Rand von mir gegangen und habe mich ganz still verhalten. Aber als er dann zu Matti ging, da ging es nicht mehr, da konnte ich nicht mehr ruhig sein. Ich mußte tun, was richtig war. <br />Matti seufzt. <br />Er sagt: Sie kam zuerst für ein paar Monate ins Gefängnis und danach in eine Klinik, wo sie jetzt noch ist. Ich besuche sie da manchmal. Sie spricht nicht mehr, nur noch ihr Körper ist da. Ich glaube, sie ist längst in der unterirdischen Stadt und hält sich dort versteckt. <br />Matti schweigt mehrere Stunden. Er spielt mit einem Kieselstein. Er schaut übers Meer, wo sich seine Geschichte ausdehnt bis an das entfernteste Ufer, um dort von jemandem gefunden zu werden, in ein paar Tagen oder in Jahrhunderten. Das Meer ist heller als sonst, der Himmel größer, groß bis zum Erschrecken. In der Nähe lachen Kinder, Familien stehen am Strand, man beobachtet uns. Ein Kind weint, ein anderes tröstet es. Irgendwo wird gesungen. Man kann es deutlich hören: Frère Jacques, Frère Jacques/ Dormez-vous, dormez-vous?:/ Sonnez les matines, sonnez les matines,:/Ding ding dong, ding ding dong. Kinderlachen dringt aus den Zelten. Dann leert sich der Strand. Die Familien finden sich zusammen, um zu gehen. Irgendwann zieht sich das Meer zurück. Die Jungen kommen mit Decken, die sie ausbreiten, sie rauchen und trinken Wein. Ihr Radio spielt etwas von Suzanne Vega. They only hit until you cry/ And after that you don't ask why…Matti und ich sehen uns an. Wir lauschen Suzanne Vega, die von einem Luka singt: Yes I think I'm okay/ I walked into the door again/ Well, if you ask that's what I'll say/ And it's not your business anyway/ I guess I'd like to be alone/ With nothing broken, nothing thrown/ Just don't ask me how I am… Beinahe zur gleichen Zeit beginnen wir zu weinen. Wir umarmen und halten uns, ein Junge mit sehr blauen Augen und schwarzem Haar und ein anderer mit ebenfalls blauen Augen und blondem Haar, der heute ein Mann ist. Dieser seltsame Mann, der zu keiner Zeit aufhört zu wissen, was ein Kind in der Dichte seines Körpers und in den geheimen Regionen seiner Seele empfindet, nachdem man sich an ihm vergangen hat. <br />Irgendwann löse ich mich aus der Umarmung. Ich sehe Matti an. Sein Gesicht ist entspannt. Ich nehme es in beide Hände und streiche mit den Fingerspitzen über seine Wangen und Augenbrauen. Ich frage ihn, ob er Lust auf ein Sandwich hat. Er überläßt sich meiner Berührung. Er greift nach meinen Fingern, als könnten sie ihn über alles hinwegretten. <br />Er sagt: Sandwich wäre prima. <br />Wir gehen zurück. Wir laufen schweigend nebeneinander. Als wir die Wohnung betreten, läßt er die Tür weit offen. Ich gehe zurück und schließe sie. Er öffnet sie erneut. <br />Er sagt: Wir müssen jetzt die Zukunft hereinlassen. <br />Dann sitzen wir in der Küche. Wir trinken heiße Schokolade und essen Sandwichs mit Erdnußbutter, Marmelade und Käse. Er schneidet sich ein Stück von der Salami ab und schiebt es sich in den Mund. Während er kaut, betrachtet er die offene Wohnungstür. Plötzlich steht er wortlos auf und schließt sie. Er kommt wieder zurück, setzt sich. <br />Er sagt: Das war genug Zukunft für heute. <br />Später sitzen wir auf der Terrasse, auf dem Sofa. Matti nimmt sich eine Zigarette und zündet sie umständlich an. Er raucht wie jemand, der dies zum ersten Mal tut. Er wedelt mit den Händen den Rauch vor seinem Gesicht weg. <br />Er sagt: Gibt es jemanden, der dich braucht. <br />Seine Frage überrascht mich. Ich weiß nicht gleich, was ich antworten soll. Ich überlege. <br />Ich sage: Nein, nicht mehr. <br />Er sieht mich an und wartet einen Moment, er deutet auf die Fotografie von dir. <br />Er sagt: Auch sie nicht. <br />Ich schweige lange. Ich denke über dich nach und schüttele den Kopf. Matti verschluckt sich am Rauch. Er hustet und drückt die halbgerauchte Zigarette aus. <br />Er sagt: Wie kann man bloß rauchen. <br />Und gleich darauf: Ich brauche dich jetzt. <br />Ich blicke ihn an. <br />Ich sage: Um die Zukunft hereinzulassen. <br />Er legt seine Hand auf meine. Er lächelt. </div>
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Einmal, gegen Ende des Sommers, sagt Matti: Der Psychologe, zu dem ich gehe, hat letztes Mal einen Stuhl hingestellt und gesagt, ich soll mir vorstellen, daß da mein Vater drinsitzt. Und daß, wenn ich ihm noch was sagen wollte, es jetzt eine gute Gelegenheit wäre. <br />Ich sage: Was hast du zu deinem Vater gesagt? <br />Matti sagt: Zu ihm nichts. Ich habe was zu dem Psychologen gesagt. Ich habe gesagt, daß ich vielleicht was sagen würde, wenn er sich in den Stuhl setzt. <br />Matti grinst. <br />Er sagt: Aber das hat er sich nicht getraut. <br />Ich sage: Würdest du denn deinem Vater gerne etwas sagen? <br />Matti zuckt mit den Schultern. Ich trete vom Fenster zurück und gehe in die Küche und hole zwei Stühle. Mattis Augen werden groß. Während ich die Stühle in einigem Abstand voneinander stelle, überlege ich, ob ich mich in den einen Stuhl hineinsetzen soll. Ich entscheide mich dagegen. Ich stelle mich dahinter.<br />Ich sage: Ich würde gerne hier stehenbleiben, wenn es dir recht ist. <br />Matti beobachtet mich hinter dem Stuhl. <br />Er sagt: Das kann ich verstehen. <br />Matti setzt sich langsam auf den Stuhl mir gegenüber. Er sieht mich hinter dem anderen Stuhl stehen. Sein Körper ist angespannt. Er preßt seine Lippen fest aufeinander. Er blickt unschlüssig neben sich. In diesem Moment bemerke ich, was nicht stimmt. <br />Ich sage: Soll ich mich neben dich stellen?<br />Matti öffnet seinen Mund. Er atmet hörbar aus. <br />Er sagt: Das wäre schon besser, glaube ich. <br />Ich gehe zu ihm hinüber. Ich stelle mich neben ihn. Er nimmt meine Hand und legt sie auf seine Schulter. Sein Körper lockert sich. <br />Ich sage: Siehst du deinen Vater?<br />Matti nickt kurz. <br />Er sagt: Er hat das karierte Hemd an und die schwarze Cordhose. <br />Matti wartet lange. Als er weiterspricht, macht er lange Pausen. <br />Er sagt: Ich habe gerade richtig Angst. Dich da so anzusehen, Papa. Weißt du, ich bin immer wach und habe Angst. Und es macht mich so wütend, dich zu lieben. Und dann tut es mir leid, weil ich so wütend bin. Und ich möchte bei dir sein und deine Hand halten, so wie damals, an meinem Geburtstag. Es war noch früh, du hast mich geweckt. Wo ist mein Geschenk, habe ich dich gefragt. Du hast gesagt: Warte ab. Und dann sind wir in der Küche gegangen. Und du hast die Kühlschranktür aufgemacht. Und da sah ich das Lebkuchenhäuschen. Und an dem einen Fenster stand ein Schneemann. Das Dach war voll mit bunten Schokolinsen. Und im Schornstein steckte ein Wattebausch. Und vor dem Haus stand eine Bank, auf der ein Junge und ein Mädchen saßen. Das Mädchen hielt eine Katze im Arm. Neben den Kindern stand ein Schlitten. Und hinter dem Zaun gab es Bäume. Das war ein richtiger kleiner Wald. Wo ist die Hexe, habe ich dich gefragt. Du hast mehrere Male mit dem Kopf genickt und gesagt: Ja, ja, die Hexe, die verdammte Hexe. Und dann hast du gesagt: Die muß wohl weggeflogen sein, als der Kühlschrank offen stand. Und dann habe ich deine Hand genommen, weil ich gewußt habe, daß du die Hexe vergessen hast. Und ich hatte keine Angst vor dir. Ich wüßte wirklich gerne, warum du Dorothée so wehgetan hast. Warum du mit mir so schlimme Dinge gemacht hast, das wüßte ich gerne. Warum du so böse zu Mama warst. Und warum du meinen Fuß kaputtgemacht hast. Doch jetzt bist du tot, und ich kann dich nichts mehr fragen. Ich kann dir nicht mal richtig böse sein, weil du auch anders warst. Aber nicht so oft. Ich finde, Dorothée hat alles gut gemacht. Sie hat die Dinge wieder in Ordnung gebracht, und jetzt ist wieder alles richtig.<br />Matti bleibt eine Weile still. Dann sieht er mich an. Er wirkt vollkommen konzentriert. Er steht auf und stellt sich auf die andere Seite des Stuhls. Er sieht mich unverwandt an. <br />Er sagt: Und jetzt du. <br />Er kommt auf meine Seite und nimmt meine Hand. Er läßt mir keine Wahl. Er läßt meine Hand nicht los, als ich mich setze. Ich betrachte den Stuhl gegenüber, bis ich meinen Vater sehe. Ich denke an all die Dinge, die ich seinetwegen gefühlt und gesagt habe. An die Bücher, die ich wegen ihm geschrieben habe, um ihn in mir zu überleben und um selbst am Leben zu bleiben. Ich weiß heute nicht einmal, wo er lebt, ob er überhaupt noch lebt, außer in mir. Ich spüre den Schmerz, den er in mir hinterlassen hat, ich spüre die Trauer. Ich atme die Trauer und den Schmerz in mich hinein, ich lasse beides in mir zu. Da ist viel Verlust und Sehnsucht, soviel Abscheu, Furcht und Schrecken und all diese verlorene Liebe. Das alles stemmt sich mir wie ein Fels entgegen und erdrückt mich, es umklammert mein Herz. Ich spüre den Druck auf meiner Brust. Ich warte. Dann atme ich den Druck ein, die Ungeborgenheit, die Sehnsucht, die Abscheu, die Furcht, den Verlust, den Schrecken, die Enttäuschung. Und dann atme ich aus, ich atme all das aus, das ganze Leid. Und dann atme ich wieder ein. Mit jedem Atemzug atme ich das Neue ein. Ich atme den Mann ein, der ich heute bin, seine Schönheit, seine Zärtlichkeit, seine Intelligenz. Ich sehe diesen Mann. Ich sehe, daß er liebt, daß er von dir geliebt wurde. Daß er keine Angst mehr davor hat, zu lieben und geliebt zu werden. Ich kann mich spüren, wie schön ich bin, wie zärtlich, wie intelligent, wie liebenswert. Ich atme das Neue ein, ich atme das Alte aus. Und während ich ausatme, sehe ich mich, wie ich dorthin gehe, wo das Neue ist. Es ist schön dort, geräumig. Hier haben seine Worte und Taten keinen Platz mehr. Hier fühle ich mich nicht mehr damit verhaftet. <br />Ich sage: Ich sehe dich, Vater. Ich sehe in deine Augen, sehe deinen Schmerz, deinen Zorn, deine erkaltete Liebe. Niemand hat so einen Schmerz verdient, soviel Kälte. Nicht einmal du. <br />Ich spüre, wie fest Matti meine Hand hält. Ich kann es jetzt endlich sagen, weil dieser wunderbare Junge neben mir steht und meine Hand hält. <br />Ich sage: Ich bin dankbar für alles, was ich von dir bekommen habe. Ich konnte erwachsen werden und das Beste in mir zum Vorschein bringen. <br />Matti nickt zufrieden. <br />Er sagt: Wow, das war gut. <br />Er sieht mich intensiv an. Ich fühle, wie sich etwas in mir löst. Es ist klein, undramatisch, wie der erste Schritt, den ich auf ein noch unbekanntes Ziel zugehe. Matti läßt meine Hand los. <br />Er sagt: Aber es reicht nicht, es nur zu sagen. Wir müssen es noch tun. <br />Er legt die Hand auf seine Brust, in Höhe der Herzens. <br />Er sagt: Hier in uns drin, jeden Tag.</div>
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Ich bin im großen Zimmer. Ich blicke hinaus. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Auf CNN erzählt ein palästinensischer Junge, wie ein israelischer Soldat seiner kleinen Schwester in den Kopf geschossen hat. Fünf Jahre ist die kleine Schwester alt gewesen. Das Kind erzählt, was mit dem Kopf der kleinen Schwester geschehen ist. Der Kopf sei zerplatzt, und dann sei von irgendwoher, aus einem der oberen Fenster, ein Schuß gefallen und habe den Soldaten in die Brust getroffen, er sei auf der Stelle tot gewesen. Ich nehme die Fernbedienung und schalte den Fernseher aus. Heute ist es so, daß ich mich erschöpft fühle von den letzten vierzig Jahren, die ich in mir mit diesem Jungen verbracht habe, der ich einmal war. Ich bin erschöpft davon, von dir getrennt zu sein, erschöpft von deinem Schweigen, das zu einem Teil meines Lebens geworden ist, wie die Nachrichten von ermordeten Kindern und Soldaten auf CNN. Vor den Fenstern sind das Meer und der Himmel, sie sind ruhig und alt, sie sind fünf oder siebenhundert Millionen Jahre alt. Sie wirken vollkommen. Sie sind wie mein Herz, das immer bleibt und niemals haßt, wie groß die Wunde auch ist. Ich schreibe, daß es nun bald aufhören wird. Es wird aufhören, daß der eine Junge sich mit dem Gesicht nach unten in den Sand legt und stundenlang so dort liegenbleibt. Auch das mit dem anderen Jungen, der tief in sich noch immer in die Parks geht, um verborgen zu bleiben oder um gefunden zu werden und der mit seinen Händen Löcher in den Boden gräbt und in der Erde Dinge versteckt, damit sie sich entwickeln können. Das wird nun aufhören. Jetzt, wo diese beiden Jungen sich gefunden haben, kann es aufhören. Und wenn das aufhören kann, wird auch das mit den ermordeten Kindern und den Soldaten aufhören können. Denn wenn der Soldat einen Menschen in diesem Kind sieht, wird er es nicht töten. Und alle werden einen Menschen in dem Soldaten sehen. Und wenn alle einen Menschen in dem Soldaten sehen, wer wollte ihn dann noch töten?<br />(…)</div>
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Am Nikolaustag bin ich in Paris. Ich kaufe in Karine Henrys Buchhandlung den neuen Murakami und in einer kleinen Confiserie in der Nähe einige Nikoläuse aus Schokolade. Danach fahre ich ins Panis. Charlotte ist nicht da. Ich setze mich ans Fenster. Das letzte Mal war ich mit dir hier, in der Woche nach deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Wir saßen in der Nähe der Eingangstür und schauten schweigend auf Notre Dame. <br />Vier oder fünf Monate davor, im Winter, warst du zu mir nach Trouville gezogen. Du hattest dein Zimmer in Le Havre aufgegeben. Es lag in der Nähe des Hospitals, in dem du deine Ausbildung machtest. Das Zimmer war winzig. Es gab keine Fenster, lediglich ein Oberlicht, durch das man hinaufklettern konnte auf eine Art Dachterrasse, die zur Nebenwohnung gehörte. Da der Mieter, ein norwegischer Fotoreporter, ständig auf Reisen war, verbrachten wir die meiste Zeit allein dort oben. Wenn er einmal ein paar Tage hintereinander da war, klopfte er ans Oberlicht und lud uns zu sich ein. Der Norweger, wie wir ihn nannten, las die Bücher von Juan Carlos Onetti und hörte Platten von Nick Drake. Er glaubte, daß es nur einen Weg ohne Spuren gab, und daß dies ein Weg war, auf dem man allein blieb und in sich schaute, und daß man an manchen Tagen am Meer, wenn es blau war und Wellen an den Strand warf, und am Himmel die Wolken herannahten, im Gesicht eines anderen etwas erkennen konnte, das einem vertraut war. <br />Ich denke heute, daß der Norweger sehr einsam war. Ein unaufdringlicher Mann ohne Freunde, der viel Schönes, aber nicht weniger Leid und Unglück gesehen hatte. Obwohl er gut kochte und uns beim Essen regelmäßig von Indien, China, dem Irak und anderen Orten erzählte, von denen er gerade zurückgekehrt war, waren wir zufrieden, wenn er wieder verreiste und wir die Dachterrasse für uns allein hatten. Bei gutem Wetter legten wir uns an den Nachmittagen auf die Liegen und sonnten uns. Abends stellten wir überall Kerzen auf und machten es uns auf seiner mondänen Hollywood-Schaukel gemütlich. Oft blickten wir über die Dächer der Stadt, tranken Wein und redeten über unser Leben und das der anderen. Wenn wir nicht redeten, starrten wir in die Lichter der flackernden Kerzen. An manchen Sommerabenden ließen wir die Füße am Dachrand herabbaumeln und beobachteten die Schauspielerin Yolande Coty, die bis zum Sonnenaufgang mit Kopfhörern auf dem Balkon ihrer Wohnung im Nachbarhaus saß und mit einem Beamer Filme auf die gegenüberliegende Hauswand warf. Da wir nicht hören konnten, was in den Filmen gesprochen wurde, dachten wir uns eigene Dialoge aus. <br />In einer dieser Nächte empfand ich zum ersten Mal deine Zweifel, was uns anging. Auch wenn deine Augen es zu leugnen versuchten, spürte ich einen wilden Strudel widerstrebender Gefühle in dir. Nach und nach fand ich heraus, daß du den Wunsch hattest, ganz auf dich gestellt zu sein, ohne mich an deiner Seite. Ganz frei zu sein, ohne den Boden zu verlieren, ohne den oft tief beunruhigenden Klang der Leere in dir zu spüren, den jede Freiheit mit sich bringt. Auch wenn wir davor die meiste Zeit zusammen gewesen waren, war das Zusammenleben in Trouville für uns beide noch ungewohnt. Ich hatte seit dem Tod von Patricia mit niemandem mehr wirklich zusammengelebt, und für dich war es das erste Mal. <br />An jenem Nachmittag im Panis redeten wir über das Wagnis des Zusammenlebens. Darüber, daß wir in manchen Dingen so unterschiedlicher Meinung waren, daß wir uns nicht selten nur auf unsere Uneinigkeit einigen konnten. Wie verwirrend das jedes Mal wieder war, und wie wir dann mehr und mehr darüber lachten und staunten, daß wir die waren, die wir nun einmal waren. Wieviel Spaß wir miteinander hatten, trotz unserer Unterschiedlichkeit, und langsam verstanden, daß sie kein Hindernis zu sein brauchte. Wir redeten auch über deine Arbeit im Krankenhaus, über dein bevorstehendes Staatsexamen, das dir Tag und Nacht im Kopf herumging. An manchen Tagen warst du verrückt vor Sorge, es nicht zu schaffen. Eine Sorge, die dann nur noch von deiner Besessenheit übertroffen wurde, es niemals dazu kommen zu lassen. Eine Expedition zum Mars hätte nicht besser vorbereitet sein können als dein Staatsexamen. In Trouville stapelten sich Bücher über Anatomie, Krankheitslehre und Krankenpflege. Überall standen große Leinwände, die du dir besorgt und mit Notizen zu den jeweiligen Themen beschriftet hattest. In der ganzen Wohnung gab es keine einzige Wand, an der keine Merkzettel hingen. Wenn du die Nacht über gelernt hattest und ich von dir geweckt wurde und schon am frühen Morgen alles über das Diabetische Fußsyndrom, über Phlebothrombose und Nebennierenrindeninsuffizienz, über Augenkomplikationen bei Diabetes mellitus, Hämorrhoiden, das Klinefelter-Syndrom oder die Pflege nach einer Colonresektion erfuhr, zweifelte ich keinen Moment daran, daß du das Examen schaffen würdest. <br />An dem Mittag im Panis hast du gesagt: Da ist immer der Gedanke, daß die anderen mich für dumm halten könnten. <br />Dein Lächeln war zaghaft. <br />Du hast gesagt: Es ist ziemlich dumm, daß ich das glaube, ich weiß. <br />Ich erinnere mich nicht mehr, was ich darauf erwiderte. Vielleicht, daß es nicht darum geht, wofür einen die anderen halten, sondern eher darum, herauszufinden, wer man selbst war, und es nie zu vergessen. <br />Mit weit offenen Augen erzähltest du von der Krebsstation für Kinder, auf der du zehn Wochen gearbeitet hattest. Über die Kinder, die an Krebs gestorben waren, und jene anderen, die überlebt hatten. <br />Du hast gesagt: Die Kinder haben sich mir anvertraut und mir Dinge erzählt, die sie niemandem sonst erzählten. <br />Ich sah dir an, wie bedeutungsvoll es für dich war, daß die Kinder sich dir anvertrauten. <br />Du hast gesagt: Da war ein Junge, Bela. Er kam aus Ungarn. Sein Vater hat ihn immer wieder verprügelt. Bela dachte irgendwann, daß er keine Haut mehr hat. Er fuhr ins Zentrum, in einen Park, und erschlug dort eine Katze. Er zog ihr das Fell ab, weil er dachte, er könnte es als zweite Haut verwenden, damit es weniger wehtat, wenn sein Vater ihn schlug. Dann kamen ein paar größere Jungen und haben ihn furchtbar verhauen und aus dem Park gejagt. <br />Eine Weile warst du still. Du lagst wie ein Pfeil auf einem gespannten Bogen, eingekreist von den Strömen starker Kräfte, die in dir arbeiteten. <br />Irgendwann hast du gesagt: Ich streichelte ein wenig Belas Rücken und cremte ihn mit einer Lotion ein, wie jeden Tag. Er sprach von Ungarn, wie er nach Le Havre gekommen war, und von seinem Vater, der keinen Job gefunden und mit dem Trinken angefangen hatte. Und er erzählte das von der Katze. Hinterher sagte er zu mir: Puh, das mit der Katze mußte ich noch loswerden. <br />Wie um dich abzulenken, schautest du eine Weile aus dem Fenster. <br />Ohne mich anzusehen, hast du mit leiser Stimme gesagt: An diesem Tag lächelte Bela mich kurz an. Er meinte, daß er sich jetzt nicht mehr wund fühlt, weil ein Engel bei ihm ist, der ihm jeden Tag eine schöne neue Haut macht. Zwei Stunden später ist er gestorben. <br />Ich sah, daß dir Tränen in die Augen traten. In allem, was du sagtest, konnte ich spüren, wie sehr diese Kinder und ihr Schicksal dich berührten. <br />Du hast gesagt: Es gibt so viele Kinder, die nicht jung an Krebs sterben, die niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können, und da ist nie jemand, der ihnen den Rücken streichelt oder sie eincremt.<br />Irgendwann hast du angefangen, über deinen Großvater zu sprechen, Alexander Brebant, den bekannten Kunsthändler aus Montpellier. Ich erinnere mich, wie du mit beiden Händen meine Hand nahmst. Da war die Härte deines Griffs, in dem ich etwas von der mit deinem Körper verschweißten Wut spüren konnte. <br />Ich glaube heute, daß du dich deiner Wut nie ausgeliefert hast. Trotz der Dinge, über die du an jenem Nachmittag sprachst, war da keine Bereitschaft in dir, dich von deiner Wut durchqueren zu lassen und sie auszuhalten. Auch später nicht. Der Wunsch, Schiffbruch zu erleiden, einen radikalen Bruch herbeizuführen, um aus der tiefsten Tiefe des Verlangens ein neues Verständnis von sich und der Welt entstehen zu lassen, diesen Wunsch gab es nicht in dir. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, daß du deine Wut zurückgelassen hast, daß sie irgendwo lag, in einem deiner inneren Räume, an einem sehr gewalttätigen Ort in dir, gefesselt und geknebelt, und daß du sie ersetzt hast durch deine Traurigkeit, die ich schon immer an dir kannte und die noch in der lebendigsten und übermütigsten deiner Lebensäußerungen steckte. <br />Ich weiß noch, wie lange ich dich ansah, nachdem du alles erzählt hattest. Wie ich dachte, daß du es womöglich nicht besser wußtest und daß es niemanden in deinem Leben gegeben hatte, der dir hätte zeigen können, wie du deine Wut durchbrechen läßt, um auf ihren Schwingen zu etwas anderem zu gelangen. Doch dann dachte ich auch, daß nun, nachdem du das Geheimgehaltene an all den Wachtürmen, Schutzwällen und dunkeln Gestalten in dir vorbei über den Todesstreifen gezerrt und preisgegeben hast, alles möglich war. <br />Du hast gesagt: Du bist der erste, dem ich davon erzähle. <br />Ich sehe wieder deine Unbeholfenheit und wie verblüfft du bist über deinen Mut, mir etwas zu erzählen, daß du vorher noch niemandem erzählt hast. Bevor du über deinen Großvater sprichst, erzählst du von Montpellier. Ich habe das Gefühl, daß du dich auf diese Weise an ihn herantastest. <br />Du sagst: Es gab einen großen Garten mit Palmen, Zitronen- und Pfirsichbäumen. Ich erinnere mich an den Geruch des Meeres bei geöffneten Fenstern, der sich mit dem Duft der blühenden Pfirsichbäume vermischte. Wenn ich mittags auf dem Bett lag und aus dem Fenster starrte, sah ich den blauen Himmel. Ich erinnere mich an das Licht, das morgens durch die Ritzen der Fensterläden fiel. An das Geklapper von Tellern und Bestecken, wenn Großmutter den Tisch deckte. An den Wechsel der Schatten an den Hauswänden, je nachdem, wo die Sonne stand. An die Wärme der Sommer in den Zimmern des Hauses. An die Unordnung aus Bildern, Büchern, Skulpturen und Büsten im ganzen Haus. <br />Dein Blick ist angestrengt, während du mit den Fingern imaginäre Figuren auf den Holztisch zeichnest. <br />Du sagst: Ich erinnere mich, daß ich mit Großmutter Marmelade einkochte. An Hunderte blitzender Gläser, die überall standen. An den Duft von frischem Obst und Zucker. Daran, daß Großmutter mich auf einen Stuhl stellte, damit ich die Marmelade in den großen Töpfen auf dem Herd umrühren konnte. Auf der Ablage über dem Herd standen viele Flaschen, in denen sich Schnäpse und Liköre befanden, mit denen sie die Marmeladen verfeinerte. Mir gefielen die bunten Etiketten auf den Flaschen und ihr farbiger Inhalt. <br />Dein Lächeln kommt unvermittelt und ist in seiner Natürlichkeit vollkommen. <br />Die Bedienung, die unsere Getränke bringt, beobachtet dich einen langen Moment. Als ob sie ahnt, daß hinter dem Nachhall von etwas Vertrautem, das dich so unerhört lächeln läßt, etwas anderes lauert, das dich von einer auf die andere Minute von dort wegreißen kann. Vielleicht denke ich da bereits, daß dieses Lächeln von einem Ort in dir kommt, über den du noch nichts weißt. Zumindest denke ich es, während ich dies hier schreibe. Ich glaube nämlich, daß dort, an diesem Ort, den es in uns allen gibt, auf die eine oder andere Weise, gelegentlich ein Wunder entsteht, das uns weitermachen läßt, obwohl sich unser Herz zusammenkrampft bei dem Gedanken, auch nur noch eine Minute länger am Leben zu sein. <br />Jedenfalls sehe ich wieder, wieviel Mühe es dir macht, im Panis über diese Dinge zu sprechen. Wie du dich ablenkst, indem du verstohlene Blicke auf einen jungen Mann wirfst, der am Tisch gegenüber einen Café Crème trinkt. <br />Du sagst: Ich erinnere mich an die Spaziergänge mit Großvater. An den Geruch seiner Zigaretten, sie hießen St. Moritz und hatten am Filter einen Goldrand. An den Duft seines After Shave, es roch nach Holz, frisch und stark und ein bißchen süßlich. <br />Plötzlich bist du weit entfernt. Du scheinst mich vergessen zu haben. In deinem Gesicht ist etwas Fremdes, das mich beunruhigt. <br />Du sagst: Seine tastenden Hände auf meinem Körper, bevor er mich durchkitzelt. Sein Gesicht ist an mein Gesicht gepreßt. Ich spüre seinen Atem an meinen Lippen. Er steckt meine Hand in seine Hosentasche. Er legt seine Hand auf meine Schenkel. Ich trage eine helle Shorts, eine blaue Strumpfhose und meine Converse Chucks, die mit den bunten Schnürsenkeln. Da ist der Geschmack von etwas in meinem Mund, ich erinnere mich nicht mehr. <br />Dein Gesicht ist reglos, als wäre der passende Gesichtsausdruck für diese Geschichte irgendwo in dem Raum zwischen den Worten steckengeblieben. <br />Du sagst: Ich habe das Gefühl, daß der Boden unter meinen Füßen langsam aufreißt. Jedes Wort, das ich sage, brennt auf meiner Zunge. <br />Deine Stimme klingt rauh, als du weitersprichst. <br />Du sagst: Meine Großeltern waren aufmerksam und entgegenkommend, aber auf eine angestrengte Weise. Meistens wirkte es gekünstelt. Ich erinnere mich nicht, daß sie zärtlich oder liebevoll miteinander waren. <br />Du schaust aus dem Fenster. Du läßt Zeit verstreichen. <br />Dann sagst du: Da gab es eine Art Echo von etwas, das vielleicht zwischen beiden einmal da war. So etwas wie Liebe. <br />Du wendest deinen Blick vom Fenster ab. Du starrst auf die gegenüberliegende Wand. Dann siehst du zu mir. Ich sehe dich an. Unsere Blicke sind wie zwei Linien, die sich begegnen. <br />Du sagst: Es war ein empfindliches Gleichgewicht zwischen ihnen. Beide haben versucht, es aufrechtzuerhalten. Vor allem, wenn ich bei ihnen war. Aber sie konnten sich nicht die ganze Zeit verstellen. Oft gab es Blicke, Gesten und manchmal auch Sätze, die zufällig die Außenseite durchbrachen und etwas sichtbar machten, das darunter lag. <br />Unsere Blicke berühren sich nun, bilden Punkte aus Momenten, in denen ich mit dir warte. <br />Du sagst: Kurz vor ihrem Tod hat Großmutter gesagt, daß Großvater ihre Liebe nicht verdient. Ich wußte nicht, ob sie das ernst meint. Sie hat dabei gelächelt. Es war ein enttäuschtes Lächeln. </div>
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Es gibt ein paar Fotografien, die ich von deiner Großmutter gesehen habe. Du hast sie mir gezeigt, als ich dich das erste Mal in Marseille besuchte und wir entschieden, daß wir uns näherkommen wollten. Das war, als wir nicht mehr nur telefonierten, sondern anfingen, uns abwechselnd zu besuchen. Ich erinnere mich vor allem an das eine Bild, auf dem sie neben deiner Mutter steht, die zu der Zeit mit dir schwanger ist. Es ist am Strand, die Sonne steht hoch, es muß warm sein, Sommer. Deine Großmutter trägt ein leichtes Kleid aus roter Seide und einen ovalen Strohhut mit einem passenden Hutband. Ihr volles blondes Haar tritt darunter hervor. Ihr Gesicht ist glatt, von einer leichten Bräune überzogen. Auf dieser Fotografie geht eine unglaubliche Energie von ihr aus. Neben deiner Mutter, die etwas schwach und verloren erscheint, wirkt deine Großmutter kraftvoll und stark, fast unbesiegbar. Die andere Fotografie, an die ich mich erinnere, wurde nach deiner Geburt gemacht. Du bist darauf wenige Monate alt. Deine Großmutter ist zu sehen, wie sie dich hält. Sie lächelt gequält, als ob sie sich von der Kamera bedrängt fühlt. Wie eine Frau, die gerade vergewaltigt wurde. Die fotografiert wird, um zu dokumentieren, was man ihr angetan hat. Man sieht, daß sie etwas hat über sich ergehen lassen. Ich weiß noch genau, daß ich das damals dachte. Ich habe sie zuerst kaum wiedererkannt. Ihr blondes Haar ist dünn geworden, es ist jetzt weiß. Ihr Gesicht ist ernst und blaß, von einem Netz von Falten übersät. Ein Gesicht, in das irgend etwas wie ein Blitz eingeschlagen ist. Vermutlich hat sie gerade erst etwas erlebt oder erfahren. Der Schrecken darüber steht ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Die Augen, der Blick sind noch vollständig davon erfaßt. Man sieht ihr an, daß sie weiß, daß es unmöglich ist, zu etwas Früherem zurückzukehren. Sie sieht aus wie etwas Totes. Zwischen den beiden Fotografien liegt höchstens ein Jahr. Vielleicht sind es auch nur ein paar Monate. Die Zeit, in der deine Mutter mit dir schwanger war und du geboren wurdest. Als ich die Fotografie zum ersten Mal sah, fragte ich mich, ob dir irgendwann aufgefallen war, wie deine Großmutter dich da hält: von ihrem Körper entfernt, wie einen Topf, den man gerade vom Herd genommen hat und aus dem kurz vorher etwas auf ihre Kleider gespritzt ist. Ich weiß noch genau, daß wir über die Fotografien gesprochen haben. <br />Du hast gesagt: Ja, jetzt kann ich das sehen. Auch, was du gesagt hast, über die Zeit, die zwischen den Fotografien liegt. Das wird mir erst jetzt bewußt. <br />Du hast die beiden Fotografien lange betrachtet. <br />Irgendwann hat du gesagt: Ich kannte Großmutter nur wie auf dem zweiten Bild. Für mich hat sie nie anders ausgesehen. <br />Du hast danach kein Wort mehr darüber verloren. Auch später nicht. Bis zu dem Mittag im Panis haben wir nie wieder über deine Großeltern gesprochen. </div>
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Es gibt auch Fotografien, die deinen Großvater zeigen. Sie wurden auf der Beerdigung deiner Großmutter gemacht. Er steht dort neben deiner Mutter und ist nur von hinten und von der Seite zu sehen. Man kann sein Gesicht nicht richtig erkennen. Diese Fotografien haben befremdend auf mich gewirkt. Sie haben etwas Bedrückendes. Damals konnte ich nicht sagen, was es war, was mich derart bedrückte. Ich habe lange gedacht, es habe mit der Beerdigung an sich zu tun, mit all den schwarz gekleideten Menschen, die auf dem Friedhof zusammenkommen waren, um Abschied von deiner Großmutter zu nehmen. Nach allem, was du mir im Panis erzählt hast, vermute ich heute, daß mich etwas anderes zurückgestoßen hat. Daß es die Art war, wie dein Großvater neben deiner Mutter steht, oder wie er ihre Hand hält. Als wäre er ihr Mann oder ein Liebhaber. Jedenfalls nicht wie ein Vater. Deine Mutter scheint zuzustimmen. Womöglich ist es ihr gar nicht bewußt. Oder sie hat nie etwas anderes gelernt, als in seine Wünsche einzuwilligen. Ich sehe wieder, wie du an jenem Mittag im Panis versuchst durchzuhalten, während du weitersprichst. Wie du versuchst, dich zu besänftigen, und allmählich begreifst, daß es ab hier keine Besänftigung mehr geben wird, und daß sich erinnern ein steilerer Aufstieg ist, als die Dinge bei jedem Auftauchen wegzuschieben oder sie zu vergessen. <br />Du sagst: Nach Großmutters Tod lebte er allein in Montpellier, in dem großen Haus. Ich war gerade sechs geworden, als Großmutter starb. Es ist drei Tage nach meinem Geburtstag passiert. Ich sehe heute, daß er sich freier fühlte, nachdem sie gestorben war, auf eine andere Weise lebendig. Wir erleichtert er nach ihrem Tod war, das sehe ich erst jetzt. <br />Das Erstaunen über das gerade Gesagte steht dir ins Gesicht geschrieben. <br />Du sagst: Nach Großmutters Tod haben Mama und ich ein Jahr lang bei Großvater in Montpellier gelebt. Ich weiß noch, daß Papa deswegen ziemlich verärgert war. Mama und Großvater waren sich sehr nahe in dieser Zeit. Ich weiß, daß ich ihn ein paar mal versehentlich Papa genannt habe und wie ich einmal mittags in sein Schlafzimmer lief und Mama neben ihm lag und daß beide nackt waren. <br />Deine Stimme klingt wie die einer Verirrten. <br />Du sagst: Als ich eingeschult wurde, gingen wir weg aus Montpellier. In der Zeit verkaufte Großvater seine Galerien. Er fuhr allein mit dem Fahrrad nach Barcelona. Danach fuhr er acht Monate zur See und zum Nordpolarmeer. Einmal überquerte er die Alpen, mit einem Ballon. <br />Für einen kurzen Augenblick zeigt sich so etwas wie echte Begeisterung in deinem Gesicht. <br />Du sagst: Ich habe ihn bewundert. Er war gebildet, witzig, generös und schlagfertig. Er war elegant und charmant. Es gab nichts, was ich ihn nicht fragen oder worüber ich nicht mit ihm reden konnte. Er wußte auf alles eine Antwort. Auch meinen Freundinnen gefiel er. Er erzählte ihnen Geschichten, machte Komplimente, wenn sie etwas sagten, und über ihr Aussehen. Ich denke, sie fühlten sich geschmeichelt. Ich kannte ihre Väter und Großväter. Das waren dumme und frivole Männer. <br />Du erzählst, daß du elf oder zwölf bist. Ihr seid von Aix–en–Provence nach Marseille gezogen. Dein Vater hat sich gerade von deiner Mutter getrennt. Ich sehe in deinem Gesicht das Erstaunen des Kindes, das du damals warst. Ein Kind, das man überrumpelt hat. Da ist, noch Jahre später, eine Fassungslosigkeit bis zur Betäubung und eine große Verlorenheit, wie bei einem verletzen Tier, dem man nie den Pfeil aus dem Fleisch gezogen hat. <br />Du sagst: Er ist einfach verschwunden, über Nacht. Er hat sich nicht einmal verabschiedet. Mama und er kamen Sonntags aus Montpellier zurück, wo sie Großvater besuchten, und am nächsten Tag war er fort. Mama hat mir nur gesagt, er habe eine andere Frau kennengelernt. <br />Du erzählst, daß deine Mutter wieder in ihrem alten Beruf anfängt zu arbeiten, kurz nachdem dein Vater fort ist. <br />Du sagst: Sie arbeitete wieder für DIOT. Sie verdiente ganz gut. Sie machte wohl richtig Karriere. Aber sie war fast nie zuhause. Ich war die meiste Zeit allein. Ich habe mich ziemlich verlassen gefühlt. Nach der Schule zog ich mit Freundinnen durch die Stadt. Wir liefen bis zum Abend die Canebière hoch und runter oder hingen mit ein paar älteren schwarzen Jungens aus Les Rosiers am alten Hafen herum. Oft gingen wir ins Lafayette oder ins Bourse, klauten Parfums, Schmuck oder die neusten Platten. <br />Du erzählst, wie sie dich irgendwann im Lafayette beim Diebstahl erwischen und wie herauskommt, was in der Schule los ist, wie schlecht du wirklich bist. <br />Du sagst: Ich war eine gute Schülerin, doch ich hatte monatelang nichts mehr gemacht und auch die Schule geschwänzt. Die Lehrer hatten mir Briefe für Mama mitgegeben. Ich habe sie weggeworfen. Als Mama davon erfuhr, war sie wütend. <br />Schließlich entscheidet deine Mutter, dich zu deinem Großvater zu bringen. Sie kann sich nicht um ihre Karriere kümmern und um dich, zumindest nicht gleichzeitig. <br />Du sagst: Sie meinte, es sei eine Notlösung, bis sie wieder mehr Zeit hätte. Aber ich merkte, daß ihr die Idee, mich zu Großvater zu bringen, nicht wirklich gefiel. <br />Ich sehe wieder, daß du mir nicht mehr dazu sagen kannst. Es ist wohl eher ein unbestimmtes Gefühl, das du hast. <br />Du sagst: Heute weiß ich, daß ich manchmal etwas spürte, wenn ich mit Mama und ihm zusammen in einem Raum war. Es war die Art, wie sie sich nicht ansahen, wie sie ihren Blicken auswichen. Ich kann es dir nicht erklären. Damals war mir das ziemlich egal. Ich habe mich auf Großvater gefreut. Das Meer war nur eine Viertelstunde vom Haus entfernt. <br />Du redest lange über das Meer, über die große Einsamkeit des Meeres, über seinen Geruch, der dir männlich vorkommt, bis hin zu den Schaumkronen, die viel heller leuchten, wenn der Morgen dämmert. Du erzählst das alles, um nicht von ihm reden zu müssen, um das Reden über deinen Großvater hinauszuzögern. <br />Du sagst: Ich hatte keinen Vater mehr. Das Leben kam mir plötzlich gefährlich und unberechenbar vor. Niemand mehr, der mir ein Zahnpasta-Sandwich machte, oder der mit mir in den Park ging, um Schneckenhäuser anzumalen, und der mich gut in sich unterbrachte, wenn ich mich schlecht fühlte. Ich glaube, ich habe bei Großvater ein bißchen Nähe gesucht. Ich wollte mich geborgen fühlen. </div>
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Wenn ich heute daran denke, bist du jemand gewesen, der lange einen anderen brauchte, dem er sich nahe fühlen, bei dem er sich sicher fühlen konnte. Darin waren wir uns ähnlich. Bevor wir uns begegneten, hatten wir beide mehr oder weniger unbehaust gelebt. Der Schmerz über die Dinge, die wir erfahren hatten, lag Tag und Nacht sprungbereit. Anfangs bemerkten wir ihn immer zu spät. Mit der Zeit konnten wir ihn in einiger Entfernung sehen. Der Schmerz war wie ein Löwe, der auf eine Gazelle wartet. Wir hatten gelernt, in Deckung zu gehen, uns zu verbergen. Manchmal für so lange, daß wir uns selbst in unserem Versteck vergaßen. Meistens lebten wir so, daß wir aus uns selbst herauskamen und wieder dort verschwanden, ohne daß auffiel, daß wir da waren oder fehlten. Wir schwiegen so lange, daß wir beinahe vergaßen, wie man spricht. Nur manchmal, wenn wir weinten, hatten wir das Gefühl von Angemessenheit. Wenn wir weinten, wußten wir, daß wir mit unseren Gefühlen richtig lagen und daß alles mit uns stimmte. Das blieb so, bis wir uns begegneten und lernten, einander zuzuhören und zu vertrauen, wieder nach vorne zu blicken, in die Ferne, oder daß wir mit unseren Gefühlen auch richtig lagen, wenn wir lachten. Wir kratzten uns gegenseitig den Schmutz von der Seele, sahen dort hinein, wo gewöhnlich niemand hinsehen kann. Was das betraf, gingen wir weit. Wir entdeckten immer öfter, daß alles mit uns stimmte, auch wenn wir uns glücklich fühlten. Wir brachten uns gegenseitig zum Sprechen, bis wir irgendwann die Gewißheit hatten, daß wir keine Angst voreinander zu haben brauchten. Bis wir zwei Menschen waren, die nicht nur geliebt werden wollten, sondern die liebten, die wirklich lieben wollten. Jedenfalls glaubte ich, daß es so war. Daß wir beide nach und nach verstanden, was anderen womöglich schon lange klar war: daß wir alle doch jemandem suchen, dem wir uns nah fühlen, dem wir nah sein können, und daß, falls es einen Sinn im Leben gab, es möglicherweise der war, andere Menschen zu wählen, mit denen man zusammenblieb. Menschen, die noch da waren, wenn man abends zurückkam, die einem nicht wehtaten oder weggingen, nur weil man selbst wegging. Die einem die Tür öffneten und einen willkommen hießen, wenn man zurückkehrte. So etwas wie eine eigene Familie, die nichts mit der biologischen zu tun hatte, sondern nur mit einem selbst. </div>
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Während ich dies hier schreibe, höre ich wieder, wie du zu mir sagst: Du bist meine erste große Liebe, die alle künftigen Lieben für mich möglich macht. Wir sind in Rom, ein Jahr später, um deinen zweiundzwanzigsten Geburtstag zu feiern. Wir laufen auf der Via Condotti entlang und schauen uns die Auslagen der Designerläden an. Schließlich landen wir müde im Caffé Greco, irgendwo in der Nähe der Spanischen Treppe, wo ein Straßenhändler dir zuvor einen Armreif aus Perlmutt aufgeschwatzt hat. Wir drängeln uns durch den schmalen Gang bis ganz nach hinten durch und suchen uns neben einer der Trennwände einen schönen Platz. Wir trinken Cappuccino und Grappa, wir küssen uns die ganze Zeit, du bist glücklich mit deinem Armreif und weil du Geburtstag hast und wir ein Paar sind und zusammen in Rom. Vermutlich verstehe ich das, was du im Caffé Greco zu mir sagst, als Kompliment und beachte es nicht weiter. Jetzt sehe ich, daß du schon in Rom den Wunsch nach einem anderen Leben gehabt haben mußt, nach einem Leben ohne mich, und daß unsere Liebe für dich womöglich etwas anderes war als für mich. </div>
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An jenem Nachmittag im Panis verstehe ich, wie besonders dein Großvater lange Zeit für dich war. Er hat sicher gewußt, daß er für dich jemand war, der deine Träume erraten und sie erfüllen konnte. Ja, er wußte, daß du ihn nicht nur halb lieben konntest, daß er aus diesem Grund alles von dir haben konnte. <br />Ich sehe wieder, wie deine Hände zu Fäusten geballt sind, als du weitersprichst. <br />Du sagst: Hier drinnen ist es schlimm, auch wenn man mir nie etwas anmerkt. Wenn ich allein bin, fühlt es sich so an, als ginge es ganz tief. Dann fühle ich mich innerlich wie aufgerauht. <br />Du preßt eine Faust auf deinen Brustkorb, dorthin, wo das Herz ist. <br />Du sagst: Etwas in mir findet keine Ruhe, als gäbe es da ein zweites Universum. Ein Universum mit riesigen Schatten, die sich über alles legen. <br />Dein Atem verzögert sich, als ob du nach jedem Satz die Luft anhältst oder vergißt auszuatmen. <br />Du sagst: Großvater beobachtete mich beim Ausziehen und wenn ich duschte. Er sagte zu mir, wie schön ich sei. Was für ein hinreißendes junges Mädchen, eine solche Schönheit! Er sagte es sogar vor allen Leuten. Dabei legte er seine Hand auf mein Knie. Ich fühlte mich geschmeichelt. Bis dahin wußte ich nicht, daß ich schön war. Niemand hatte es vor ihm zu mir gesagt. <br />Als du es mir erzählst, bist du wieder das zwölf Jahre alte Mädchen, dem man sagt, daß es schön ist, und das sich deshalb traut, schön zu sein. <br />Du sagst: Eines Abend schauten wir uns einen Film an. Da küßte er mich auf den Mund. Er sagte zu mir, ich solle meinen Mund öffnen, es würde mir gefallen. Ich war unsicher und habe mich geschämt. Und es gefiel mir. Ich spürte es überall in meinem Körper. Ich war durcheinander. Es war mein erster Kuß. <br />Draußen beginnt es zu regnen. Die Leute spannen ihre Schirme auf oder halten Zeitungen und Jacken über ihre Köpfe, während sie über den Platz preschen. Ich schaue dich an. Du hast die Beine hochgezogen und angewinkelt auf den Stuhl gestellt. Dein Gesicht wirkt plötzlich schmal und traurig. <br />Ich verstehe mit einem Mal, daß es ab hier nicht mehr darum geht, dich kennenzulernen, daß es um viel mehr geht, als um die Dinge, die dich und dein Leben betreffen, gewöhnliche Dinge wie die, die man vom anderen kennt, wenn man ein Paar ist. Heute ist der erste Tag, an dem ich dich sehe. An dem du dich zeigst. <br />Ich bin erschrocken darüber. Auch, weil sich meine Vermutung bestätigt, daß dir als Kind etwas zugestoßen ist. Seit ich dich kenne, habe ich viele Nächte im Halbdunkel wachgelegen und mir den Kopf darüber zerbrochen, warum es Tage in deinem Leben gibt, wo du dich vor den Spiegel stellen mußt, um festzustellen, wer du bist, daß du liebenswert bist und schön. Und warum sich Niedergeschlagenheit und Freude bei dir ablösen wie Landschaften, die man überfliegt. Weshalb du der Liebe so viele Hindernisse entgegenstellst, obwohl dein Herz im ganzen Körper vor Sehnsucht danach klopft. Warum du mich heranholst und zurückstößt, als würdest du vom Bürgersteig plötzlich auf die Straße springen. Weshalb ich manchmal etwas sage, das dich so sehr aufmuntert, daß du meine Worte nimmst und sie auf dein ganzes Leben ausdehnst, und weshalb dieselben Worte, wenn ich sie ein anderes Mal sage, dir den Hals abschnüren. <br />Du sagst: Bald faßte er mich überall an. Das erste Mal war, als er mich in der Badewanne abduschte. Wir waren am Meer gewesen. Er verteilte den Duschschaum auf meinem Körper. Er faßte mir zwischen die Beine und streichelte mich dort. Seine Berührungen waren wie kleine elektrische Schläge, die ich überall in meinem Körper spürte. Ich glaube, ich schämte mich, weil es sich gut anfühlte, wenn er mich so anfaßte. Abends legte er sich zu mir und berührte mich erneut dort. Ich bin wie du, Lucia, und du bist wie ich, wir sind eine Familie, da gibt es nichts Verbotenes, das war schon so, als ich noch jung war. So etwas hat er zu mir gesagt. Wie abscheulich das ist!<br />Du nimmst meinen Kugelschreiber, der auf dem Tisch liegt. Du zeichnest etwas mit Stacheln auf den Rand einer Zeitung. Dein Lächeln ist kurz und traurig. Ich spüre den Abstand, den du zu dir einnimmst. <br />Du sagst: Es tat nie weh, wenn er mich anfaßte. Ich denke heute, das war das Schreckliche daran, daß es nie weh tat, daß es mir sogar gefiel, wenn wer mich da unten streichelte oder leckte. Hätte es wehgetan, hätte ich wahrscheinlich schreien und ihn wegstoßen können. <br />Stockend erzählst du, wie dein Großvater dich eines Abends aufforderte, ihn anzufassen, wie er seinen Penis mit Hershey-Sirup einrieb und dich ermunterte, ihn abzulecken und dabei zu reiben. Du weißt noch, wie unsicher du dich fühltest und daß du Angst hattest. Und wie du es dann getan hast. Wie hin- und hergerissen du warst zwischen Neugier, Scham und Widerwillen. <br />Du sagst: Nachdem er gekommen war, legte er die Decke um mich, weil ich zitterte. Er umarmte mich und streichelte mein Haar. Er lobte mich und sagte, wie gut ich das gemacht habe und wie schön ich sei und wie sehr ich ihm gefiel. Ich merkte, daß er sich gut fühlte, daß ich ihm eine Freude gemacht hatte. Ich wollte ihm gefallen. Ich wollte, daß mich jemand lieb hat, ohne daß er mir wehtat oder wieder wegging. Ich schämte mich wegen dem, was ich getan hatte, und, wie soll ich das sagen, es erregte mich, und deswegen schämte ich mich ebenfalls. <br />Ich frage dich nach deiner Mutter, was sie wußte. Du sprichst von Komplizenschaft zwischen dir und deinem Großvater, von dem Geheimnis, das zwischen dir und ihm bestand, und daß du nicht wolltest, daß auch er dich sitzen ließ, wie dein Vater. Während du redest, fängst du an, dich an den Armen und im Gesicht zu kratzen. <br />Du sagst: Mama hatte in Marseille ihr eigenes Leben. Überwiegend haben wir telefoniert. Sie schenkte mir ein Handy und rief mich an, wann es ihr paßte. Manchmal rief sie mitten in der Nacht an. Wenn sie in der Nähe war, kam sie nach Montpellier. Sie kam in den Ferien und an den Feiertagen. Wir machten dann viel zusammen. Sie kaufte mir Kleider und Schuhe. Ich weiß, daß sie damals etwas mit dem Präsidenten von DIOT hatte. <br />Du bist dir sicher, daß sie in dieser Zeit nur sich selbst und ihre Karriere gesehen hat, daß sie sehr mit sich selbst beschäftigt war. Du weißt nicht mehr, ob es davor anders war. <br />Du sagst: An meinem vierzehnten Geburtstag kam sie nach Montpellier. Als Großvater die Geburtstagstorte anschnitt, erklärte ich, daß ich mit ihr zurückfahren würde. Ich will nicht länger hier bleiben. Ich sagte, daß ich meine Sachen bereits gepackt hätte. Beide sahen mich verständnislos an. Mama fragte mich nach dem Grund. Sie sah Großvater an und wollte von ihm wissen, was vorgefallen war. Aber er schwieg. Er war überrascht, daß ich weg wollte. Er sagte hilflos: Wir wollten doch morgen zu dem Konzert von Mylène Farmer gehen. <br />Du erwähnst, daß du die ganze Zeit über zu Boden schautest, weil dein Großvater neben dir stand. <br />Du sagst: Ich konnte ihn zuerst nicht ansehen. Obwohl ich Mama nichts erzählt hatte und auch nicht vorhatte, es zu tun, hatte ich das Gefühl, ihn zu verraten. Dann habe ich mir gesagt, sei stark, du mußt jetzt stark sein. Dann habe ich ihn angesehen, als hätte ich ihn noch nie gesehen, als wäre er nicht mein Großvater, und es wiederholt: Ich will nicht länger hier bleiben.<br />Du nimmst meinen Kugelschreiber. Du streichst das gezeichnete Etwas mit Stacheln auf dem Zeitungsrand durch. <br />Du sagst: Dabei habe ich mir gewünscht, mich an ihn zu schmiegen, daß er einfach mein Gesicht streichelt und mein Haar, wie früher. <br />Du hältst den Kugelschreiber wie ein Kind, mit beiden Händen. Du drückst fest auf, bis das gestachelte Etwas nicht mehr zu erkennen ist. <br />Du sagst: Wir haben jeden Tag diese Sachen gemacht. Ich wußte, wäre ich geblieben, er hätte mit mir geschlafen. Und ich hätte es vielleicht sogar schön gefunden.<br />Du siehst mich an und wartest. <br />Dann sagst du: In der Nacht bin ich aufgewacht. Ich habe sie unten streiten hören. Ich hörte Mama schreien. Warum Lucia? Warum sie auch? Konntest du nicht einmal vor ihr haltmachen? <br />Du erzählst, wie du am nächsten Morgen auf der Rückfahrt deine Mutter gefragt hast, ob dein Großvater dein Vater ist. <br />Du sagst: Sie hielt mitten auf der Straße den Wagen an. Ich erinnere mich gut daran, wie sie mir ins Gesicht schlug und schrie. Dein Großvater ist dein Großvater! Und dein Vater ist dein Vater! <br />Du wartest einige Minuten. <br />Dann sagst du: Wir haben nie wieder darüber gesprochen. </div>
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Da, im Panis, an jenem Tag, ich sehe es wieder, überfällt dich eine große Verlorenheit und Scham. Du wirst gleich weinen. Wir spüren es beide. <br />Du sagst: Ich glaube, daß Großvater mit Mama dasselbe gemacht hat wie mit mir. Und es war nicht zu Ende. Es ist weitergegangen, als sie kein Kind mehr war. Und Papa hat alles entdeckt. Er fand heraus, daß nicht er mein Vater ist, sondern Großvater. Deswegen ist er gegangen. <br />Du fängst an zu weinen.<br />Du sagst: Als Kind muß man doch immer mit dem Schlimmsten rechnen. <br />Später, nachdem du geweint hast, erzählst du noch, daß dein Großvater das große Haus an den Fernsehstar Lelee Schneider verkauft hat und ins Department Hérault gezogen ist, in sein Chalet in Ournonterral, zwanzig Kilometer von Montpellier entfernt, wo er seitdem lebt. <br />Ich erinnere mich sofort, daß Lelee Schneider sich im Jahr zuvor in einer Villa in Montpellier umgebracht hat. Ich frage dich, ob es sich um das Haus deines Großvaters handelt. <br />Du sagst: Ja, das war die Villa von Großvater. Lelee Schneider hat sich erschossen, in meinem ehemaligen Zimmer, das Zimmer, in dem das alles geschehen ist. <br />Du bist dir sicher, daß von allem, was Großvater dir und deiner Mutter angetan hat, unsichtbare Spuren in dem Haus übriggeblieben sind. <br />Du sagst: Man sollte das Haus abreißen. Niemand kann dort mehr glücklich sein. <br />Im Panis erfahre ich auch, daß dein Großvater an Alzheimer erkrankt ist und daß deine Mutter mit ihm in Ournonterral lebt und ihn pflegt. <br />Du sagst: Manchmal telefoniere ich mit Mama. Sie kümmert sich um Großvater, als wäre nichts geschehen. Sie sagt, daß sie jetzt in Einklang mit sich und der Welt ist. <br />Du starrst schweigend aus dem Fenster, wo der Regen aufhört. <br />Mit höhnender Stimme sagst du: Sie ist jetzt im Einklang mit sich selbst! Das ist so ekelhaft!<br />Nach und nach tritt die Sonne hervor. Licht bricht durch die Fenster und durchflutet das Panis. <br />Du sagst: Es ist verrückt, an was man sich als kleines Mädchen gewöhnt, was man alles normal findet. Die wenigen Momente in meiner Kindheit, in denen ich mich umsorgt und geliebt gefühlt habe, waren die mit Papa und Großvater. Der eine hat mich verlassen, der andere hat mich mißbraucht. <br />Das Sonnenlicht fällt auf dein Gesicht, in dem sich deine Augen abermals mit Tränen füllen. <br />Irgendwann sagst du: Im Jahr darauf habe ich dich kennengelernt. Du hast das mit Großvater nicht gewußt, und doch hast du mich angesehen und sofort alles verstanden. <br />Dein Mund verkrampft sich, als würdest du erneut anfangen zu weinen. <br />Und dann geht es vorüber.<br />Du sagst: Ich weiß noch, wie wir morgens am Strand entlanggingen. Ich erinnere mich an jedes Wort, das du zu mir gesagt hast, weil bis dahin niemand zuvor so mit mir gesprochen hatte. Du hast zu mir gesagt: Nicht wahr, dein Herz tut dir manchmal weh, du spürst, wie es überall in deinem Körper klopft, deine Kehle ist wie zugeschnürt, du weinst im Dunkeln, weil du dich allein auf der Welt fühlst, und du wirst jemanden finden, der sein Herz nicht vor deinem verschließt, der dir zeigt, wie du warst, bevor man dir wehgetan hat. Ich habe dich angesehen und gesagt: Warum nicht du. <br />Dein Gesichtsausdruck ändert sich plötzlich. Ich spüre dich ganz nah bei dir. <br />Du sagst: An diesem Morgen hast du liebevoll und zärtlich mein Gesicht gestreichelt. Ich war fünfzehn und habe das erste Mal erfahren, was Intimität bedeutet, wenn nichts Sexuelles dabei ist. <br />Du siehst mich eine Weile ernst an. <br />Du sagst: Weißt du, daß du der erste Mensch in meinem Leben bist, der mich die ganze Zeit umsorgt und liebt, ohne mir weh zu tun. <br />Du siehst mich noch immer so an, mit demselben Ernst.<br />Du sagst: Ich werde dein Leben nicht kaputtmachen. <br />Dann fixierst du die Schiefertafel an der Wand, als wolltest du die Tageskarte auswendig lernen. Dein Blick fällt erneut auf den jungen Mann am Tisch gegenüber, der sich einen weiteren Café Creme bestellt. Er erwidert deinen Blick. Du lächelst. Du drehst dich wieder zu mir um. <br />Du sagst: Wärst du mir nicht begegnet, wäre ich wie eine von diesen Pflanzen geworden, die ungesehen leben und sterben, ohne daß jemand sie schön gefunden hätte. <br />Deine Stimme klingt weich und samten. Da ist eine Mischung aus Nachdenklichkeit, Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit in deinen Blicken. <br />Du sagst: Du hast mir einmal gesagt, daß man nicht alles Leid und jeden Schmerz überwinden kann, daß aber durch Zuhören alles geteilt wird. <br />Du lächelst erneut. Deine Stimme hat noch immer denselben Klang. <br />Du sagst: Du hast mir auf eine Weise zugehört wie niemand sonst. Und mit dem, was du in den blauen Heften geschrieben hast, hast du meinem Schmerz Worte gegeben. Ich hatte das Gefühl, daß du dich von meinem Schmerz berühren läßt, lange bevor ich dazu fähig war. Ich wußte immer, daß du zuhörst, selbst wenn ich gar nichts sagte. <br />Dann lachst du, ein Lachen, das aus dir heraussprudelt. Als wärst du ein Mädchen von zehn oder elf Jahren, das lange warten mußte, um es sich zu erlauben, auf diese Weise lachen zu dürfen. <br />Nachdem du gelacht hast, sagst du: Ich war irgendwie getrennt von mir. Und jetzt lebe ich mit dir in Trouville und fange an, zu mir selbst zu kommen. <br />Du betrachtest dich im Glas des Fensters wie jemanden, der dir ähnelt. <br />Du sagst: Ich schäme mich nicht mehr, einen Körper zu haben und Lust zu empfinden. <br />Du zögerst. <br />Du sagst: Ich kann mich endlich wieder schön finden. Du wartest. Dabei schaust du mich an. <br />Du sagst: Ich habe keinen Vater, keine Großmutter, keinen Großvater, nicht einmal mehr eine Mutter. Und ich lache wieder. Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. <br />Du wiederholst den Satz einige Male. Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. <br />Du hörst dich erleichtert an, als du es sagst. <br />Daß du dich schön findest und das Gefühl der Erleichterung breiten sich aus und umschließen deinen Körper wie eine zweite schützende Haut. <br />Du lachst abermals. <br />Du sagst: Ich bin kein Kind mehr. </div>
<div align="justify">
aus: Lucia oder die Liebe<br />© RW; 2009, BoD<br />ISBN: 978-3839116906</div>
Vizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-55764437199453483442012-08-26T09:46:00.003-07:002012-08-26T09:46:20.113-07:00Im Haus der Provider oder wie man vor aller Augen Kinder fickt<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Vorbemerkung:</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Einmal zeigte mir jemand Bilder aus dem World Wide Web. Bilder von Kindern und von Männern, wie sie Dinge miteinander tun, die Kinder und Männer für gewöhnlich nicht miteinander tun. Genaugenommen sah ich nur die Kinder. Von den Männern waren nur die Geschlechtsteile oder andere barbarische Instrumente ihrer Körper zu sehen, mit denen sie die Kinder malträtierten. Ich sei Schriftsteller, sie fand, ich solle darüber schreiben.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Später, sehr spät in der Nacht, sah ich eine Reportage, im Fernsehen, über das Ficken von Kindern im World Wide Web. Angesichts des Grauens verstummte ich augenblicklich. Während ich mich still verhielt und darauf wartete, daß der Schmerz aufhörte, legte das Grauen seinen Weg durch mich zurück. Erneut stiegen jene Bilder in mir auf, die sie mir Monate zuvor im World Wide Web gezeigt hatte. Ich sah wieder die Faust eines Mannes, wie sie im Anus eines Jungen steckte, und ich fragte mich, was die Faust eines Mannes im Anus eines Jungen zu suchen hatte. Ich erkannte auch das Mädchen wieder, dieses namenlose Mädchen aus dem World Wide Web, dem ich einen Namen gegeben hatte, um seine schreckliche Anonymität für mich zu durchbrechen. Nachdem ich lange genug aufgehört hatte, irgend etwas zu tun, die Nacht näherte sich bereits ihrem Ende, begann ich zu schreiben.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">In den folgenden fünf Tagen und Nächten schrieb ich fünf verschiedene Fassungen. Ich holte die Dinge aus dem Dunkel zu mir heran, warf sie in die Dunkelheit zurück, weil ich es kaum ertragen konnte. Andere Dinge, sehr persönliche Dinge, richteten sich plötzlich in ihrer ganzen Größe vor mir auf, und ich hatte meine liebe Not, sie kleinzuhalten. An einem Tag fand ich das, was ich schrieb, zu hart und versuchte das Geschriebene abzumildern. Am Tag darauf machte ich alles wieder rückgängig. Dann, in der letzten Nacht, war es mir egal. Ich widersetzte mich nicht länger. Ich überließ mich dem Schreiben, ganz gleich, wohin es mich bringen würde. Mit dem, was ich sagte, würde vielleicht keiner einverstanden sein, doch da es authentisch war, wäre es vollkommen. Denn es ist so, daß ich zu der Ansicht gelangt bin, daß das Ficken von Kindern eine schreckliche Sache ist. Daß für ein geficktes Kind das, was es erlebt hat, niemals vorüber ist. Daß für ein geficktes Kind das Leben nicht mehr weiter geht. Für ein geficktes Kind ist das Leben immer schon gewesen. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Ich überlasse Ihnen meinen Text, der davon handelt, wie man im World Wide Web Kinder fickt, vor unseren Augen sozusagen. Ich weiß nicht, was ich von Ihnen erwarten kann, was ich Ihnen zutraue. Andererseits glaube ich noch daran, daß, wenn es Menschen gibt, die fähig sind, Kinder zu ficken, es auch Menschen geben wird, die fähig sind, dem entgegenzuwirken. Wenn Sie zu diesen Menschen gehören, werden Sie in einem Kind einen Menschen erkennen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Gut, fangen wir an:</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Jemand hat mir gesagt, ich solle nicht «Ficken» sagen, und wenn ich schon «Ficken» sage, solle ich es nicht gleich in der Überschrift verwenden. Das Wort «Ficken» schrecke ab, vor allem im Zusammenhang mit dem Wort «Kinder», oder es stimuliere, was abhängig davon sei, auf welchem Planeten man gerade lebe und wie man dort seine aktuelle sexuelle Präferenz bezeuge.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Bei gründlicher Betrachtung gibt es für das, worüber ich sprechen werde, noch kein angemessenes Wort. Selbst das Wort «Ficken» ist, sogar in seiner eigentlichen Härte, noch eine Verniedlichung, schon aus dem Grund, daß man es heutzutage zu jeder Gelegenheit und aus jedem Mund hören kann. Viele gebrauchen dieses Wort, um bestimmte Affekte abzureagieren, andere, um sich gegenseitig zu beleidigen. Regelmäßig gebrauchen es Autofahrer, um ihre vermeintlichen Revieransprüche zur Geltung zu bringen, oft bei heruntergelassenen Scheiben, in Verbindung mit einer zur Faust geballten Hand, aus der der Mittelfinger steil nach oben gerichtet ist. Ebenso wird es häufig in dem Medium verwendet, das man Fernsehen nennt, obwohl man dort weit seltener in die Ferne sieht, als man selber glaubt. Vielmehr kann man mit Hilfe seiner Fernbedienung in die Tümpel seiner fortgesetzt degenerierenden Nachbarschaft blicken, wobei man ebensogut aus dem Fenster schauen könnte. Es gibt auch immer noch Leute, die sich nicht abgewöhnen können, dieses Wort zu gebrauchen, um den Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen zu vulgarisieren, sogar noch, wenn es sich dabei um sie selber handelt. Kürzlich sah ich auf der Straße ein etwa neun Jahre altes Mädchen, das mit einer Stimme voller Verachtung seinem gleichaltrigen Spielkameraden ein wütendes «Ich fick dich!» hinterher brüllte. Ich werde darauf noch zurückkommen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Obwohl das Wort «Ficken» durch den häufigen Gebrauch derart verschlissen ist, daß es scheinbar kaum noch jemanden erschüttern kann, habe ich mich entschieden, es zu verwenden, um genau dies zu versuchen: Sie zu erschüttern. Ich möchte Sie in die Enge treiben, Ihr Herz ergreifen, auch Ihren Körper. Ich möchte Ihnen die volle Bedeutung dieses Wortes zurückgeben, seine ganze Härte. Auch, daß Sie dieses Wort nie wieder ohne den Gegenstand, den ich hier behandeln werde, denken und fühlen werden. Dazu werde ich mir auch zunutze machen, daß dieses Wort, das Wort «Ficken», immer dann im Volksmund auftaucht, wenn irgendwo ein Sexualverbrechen an einem Kind bekannt wird, weil genau dann der alte Schrecken, den dieses Wort hervorruft, und seine eigentliche Bedeutung auf vollkommene Weise in Erscheinung treten. Sätze wie «Dieser Perverse da hat das Kind gefickt», kann man dann oft an der Frontwand des Hauses lesen, in dem der Täter mit seiner Familie wohnt.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Ich weiß nicht, ob mir irgend etwas von dem gelingen wird, was ich mir vorgenommen habe. Mag sein, Sie werden nur müde gähnen, mich als einen weiteren Spinner abtun, der Ihnen Ihre Zeit stiehlt, und sich dann zur Seite drehen und weiterschlafen. Aber ich habe so etwas wie eine verrückte Hoffnung, es könnte mir dennoch gelingen, Sie in Bewegung zu bringen. Natürlich werde ich nicht von Ihnen verlangen, daß Sie fünf Schritte auf einmal gehen und mit einem Mal alles zu ändern versuchen. Nur Verrückte würden so etwas von Ihnen verlangen. Wahrscheinlich würden auch nur Verrückte fünf Schritte auf einmal gehen. Sehen Sie, ich bin bescheiden: eine kleine Drehung von Ihnen, weg von Ihrem Fernsehsessel, wo Sie Abend für Abend Ihr zufriedenes Herz ausfurzen, <span style="mso-spacerun: yes;"> </span>würde mir schon ausreichen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Ganz am Anfang wollte ich das Wort «Ficken» nicht gebrauchen, ich hatte zuerst das Wort «Foltern» favorisiert. Ich fand aber bald, daß das Wort «Foltern» gerade die sexuelle Ausdehnung meines Gegenstandes nur mangelhaft trifft, da die Folter im heutigen Sprachgebrauch als etwas verstanden wird, was einer Person von einem Träger staatlicher Gewalt oder auf dessen Veranlassung hin angetan wird, meistens indem dieser Person vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen. Oder, wie wir aus den Gefängnissen in Abu Ghraib und Guantanamo hörten: weil es Lust bereiten oder einfach nur Spaß machen kann, andere Menschen zu foltern. Weil man, indem man einen anderen Menschen foltert, sein eigenes beschissenes Leben auf die Ebene eines Gottes erhöhen kann. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Doch dies ist hier nicht der Fall. Die Gewalt, von der ich sprechen werde, ist zwar ebenso eine, die einhergeht mit Macht, Dominanz, Unterdrückung, Furcht, Schmerz und dem absoluten Schrecken, aber sie ereignet sich im persönlichen Lebensbereich. Die meisten Kinder, die gefickt werden, stehen mit dem, der sie fickt, in einer direkten Beziehung. Auch fand ich den Begriff Vergewaltigung zu eindimensional, um dem massenhaften Ficken von Kindern gerecht zu werden, obendrein zu sehr verortet mit dem, was Männer für gewöhnlich Frauen oder Mädchen nach oder während der Pubertät antun. Es ist allerdings in der Tat so, daß diese Kinder vergewaltigt werden, aber es findet eben noch mehr statt. Tatsache ist, daß diese Kinder nicht nur vergewaltigt werden. Sie werden auch vergewaltigt, und sie werden ebenfalls gefickt. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Sie müssen wissen, daß die Männer, die diese Kinder vergewaltigen, nicht zwangsläufig die sind, die sie ficken. Die, die sie ficken, das sind die, die im Haus der Provider sitzen und darauf warten, daß jene, die vergewaltigen, immer wieder neue Kinder vergewaltigen, damit sie sie anschließend per Mausklick ficken können. Andererseits wird kaum jemand ernsthaft bestreiten, daß auch die, die Kinder vergewaltigen, zu denen zählen, die sie ficken, weil sie von denen, die sie per Mausklick ficken, dafür bezahlt werden, daß sie sie vergewaltigen. Das mag für den einen oder anderen eine sehr schlichte Logik sein, aber bedenken Sie den nicht zu unterschätzenden Vorteil, der in der Schlichtheit liegt: jeder kann das verstehen. Das «Ich fick dich!» dieser Männer ähnelt verblüffend dem «Ich fick dich!» des Mädchens, das es seinem Spielkameraden hinterher brüllt. Dieses «Ich fick dich!» sagt: «Du bist für mich der letzte Dreck! Ich verabscheue dich! Ich fick dich! Ich kann das! Keiner wird mich daran hindern!» Jemanden zu ficken, das bedeutet nicht unbedingt, den Koitus zu vollziehen. Das bedeutet auch, Lust zu haben, den anderen zu erniedrigen und ihn zu demütigen. Es bedeutet, ihn zu verhöhnen und ihm zu zeigen, daß man mit ihm machen kann, was man will. Im Krieg, etwa nach einer gewonnen Schlacht, sprachen die Sieger davon, daß sie ihre Feinde gefickt hatten. Ein Palästinenser nahm sich in den siebziger Jahren das Leben, weil er sich durch die Bemerkung eines Israeli in seiner Ehre gefickt sah.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Um das Wort »Ficken« zu umgehen, könnte ich von Geschlechtsverkehr sprechen, werden mir einige von Ihnen entgegenhalten. Doch da ich von Kindern sprechen werde, genauer gesagt, von Kindern, die von erwachsenen Männern zum Opfer von deren sexueller Präferenz gemacht werden, kann ich gerade nicht von Geschlechtsverkehr sprechen. Geschlechtsverkehr, das ist etwas, das Erwachsene für gewöhnlich miteinander haben, nachdem beide ihre Einwilligung gegeben haben. Selbst wenn es sich um mehr als nur zwei Erwachsene handelt, die miteinander Geschlechtsverkehr haben, haben alle Beteiligten ihr Einverständnis bekräftigt. Gelegentlich spricht man auch vom Liebesakt, wenn man vom Geschlechtsverkehr spricht. Da das, worüber ich sprechen werde, mit allem anderen zu tun hat, aber gewiß nicht mit Liebe, und da die Kinder, von denen ich sprechen will, nicht eingewilligt haben, Geschlechtsverkehr mit erwachsenen Männern zu haben, werde ich «Ficken» sagen. Ich werde es oft sagen. Ich werde sagen, daß erwachsene Männer Kinder ficken, in diesem Land, vor unseren Augen. Ich werde auch sagen, daß wir alle zusehen, denn wir alle wissen es. Ich werde mich außerdem weigern, einen Unterschied zu machen zwischen denen, die die Kinder faktisch ficken und die Bilder dieses Fickens ins Haus der Provider stellen und dort kursieren lassen, und den anderen, die die Kinder nur im Kopf ficken, obwohl es natürlich den Unterschied gibt, daß die einen die Kinder faktisch vergewaltigen, während die anderen «nur zusehen», wie die Kinder vergewaltigt werden. Doch die, die Kinder im Kopf ficken, sind letztendlich genau die, die es möglich machen, daß die anderen die Kinder tatsächlich vergewaltigen und ficken, um wiederum jene bedienen zu können, die die Kinder im Kopf ficken. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Das Ficken von Kindern ist, wie so vieles heutzutage, eigentlich wie das meiste, ein Geschäft. Es gibt einen Markt für das Ficken von Kindern, das ist wirklich wahr. So wie es einen Markt gibt für Erdöl, Kaffee oder Bananen. Man kann vor seinem Computer per Mausklick das Ficken von Kindern kaufen. Grundsätzlich herrschen auf dem Markt Gesetze. Die Gesetze lauten: Angebot und Nachfrage, und meistens bedingen sie sich gegenseitig. Das gilt ebenso für den Markt, auf dem Kinder gefickt werden. Da ist nichts zu differenzieren, zumindest nicht für mich. Auch wenn es gespenstig anmutet, ökonomische Begriffe wie Markt, Angebot und Nachfrage in einem Atemzug mit dem Ficken von Kindern zu gebrauchen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Nach Mitternacht sehe ich in der ARD die eindringliche Reportage «Geheimoperation Kathedrale» über den Kinderpornographie-Club «Wonderland». Der gut gemachte Beitrag korrespondiert mit vielen Informationen, die ich von M. zu diesem Thema bekommen habe: Kinder als Ware, verschleppt, mißbraucht, gemartert, beim Mißbrauch und der Tortur gefilmt und anschließend weggeworfen, wie Abfall. Die Kinder, die es überleben, sind für den Rest ihres Lebens beschädigt. Sie sind zerbrochen, wirken bruchstückhaft und wie durchlöchert. Sie sind unfähig, Beziehungen einzugehen oder Beziehungen aufrechtzuerhalten, weil sie unfähig sind zu vertrauen. Sie leben in einem inneren Land, das einem kalten Planeten gleicht, der von jenem Land, in dem Sie leben, durch eine massive Grenze getrennt ist. Alle Versuche, ihr Land dauerhaft zu verlassen, um etwa bei Ihnen und Ihresgleichen zu leben, scheitern fast immer. Die Erfolge der Ermittlungsbehörden sind marginal, auch wenn ihnen, wie bei der «Geheimoperation Kathedrale», gelegentlich ein großer Coup gelingt. Gleichzeitig herrscht bei den Providern und in deren Umgebung eine bedenkliche Arroganz, wenn es darum geht, hier einzugreifen, verbunden mit kaum verhohlener Gier und einem seltsamen, atemraubenden Stumpfsinn, auf den man kaum etwas Intelligentes erwidern kann. Auch die Männer, die Kunden, jene, die im Haus der Provider leben und dort ein- und ausgehen, sind auf eine unerhörte Weise unempfindlich gegenüber dem Anderen, dem Kind, das für sie eine Ware ist, die sie kaufen, verkaufen oder tauschen. Diese Männer, die keine Männer sind, denen man schon aus der Entfernung ansieht, daß sie Kinder ficken, sie lassen keinen Zweifel daran, daß sie alles tun würden, um an neue Bilder zu kommen, um neue Kinder zu sehen. Bilder und Filme von nackten Kindern. Kindern mit unnatürlich gespreizten Beinen. Kindern bei der Fellatio mit erwachsenen Männern. Bilder und Filme von an Füßen und Armen aufgehängten Kindern, gefesselten und geknebelten Kindern. Kindern in der schwarzen Montur einer Domina. Kindern mit den Genitalien von erwachsenen Männern in jeder ihrer Körperöffnungen. Bilder und Filme von acht Jahre alten Kindern. Bilder und Filme von sechs Jahre alten Kindern. Bilder und Filme von elf und zwölf Jahre alten Kindern. Aber ohne Schambehaarung, auf dieses Detail legen jene Männer großen Wert. Bilder und Filme von vier Jahre alten Kindern, sogar von Säuglingen. Bilder und Filme von Mädchen und Bilder und Filme von Jungen. Filme mit Tonspur, auf der die Schreie und das Flehen dieser Kinder zu hören sind. Die Filme mit der Tonspur sind sehr gefragt. Diese Männer würden wirklich alles tun für solche Filme. Sie würden sterben für den Genuß, den ihnen diese Filme verschaffen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Wieder sitzen wir bei ARD und ZDF in der ersten Reihe – aber warum erst nach Mitternacht? Selbst wenn es sich bei «Geheimoperation Kathedrale» um eine Wiederholung handelt, die irgendwann einmal zu einer besseren Sendezeit gezeigt wurde, ist das kein Grund, einen Beitrag von solcher Brisanz und Aktualität ins Nachtprogramm zu verbannen. Wem also nutzt es, daß solche Beiträge nicht um zehn Uhr am Abend gezeigt werden? Und sind die, die entscheiden, daß solche Beiträge nach Mitternacht gesendet werden, identisch mit solchen, die möglicherweise die Produktion einer solchen Reportage zwar nicht verhindern konnten, durch einen späten Sendeplatz wohl aber eine breit angelegte Diskussion darüber – Mitglieder eines anderen «Wonderland»? Solche Sätze fordern zum Widerspruch geradezu heraus, das ist mir völlig klar. Aber man soll mir ruhig widersprechen. Mir einen Sendeplatz nach Mitternacht erklären, wenn es um so etwas geht wie das Ficken von Kindern. Mir dabei auch das begreiflich zu machen versuchen: das massenhafte Ficken von Kindern, das sich in der Öffentlichkeit zuträgt, vor unseren Augen, in dem für jeden zugänglichen Haus des World Wide Web, wo man mit einem Mausklick jedes beliebige Zimmer betreten kann.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Was machen die Provider, wenn in dem von ihnen vermieteten Haus Kinder gefickt werden? Sehen Sie, sie wissen es natürlich alle, aber sie verdienen daran, und sie behaupten, daß sie nichts tun können. Sie untermauern ihre Behauptung durch eine weitere, nach der sie dagegen nichts ausrichten können, weil der Gesetzgeber inkompetent sei, was ihnen die Hände binde, gegen diese Männer vorzugehen. Sie faseln auch viel von der Freiheit des World Wide Web, in die sie nicht eingreifen wollten, und in die auch der Gesetzgeber nicht eingreifen könne. Sie bekräftigen, daß es sich bei diesen Männern nur um Randerscheinungen handele, wegen denen das World Wide Web nicht reglementiert werden solle. Während sie so schwätzen, kassieren sie bei ihren Kunden weiterhin ab, selbstverständlich auch bei diesen Männern, denen das World Wide Web längst zur innersten Heimat geworden ist. Die Provider waschen ihre Hände in Unschuld, wobei es ihnen völlig gleichgültig, von wie vielen mißhandelten Kindern das Wasser bereits blutig gefärbt ist, in dem sie ihre unschuldigen Hände waschen. Ich weiß, es gibt Ausnahmen. Aber die gibt es immer. Es sind jedesmal die Ausnahmen, die vom eigentlichen Problem ablenken sollen. Man kann sich sein winziges Hirn wund diskutieren mit solchen Ausnahmen, bis das Problem darunter verschwindet. Teile der Medien haben ihre einzige Daseinsberechtigung in diesem Phänomen. Ich glaube auch nicht, daß der Gesetzgeber inkompetent ist. Der Gesetzgeber ist vielleicht schwerfällig, mitunter sehr abstrakt, gelegentlich auch korrupt und zu sehr in das involviert, was zur Rede steht, aber niemals inkompetent. Immerhin hat der Gesetzgeber nur wenige Wochen benötigt, um eine Kampfhundeverordnung auf den Weg zu bringen und mehrere Dutzend gefährlicher Hunde unschädlich zu machen. Er hat dabei Fehler gemacht, und er hat diese Fehler gemacht, weil er zu hastig vorgegangen ist. Weil er sich von einer gewissen Hysterie anstecken ließ, nachdem einige Kinder von solchen Kamphunden tot gebissen wurden. Einer Hysterie, die dem Gesetzgeber seltsamerweise völlig abgeht, wenn von mißhandelten und regelrecht abgeschlachteten Kindern die Rede ist. Trotzdem: wie könnte es gerade dem Gesetzgeber nicht gelingen, eine Verordnung zu erlassen, die den Providern so auf die Finger schlägt, daß es wirklich schmerzt? Es sei denn, er will es nicht.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Warum den Providern auf die Finger schlagen, werden Sie fragen. Warum nicht den Kunden, diesen Männern? Nun, weil die Provider der Dreh- und Angelpunkt sind. Wenn ich ihnen auf die Finger schlage, erteile ich auch den Kunden, diesen Männern, eine Lektion. Die Provider sind das Bindeglied zwischen denen, die die Kinder vergewaltigen und ficken, und den anderen, die sie im Kopf ficken. Wenn die Provider ihre tätige Mithilfe einstellen würden, würden die Männer, die bisher Kinder vergewaltigt und gefickt haben, natürlich nicht aufhören damit. Sie würden andere Wege suchen, Wege, die man unter Umständen wirkungsvoller zurückverfolgen könnte. Auch die anderen, die die Kinder im Kopf ficken, würden sie weiter im Kopf ficken. Nur eben nicht mehr im World Wide Web, nicht vor unseren Augen. Möglicherweise würden dann auch keine Begehrlichkeiten durch entsprechende Angebote überhaupt erst geweckt. Sehen Sie, wenn ich Provider wäre, und ich hätte einen Teil dieses großen Hauses, das sich World Wide Web nennt, und ich würde erfahren, daß die Mieter bei geöffneten Fenstern und Türen den Kindern ihrer Nachbarn die Seele aus dem Leib gefickt und dazu alle möglichen Leute eingeladen hätten, ich würde sie hinauswerfen. Ich würde mir einen dieser Baseball-Schläger nehmen und sie aus dem Haus prügeln, und zwar mitsamt den Leuten, die sie zu ihren Bacchanalien eingeladen haben. Ich würde das tun, ganz unabhängig davon, was sie mir an Miete gezahlt hätten und welches gute Leben ich mir davon hätte leisten können. Ich würde das Geld, das ich bereits von ihnen erhalten hätte, einer wohltätigen Organisation spenden. Ich wäre voller Scham darüber, daß in meinem Haus so abscheuliche Verbrechen vorgefallen sind. Ich würde jeden Morgen im Bad mein Gesicht im Spiegel sehen und mich ins Waschbecken übergeben. Ich würde diese Leute vor dem Haus an einen Zaun ketten und darauf warten, daß irgendwer, der sich für zuständig hält, diesen Inbegriff von vollkommen verfehlter Anständigkeit abholt und irgendwo unterbringt, wo er keinen Schaden mehr anrichten kann. Wenn ich einen besonders schlechten Tag hätte, würde ich ihnen einen Schild um den Hals hängen, auf dem ich ihre sexuelle Präferenz deutlich machen würde. Da ich ein Provider wäre, würde ich die Gunst der Stunde nutzen und die Bilder dieser Männer zu einer Weltreise durch das gesamte World Wide Web schicken. Ich würde auch nicht auf den Gesetzgeber warten. Es wäre mein Haus, ich hätte es vermietet. Ich wäre verantwortlich, vor allem, wenn ich wüßte, was darin geschieht. Ich würde saubermachen, denn kein anderer außer mir könnte das tun. Ich würde dem Gesetzgeber zeigen, wie ich Ordnung in meinem Haus geschaffen, wie ich dieses Problem gelöst hätte. Gewiß, ja, danach würde es Beschwerden geben. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Dann würde jemand finden, ich sei zu hart gewesen. Horden von Anwälten würden die Gerichte bemühen, denn diese Männer würden nicht auf ihren Genuß verzichten wollen. Man würde die Verletzung des Schutzes der Persönlichkeit gegen mich anführen. Auch die Datenschützer würden ihre Darbietungen einbringen. Bestimmte Lobbyisten würden sofort versuchen, das Hohe Lied der Freiheit des World Wide Web zu intonieren. Sie würden ein- und mehrstimmig singen und keine Strophe dabei auslassen. Sie würden ganze Chöre aufmarschieren lassen, die alles in Grund und Boden sängen, was sich der Großen Freiheit des World Wide Web in den Weg stellte. Sogenannte Experten würden im Fernsehen das übliche Gestammel von sich geben und sich einander jede noch so wahnwitzige Sinnlosigkeit bestätigen. Vielleicht würde man mich verurteilen, von der Unverhältnismäßigkeit der Mittel sprechen, von Rufschädigung, sogar von Körperverletzung. Doch das wäre mir egal. Ich würde nicht verstehen, welchen Ruf ich geschädigt hätte, als ich gesagt habe, ein Kinderficker ist ein Kinderficker ist ein Kinderficker, wobei die Anwendung der Begriffe «Ruf» und «Rufschädigung» gerade bei solchen Leuten wie den Kinderfickern eine völlig neue Dimension erhielte. Ich würde mir auch sagen, gut, wenn es regnet, wird man eben naß. Meine einzige Rechtfertigung wären die bestialisch gequälten Kinder und daß ich Kenntnis von ihnen hätte. Das wäre mir genug. Wozu immer man mich verurteilen würde, dem würde ich zustimmen. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Nach und nach würde auch der Gesetzgeber seinen gewaltigen, aber schwerfälligen Körper erheben und irgendwann finden, daß ich über das Ziel hinausgeschossen sei. Das wäre gut, ich wäre dann einen Schritt weiter gekommen. Ich hätte den Gesetzgeber zumindest da, wo er hingehört: er müßte nun Ziele formulieren und Rahmenbedingungen abstecken. Wenn die vorhandenen Rahmenbedingungen nicht ausreichten, um die Kinder zu schützen, müßte der Gesetzgeber diese modifizieren. Wenn die Anzahl der Personen nicht ausreichte, die nötig wären, um die modifizierten Rahmenbedingungen umzusetzen, müßte der Gesetzgeber die Anzahl der Personen erhöhen. Der Gesetzgeber müßte seinen gewaltigen, aber schwerfälligen Körper aufrichten und sich vor die Kinder stellen, er müßte sie mit der ganzen Macht seines Körpers vor den Kinderfickern schützen. Um sich der Bedeutung seines überlegenen Körpers und dessen Schutzfunktion für die Kinder völlig bewußt zu werden, würde der Gesetzgeber einige Zeit benötigen, wenn er seine Sache gut und richtig machen wollte. Immerhin ist genau seine Aufgabe. All die Leute in den Ministerien, Behörden und Institutionen, die den Gesetzgeber repräsentieren, werden genau hierfür bezahlt, von Ihnen und von mir, und nicht gerade schlecht. Tatsache ist, daß der Gesetzgeber die Oberaufsicht über das Haus hat, das die Provider vermieten. Tatsache ist außerdem, daß auch der Gesetzgeber an diesem vermieteten Haus und seinen dreckigen Kunden ordentlich verdient, und sei es nur über die Umsatzsteuer, die die Kunden des World Wide Web zahlen müssen. Weil der Gesetzgeber zum großen Teil aus Männern besteht, die vielleicht gerne auch weiterhin ungestört in das Haus der Provider gehen wollen, schließt sich hier einer der Kreise, von denen ich längst nicht alle überblicke. Letzteres ist keine Tatsache, sondern nur eine Mutmaßung, ich betone das ausdrücklich. Eine Mutmaßung, die allerdings nicht einer gewissen Evidenz entbehrt, auch wenn sie auf den ersten Blick ungeheuer brüskierend ist. Der Gesetzgeber könnte sich nun womöglich provoziert fühlen und mit seinen gesammelten Organen wie ein Gewitter über den Schreiber dieser Zeilen kommen und ihm einiges an Verdruß bereiten. Da der Gesetzgeber immer die ganze Macht hat, hat er hierzu alle Möglichkeiten. Dem gegenüber allerdings steht die Kriegserklärung der Kinderficker. Und das ist eine Bedrohung, von der sich der Gesetzgeber bisher nicht besonders herausgefordert gefühlt hat. Ich meine, weshalb sonst löst er dieses Problem mit einer Hartnäckigkeit nicht, wo er doch beispielsweise bei den Kampfhunden eine Leidenschaft bis hin zu einer an Fanatismus grenzenden Froschperspektive bewiesen hat? Natürlich, da ist ein Kind tot gebissen worden, von einer Hundebestie, mitten am Tag, in einer Schule, und die Medien haben sich ereifert wie immer, wenn es richtig blutig wird. Man kann sich schließlich nicht jeden Tag über sogenannte B-Promis, ehemalige Fußballspieler, abgehalfterte Tennisspieler oder abgewrackte Schlagerstars und deren Frauen und Ex-Frauen auslassen. Immerhin sind wir eine Mediokratie, in der die Arbeit des Parlaments endgültig abgelöst wurde durch die wöchentlichen Inszenierungen der politischen Klasse in den Talk-Shows. Politisch gearbeitet wird ausschließlich dort oder wo immer sonst eine Fernsehkamera oder ein Mikrophon zu finden sind. Die Medien müssen eine Nation führen, ganz egal in welche Richtung. Man muß Befürchtungen unters Volk streuen, Volkes Stimme zum Ausdruck bringen, Meinung machen, auch wenn das möglicherweise nur Befürchtungen, Stimmen und Meinungen von einigen Wenigen sind, die sich in der Nacht zuvor in einschlägigen Clubs als Kampftrinker ausgezeichnet haben. Drei Wochen Dauerbombardement in einschlägigen Presseorganen samt aller möglichen Kommentare aus jeder nur denkbaren Ecke zum Thema Kampfhund bringen den Gesetzgeber dazu, seinen schwerfälligen Körper rascher zu bewegen, als gut für ihn ist. Wir wissen, wenn einer seinen Körper schneller bewegt, als dieser Körper es zuläßt, wird er straucheln, stolpern, außer Atem kommen, Halt suchen, Fehler machen. Der Gesetzgeber handelt nun wegen der Medien. Eine Bande von Kampftrinkern, die ihre heiße Luft aus der falschen Öffnung herausgelassen haben, haben ihn mit Dreck beworfen. Alle Finger zeigen nun auf ihn, sein Image ist in Gefahr. Um sein Ansehen in der Öffentlichkeit wiederherzustellen, muß er sich reinigen, er muß handeln. Aber er handelt nicht wegen dem tot gebissenen Kind, ich bin mir ganz und gar sicher: nicht wegen diesem einen Kind, niemals. Nicht, wenn im Haus der Provider Kinder gefickt werden, Hunderte, Tausende, jeden Tag, von Menschenbestien, und jeder weiß das, wirklich jeder. Es werden sogar einige Kinder tot gefickt von diesen Menschenbestien. Wenn im Haus der Provider die Männer auch weiterhin ungestört ein- und ausgehen können für ihren sonderbaren Genuß, hat der Gesetzgeber nichts getan. Aber er wurde von den Medienvertretern auch nicht gerade gedrängt.</span></div>
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Wie kann das überhaupt geschehen, haben Sie sich das einmal gefragt? Wie das möglich ist, daß man einen solchen Rabatz veranstaltet wegen dieser Kampfhunde, während diese elenden Fickmänner weiter dem nachgehen können, was sie ihre legitimen Bedürfnisse nennen? Wie können Männer im Haus der Provider ungestört ein- und ausgehen und Kinder ficken, obwohl jeder davon weiß? Obwohl jeder weiß, daß dort Kinder gefickt werden, daß einige von ihnen sogar tot gefickt werden? Obwohl jeder das weiß, verdammt, ich wiederhole es: Jeder! Der Gesetzgeber weiß es, die Provider wissen es, wir wissen es, jeder weiß es. Wäre die Reportage um zehn Uhr am Abend gesendet worden, wüßten wir sogar, was das bedeutet, dieses Ungeheuerliche, da, das Ficken von Kindern. Wir wüßten von den schwindelerregenden Ausmaßen, die das Ficken von Kindern angenommen hat. Wüßten von dem Wahnsinn einer Wand mit über eintausend Fotografien von Kindern, die man gefickt hat. Wir hätten über eintausend Portraits von Kindern gesehen, von denen niemand etwas weiß, außer daß man sie gefickt hat. Letzteres weiß man unzweifelhaft, weil man die Portraits aus genau den Bildern und Filmen herausgeschnitten hat, auf denen die Kinder gefickt wurden. Es könnten Kinder aus Ihrer Nachbarschaft sein, aus Ihrem Bekanntenkreis, sogar aus Ihrer Verwandtschaft. Apropos Verwandtschaft: auch die Männer, die die Kinder ficken, könnten sich in Ihrer Nähe befinden, könnten Nachbarn, Verwandte, Arbeitskollegen, der Pfarrer, der Chef oder der Kommunalpolitiker sein. </span></div>
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Doch weiter: wir hätten auch die Männer gesehen, jene Männer, die die Kinder gefickt haben. Allerdings hätten wir nur ihre Körper gesehen, diese Instrumente der Bestialität, mit denen sie die Kinder heimgesucht haben. Zu keiner Zeit hätten wir die Köpfe dieser Männer sehen können, ihre Gesichter. Gesichter, die nur jene Kinder gesehen haben. Wir hätten Bilder und Schatten von Bildern gesehen, die auf weitere Bilder verwiesen hätten. Bilder, die wir niemals sehen würden, außer in einer abgründigen Dunkelheit, im Herzen der Finsternis, in uns selbst. Statt dessen haben wir schon geschlafen. Jemand in der Programmdirektion hat entschieden, daß diese Reportage nach Mitternacht gesendet wird. Wahrscheinlich haben auch die Vertreter der Kirchen geschlafen, obwohl sie ansonsten hellwach sind und zu jeder unmöglichen Tageszeit umgehend die Glocken läuten für jedes abgetriebene Kind, und eine Sturmwarnung herausgeben für jeden Embryo, der zu Forschungszwecken «verbraucht» wird. Ich will dieses Thema nicht herunterspielen, wahrscheinlich ist es wichtig, darüber einen Diskurs zu führen. Wichtig für die Dinge, die sich in der Zukunft ereignen könnten. Obwohl ich mich gerade frage, was das für eine herrliche Zukunft sein wird, errichtet auf den bestialisch geschundenen Leibern und Seelen tausender von Kindern. Hat schon einmal einer dieser Kirchenleute in der Gegenwart, in der wir mit diesen Kindern leben, die Glocke für ein im World Wide Web geficktes Kind geläutet? Ein winziges Glöckchen, wie sie etwa zu Ostern um die Hälse bestimmter Schokoladenhasen geschlungen sind? Hat es eine einzige Sturmwarnung für auch nur ein einziges, im World Wide Web geficktes Kind gegeben? Welchen Sinn soll es haben, einen Diskurs über Abtreibung oder den «Verbrauch» von Embryonen zu Forschungszwecken zu führen, wenn Kinder, die von Frauen nicht abgetrieben wurden, später im World Wide Web von diesen Männern gefickt werden? Ich meine, jeder abgetriebene Embryo hätte ein gnädigeres Schicksal als ein geborenes Kind. Auch die Medien haben bereits geschlafen, um für den nächsten Tag kampfbereit zu sein, um sich wieder einmal zu ereifern, wenn es richtig blutig wird. Oder wenn die sogenannten B-Promis, die ehemaligen Fußballspieler, abgehalfterten Tennisspieler und abgewrackten Schlagerstars und deren Frauen und Ex-Frauen uns öffentlich mit ihren letzten Resten von Sprachvermögen die Welt erklären oder ihre Daseinsberechtigung weismachen. Wo wir alle doch insgeheim wissen, daß selbst ein Goldhamster mehr Daseinsberechtigung hat als diese Leute und daß man sie zu anderen Zeiten entweder am Nasenring durch eine Manege gezogen, sie auf dem Jahrmarkt neben der Dame ohne Unterleib und anderen Abnormen ausgestellt oder ihr Blut im Sand des Circus Maximus in Rom unter der brüllenden Mittagssonne getrocknet wäre, nachdem die Löwen mit ihnen ihren Spaß gehabt hätten.</span></div>
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<span style="font-family: Arial;">Ich habe nicht geschlafen, doch das ist nichts Besonderes. Ich schlafe wenig, das hat persönliche Gründe, deren Gegenstand in meiner Geschichte liegt. Sie müssen wissen, daß es einen Teil von mir gibt, der niemals schläft. Schon am Anfang meiner eigenen Geschichte, wo es noch keine Provider gab, gehörte das Ficken von Kindern durchaus bereits zum Alltag bestimmter Männer, denen das World Wide Web heute wie ein Paradies erscheinen muß. Es gab schon immer Familien in diesem Land, zu deren Alltag das Ficken von Kindern gehörte. Nicht wenige würden mich für diesen Satz eigenhändig lynchen. Aber das stört mich nicht weiter.</span></div>
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Übrigens habe ich mich nicht nur in dieser Nacht gefragt, wie man überhaupt schlafen kann, wenn man weiß, daß Kinder gefickt werden. Nur in dieser Nacht habe ich darüber geschrieben. Dabei habe ich alles stehen und liegen gelassen, auch die Arbeit an meinem neuen Buch. Ein Grund, weshalb ich darüber schreibe, ist nicht allein der, daß ich mich über den späten Sendetermin dieser Reportage geärgert habe, das war nur der Auslöser. Einer der Gründe, einer der wesentlichen Gründe, ist ein Mädchen, das mir vor etwa einem Jahr im World Wide Web begegnet ist. Ich überlege mir schon länger, ob ich Ihnen von diesem Mädchen erzählen soll, immerhin ist es schon die ganze Zeit über da, während ich hier sitze und schreibe. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen es bemerkt. Dieses Mädchen trug eine kleine weiße Schütze, wie sie Serviererinnen für gewöhnlich tragen. Sie trug nichts, außer dieser kleinen weißen Schürze. Ihr Gesicht lag zwischen den Beinen eines Mannes, sein Glied steckte in ihrem Mund. Die Augen des Mädchens starrten in die Kamera, es versuchte tapfer zu lächeln. Vermutlich hat die Person hinter der Kamera das Mädchen hierzu aufgefordert, um dem möglichen Zuschauer einzureden, daß das Glied des Mannes in seinem Mund ihm keine Angst macht. Doch diesem Mädchen gelang es einfach nicht zu lächeln, vielmehr war sein Gesicht auf eine irrwitzige Weise verzerrt. Ich vermute, der Grund hierfür steckte in seinem Mund. Ich weiß nicht, wie alt dieses Mädchen war. Ich konnte erkennen, daß das Mädchen von kleiner Gestalt war, ohne jede Schambehaarung. Ich habe das Alter des Mädchens auf fünf Jahre geschätzt. Später habe ich dem Mädchen einen Namen gegeben, ich habe es Christina genannt. Ich mußte das einfach tun, ich hätte es nicht ertragen, dieses namenlose, gefickte Mädchen, wie es durch meinen Kopf irrt und überall anstößt, weil es nicht mehr hinaus kann. Es gab noch einige andere Bilder, auf denen Christina mit diesem Glied zu sehen war. Bilder, die ich nicht mehr sehen kann, weil ich sie tief, sehr, sehr tief in mir verbannt habe. Sie werden vielleicht Verständnis dafür haben, daß ich an diese Bilder nicht rühren will. Ich bin allein in dieser Nacht. Überhaupt bin ich sehr viel allein. Sehen Sie, ich möchte gerne weiterleben, auf irgendeine Weise, und dazu ist es notwendig, nicht zu nah an dieser Bilder zu kommen. Man kann nicht weiterleben, nicht mit solchen Bildern, das ist ausgeschlossen. Nicht einmal ich kann das.</span></div>
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Ein weiterer Grund, weshalb ich darüber schreibe, ist der, daß ich weiß, was das bedeutet: ein geficktes Kind zu sein. Dieses Kind konnte nie von jemandem als Opfer identifiziert werden, weil das Verbrechen an ihm totgeschwiegen wurde. Weil dieses Kind selbst, noch als Mann von Anfang Vierzig, dieses abscheuliche Verbrechen an ihm verschwiegen hat. Man hat dieses Kindergesicht nie an einer Wand neben anderen mißbrauchten und mißhandelten Kindern gesehen. Dennoch ist die Markierung, die dieses Kind in mir hinterläßt, unauslöschlich. Das ist so. Sie können es auch hier entdecken, dieses Kind. Es schreibt diesen Text mit und ist gleichzeitig ein Teil von ihm. Ich schleppe seinen geschlagenen und mißbrauchten Kadaver hinter mir her, weil ich mich nicht von ihm trennen kann. Immerhin ist sein Kadaver alles, was mir von meiner Kindheit verblieben ist. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Einmal, wenn Sie mir an einem bestimmten Tag irgendwo begegnen, können Sie dieses Kind noch sehen. Dann schreit es Sie an, dieses Kind, bisweilen so sehr, daß Sie nicht wissen, wie Ihnen geschieht. Sie werden es nicht immer sehen. Genau genommen wird es Ihnen die meiste Zeit über verborgen bleiben. Dazu müssen Sie wissen, daß ich dieses Kind gut versteckt habe. Oft finde ich es selber kaum. Selbstverständlich weiß ich, daß es da ist, und daß es traurig ist und wütend und voller Angst und allein. Dieses Kind lebt mit mir. Ich bin keinen Tag ohne es. Wir machen alles gemeinsam. Von Zeit zu Zeit ist das sehr schwierig, diese Art von Zusammenleben. Oft sprechen mich Leute an, und das Kind macht dann, daß ich mich sofort verberge. Dann und wann erkenne ich es wieder, wenn ich ein anderes Kind ansehe. Ich glaube, so ist es mir bei Christina ergangen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Und nun? Was nun? Was machen wir damit? Können Sie mir das sagen? Ich kann es nicht sagen, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was Sie tun wollen, oder was Sie tun werden. Ich weiß nicht einmal, ob Sie überhaupt etwas tun werden. Sie könnten sich über meinen Text aufregen. Sie könnten ihn abscheulich finden, abstoßend, ekelerregend. Er könnte Ihnen den Tag verdorben haben, »dieser verdammte Text«, so könnten Sie reden. Sie könnten die häufige Verwendung des Wortes «Ficken» kritisieren. Ich nehme am, einige von Ihnen werden mitgezählt haben. Sie könnten auch die Schreibweise beanstanden, das Verhältnis von Diktion und Sujet für unangemessen halten. Sie könnten sich von meinem Text zusammengeschlagen fühlen. Was auch immer, ich habe keinen Einfluß darauf. Der Text wird irgend etwas mit Ihnen machen. Sie werden irgend etwas mit dem Text machen. Doch was immer Sie beanstanden, ablehnen, anfechten, was Sie herabsetzen, worüber Sie meckern, nörgeln und sich beklagen wollen, denken Sie dabei an Christina und die anderen Kinder. </span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Auch wenn Sie als Kind nicht gefickt wurden, könnte es sich als sinnvoll herausstellen, sich über das Ficken von Kindern zu empören. Sie könnten Ihrer Empörung irgendeine Richtung geben. So könnten Sie anfangen, Fragen zu stellen, Sie könnten die Fragen laut stellen. Beispielsweise könnten Sie fragen, was das eigentlich für eine grenzenlose Freiheit im World Wide Web sein soll, die Kindern die Freiheit nimmt, um sich behaupten zu können? Und ob es eine Wahl gibt zwischen der Freiheit im World Wide Web und der Freiheit der Kinder? Och meine, kann es da wirklich eine Wahl geben? Oder ist es nicht vielmehr so, daß jeder, der im World Wide Web ein- und ausgeht, nicht seine Freiheit zum Ziel haben kann, ohne gleichzeitig die Freiheit dieser Kinder zum Ziel zu haben? Vielleicht könnten Sie diese Fragen Ihrem Provider stellen, oder Ihrem Abgeordneten, wobei der Letztere wahrscheinlich größeren Einfluß auf den Gesetzgeber hat. Allerdings unterschätzen Sie nicht den Einfluß, den Sie auf Ihren Provider haben. Verschwenden Sie einen Gedanken daran, wieviel er daran verdient, daß Sie ausgerechnet über ihn ins World Wide Web gehen. Denn in der Zwischenzeit gibt es auch Provider, die mit einem speziellen Suchprogramm den Teil des Hauses, für den sie verantwortlich sind, von solchen Bildern sauberhalten. Es gibt auch Leute unter Ihnen, die Tiere lieben und die sich sehr im Tierschutz engagieren. Leute, die auf die Barrikaden steigen würden, wenn man das, was man diesen Kindern antut, irgendwelchen Tieren antun würde. Es wäre ein Leichtes, sich auf die gleiche Weise für diese Kinder zu engagieren, wie Sie das bisher für die Tiere getan haben. Ich bin sicher, daß Sie das können. Sie können auch dieses Medium selbst nutzen, um gegen seine Auswüchse vorzugehen. Sie könnten diesen Text hier im Netz verbreiten und dabei eine gewisse Rücksichtslosigkeit an den Tag legen. Meine Erlaubnis hierzu haben Sie. Diese Entscheidung können nur Sie treffen, auch wenn Ihre Entscheidung Einfluß nehmen wird auf andere Entscheidungen, auf solche, die der Gesetzgeber zu treffen hat. Niemand außer Ihnen verfügt über eine solche Macht. Ich hoffe, Ihnen ist diese Tatsache bewußt.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Es ist einfach: der Gesetzgeber müßte der Auffassung sein, daß ein Kind nicht etwas ist, das man quälen und dann wegwerfen kann. Selbstverständlich wird der Gesetzgeber an dieser Stelle einwenden, daß er längst schon die Auffassung vertritt, daß ein Kind nicht etwas ist, das man quälen und dann wegwerfen kann, und auf eine Menge von Gesetzen und Verordnungen hinweisen, die das bekräftigen sollen. Hier müßte man ihm dann entgegnen, daß das gar nicht sein kann, nicht bei diesem massenhaften Ficken von Kindern, was ja deutlich zeigt, daß man ein Kind ohne weiteres quälen und dann wegwerfen kann. Die Frage, wie der Gesetzgeber nun zu der Auffassung gelangt, daß ein Kind nicht etwas ist, das man quälen und dann wegwerfen kann, ist berechtigt. Sie ist um so berechtigter, je energischer der Gesetzgeber an dieser Stelle einwendet, daß er längst schon diese Auffassung vertritt und, wie weiter oben erwähnt, auf seine Bemühungen diesbezüglich hinweist. Sie müssen es ihm sagen, ihn immer und immer wieder auf die horrende Zahl der täglich gefickten Kinder aufmerksam machen. Immerhin sind Sie der Souverän, selbst auf Ihren Fernsehsesseln. Was heißt, daß Sie sich nicht herausreden können und die volle Verantwortung haben für alles, was Sie tun, und für alles, was Sie unterlassen.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">Möglicherweise sind wir für diese Kinder bereits verantwortlich, bevor wir uns entscheiden können, verantwortlich zu sein. Demnach wäre unsere Aufmerksamkeit auf das Leiden dieser Kinder unabweisbar. Wir könnten nicht mehr zulassen, daß es irgendwelche Rechtfertigungen dafür gibt, diesen Kindern weiter Schmerz zuzufügen. Selbst wenn wir der Auffassung wären, daß wir in einem Schweinestall leben, und jeder nur krampfhaft versucht, in seiner Box zu bleiben, um diesen Wahnsinn, der das Ficken von Kindern ist, bloß nicht mitzubekommen, ändert das nichts daran, daß wir für diese Kinder Verantwortung haben. Selbst in einem Schweinestall, zumindest wenn er von menschlichen Wesen bewohnt wird, bedeutet das Wort «ich»: sieh mich. Das macht uns verantwortlich für alles und alle, genau genommen macht es uns zu einer Geisel dieser Kinder. Dies nicht länger zu leugnen, das wäre doch immerhin etwas, ein Anfang vielleicht.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
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<span style="font-family: Arial;">Für Christina, die später sagen kann, daß sie schon mit fünf Jahren im World Wide Web war</span></div>
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<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">© Richard Wolf; 2001;</span></div>
<div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt; text-align: justify;">
<span style="font-family: Arial;">durchgesehen und überarbeitet 2012</span></div>
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Vizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-67636068587109891412010-10-19T08:56:00.000-07:002010-10-19T09:00:56.675-07:00Neu anfangen<span style="mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';"><span style="font-family: Arial;"></span></span><br />
<div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><i style="mso-bidi-font-style: normal;"><span style="font-family: Arial; font-size: 10pt; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Jemand beginnt zu schreiben, </span></i></div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><i style="mso-bidi-font-style: normal;"><span style="font-family: Arial; font-size: 10pt; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">entschlossen vor Verzweiflung.</span></i></div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><span style="font-family: Arial; font-size: 10pt; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Maurice Blanchot</span></div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 12pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="margin: 0cm 0cm 0pt;"><span style="font-family: Arial; font-size: 10pt; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Für Aude Masserann – meine erste Leserin</span></div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><br />
</div><div class="MsoBodyText3" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt;"><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Einmal, vor Jahren, bevor etwas entzweigerissen ist, muß es ein Gefühl in mir gegeben haben, der Welt anzugehören. Zumindest für eine gewisse Zeit ist das gewiß so gewesen. Dieses Gefühl hat es gegeben. Ich täusche mich nicht. Ich selbst wurde davon überrascht, von dieser Selbstverständlichkeit, mit der ich wieder in der Welt war. Es geschah nicht mit einem Mal, sondern nach und nach. Und doch begann es unvermittelt, während einer Zugfahrt, in einem Zweite-Klasse-Wagen. Ich stellte fest, daß ich an Land zurückgehrt war. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Dazu muß ich sagen, daß ich Jahre vorher einen <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Unfall </i>hatte. Er passierte unvorhergesehen, wie die meisten Unfälle. Ein Psychologe sagte damals zu mir, ich sei wohl auf Grund gelaufen. Ich erinnere mich nicht, was ich darauf erwiderte. Nur an eine gewisse Gehässigkeit oder Schadenfreude bei ihm, die ich nicht verstehen, die ich nicht <i style="mso-bidi-font-style: normal;">mit-denken</i> konnte. Ich glaube, ich habe gar nichts darauf erwidert, sondern eher geschwiegen. Ich denke auch nicht, das mir das einleuchte, was er sagte. Ich war nicht auf Grund gelaufen. Vielmehr glaube ich, daß der Grund mich die ganze Zeit beobachtet hat. In den Jahren, den Jahrzehnten, um es genau zu sagen, in denen ich das Überleben nach meiner Kindheit nur im Ausweichen durchgehalten hatte, ließ mich der Grund nicht aus den Augen. Man kann wohl sagen, daß ich von ihm beschattet wurde. Genau genommen war es ein ständiges Herannahen. Und dann hat mich der Grund schließlich ereilt. Zwar sah ich die ganze Zeit das Land vor mir, aber ich konnte es nicht mehr erreichen. Ich war weder ganz an Land, noch ganz im Meer, was für mich gespenstisch und beängstigend war und mich einschüchterte. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Und mit einem Mal, während dieser Zugfahrt, vollzog sich eine andere Bewegung: die einer Entscheidung. Ich <i style="mso-bidi-font-style: normal;">entschied</i> mich, an Land zu gehen. Ich ging an Land. Schlagartig fühlte ich mich mir gegenüber nicht mehr fremd. Ich war ein Mann Anfang Vierzig, der im Zug saß und zu seiner Freundin fuhr. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Bei allem, was ich hier noch sagen werde, will ich nicht unerwähnt lassen, daß ich sie wegen dieser Zugfahrt mehr als alles auf der Welt geliebt habe. Im Hinblick auf dieses Ereignis, das nur geschehen konnte, weil ich wegen ihr die Unmöglichkeit auf die Probe stellte. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Jedenfalls gefiel mir plötzlich die Welt, ungeachtet ihres Unberechenbaren, das mir mit jeder Bewegung, mit der ich mich von der Grenze entfernte und auf der anderen Seite <i style="mso-bidi-font-style: normal;">ankam</i>, deutlich wurde. Mir gefielen die Helligkeit an den Tagen, das Dunkel der Nacht, die Jahreszeiten, die Musik von <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Damien Rice, Fine Frenzy, Sophie Zelmani, Eskobar</i>, <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ray Lamontagne</i>. Und<i style="mso-bidi-font-style: normal;"> Snow Patrol… »We’ll do it all/ Everything/ On our own/ We don’t need/ Anything/ Or anyone… If lay here/ If just le here/ Would you lie with me an just forget the world.«</i> Wir haben uns zu diesen Worten geliebt. Waren in der Stadt und haben das Lied laut gesungen und uns dabei umarmt und geküßt. Bis die Leute uns anschauten, als wären wir verrückt geworden. Oder wie sie übermütige Kinder manchmal anschauten: kopfschüttelnd. Bis wir lachen mußten, über die Leute und über uns. Über etwas, das sich gut und richtig anfühlte und das vielleicht Verliebtheit war. Ich kann es nicht mehr sagen. Es gab andere Situationen, in denen sie mit allem auf uns losging, was ihr zur Verfügung stand. In denen sie schroff und zurückweisend war und ich in der Öffentlichkeit nicht meinen Arm um sie legen durfte. Wo sie mich mit den Augen ihrer Mutter ansah und sich schämte, daß die Leute sie mit mir sahen. Wegen ihrer Gefühle, <i style="mso-bidi-font-style: normal;">die dann nicht sein durften</i>. Weil sie jung war und ich alt. Wegen dem, was die Nachbarn <i style="mso-bidi-font-style: normal;">denken</i> könnten. Wegen ihrer Mutter, die sich niemals ein Gefühl erlaubte. Und ihrer Tochter schon gar nicht.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Mir gefielen die Filme, die ich damals sah: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Lovesong für Bobby Long, Billy Elliot, High Art, Betty Blue, Lawn Dogs, Somersault</i> und <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Winter Pasing</i>. Es war die Zeit, in der ich <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Pferde stehlen</i> von Per Petterson las und <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Wo der Fluß die Richtung wechselt</i> von Mark Spragg. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Der Schatten des Windes</i> wurde veröffentlicht, das erste Buch von Carlos Ruiz Zafón, und man sah überall Menschen, die es lasen. Ich gehörte zu ihnen. Zuzeiten hatte ich ein kindliches Aussehen. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Es gab so etwas wie einen roten Faden, der mich mit der Welt verband. Einen komfortablen Platz, der nicht der eines Haustiers war. Es gab ein vertrautes Wesen, in diesem Fall jene junge Frau, für die die Dinge so radikal anders waren, daß wir keine gemeinsame Sprache fanden. Ein Ja war für sie kein Ja, ein Nein kein Nein. Sie konnte mich am Morgen herbeisehnen, begehren bis zum Schwindligwerden, und wenn ich am Abend dann bei ihr war, verachten und auf das Heftigste abwehren. Ein Versprechen war für sie etwas, das dem Moment gehörte und das keine Option auf die Zukunft darstellte. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Man verspricht halt etwas, aber jeder weiß doch, daß das nichts bedeutet, daß man das nur so sagt, weil es in einem bestimmten Moment eben paßt…</i> Mit ihren Worten bürgte sie für Empathie und Mitgefühl, die sie niemals in dem Maße aufbrachte, wie sie darüber sprach. Ihre Gefühle änderten sich im Viertelstundentakt, aber sie folgte jedem einzelnen mit der Ernsthaftigkeit einer Irren. Zeitweise waren da eine große Angst und Unsicherheit bei ihr zu spüren, die in krassem Gegensatz zu dem standen, was sie sagte. Und ich war mit Blindheit geschlagen, und mit Wünschen. Es gab Schwächen, auf meiner Seite. Diese Schwächen rührten von fehlenden Werkzeugen. Hatten zu tun mit Dingen, die ich nicht wußte. Mit dem Makel des Überlebens. Mit all den Beeinträchtigungen und Hemmnissen, die damit einhergingen. Die Schattenseiten meiner Wünsche sozusagen. Ich vertraute darauf, was sie sagte, mehr als meinen Gefühlen. Ich glaubte ihr. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ich glaubte!</i> Was naheliegend war. Denn ich kannte es nicht anders. Als mißhandeltes und mißbrauchtes Kind glaubst du nie <i style="mso-bidi-font-style: normal;">deinen </i>Gefühlen. Du hast nur die Wahl, den Worten zu glauben, oder gar nicht. Du glaubst den Worten, immer wieder. Immer wieder glaubst du. Du glaubst, daß deine Eltern ehrlich sind und wahrhaftig und daß sie dich lieben und daß die Dinge sich zum Besseren wenden. Daß dein Vater nicht wieder zu dir kommt in der Nacht. Daß der schwarze Gummiknüppel nicht abermals deine Haut zum Platzen bringen wird. Daß dein Vater dich liebt. Weil deine Mutter <i style="mso-bidi-font-style: normal;">sagt</i>, daß es so ist. Du glaubst das, weil ihre Worte ehrlich und wahrhaftig <i style="mso-bidi-font-style: normal;">klingen</i>. Weil ihre Worte ausdrücken, daß sich alles zum Besseren wenden wird. Du glaubst das. Du glaubst und glaubst und glaubst! Auch später noch, wenn du kein Kind mehr bist, aber noch immer zehn, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Du kannst nämlich niemals älter werden, wenn du mißbraucht wurdest. Du glaubst, daß die Frau, die du liebst, so schön ist, wie sie <i style="mso-bidi-font-style: normal;">sagt</i>, daß sie es ist. Daß sie schöner ist, als sie es ist. Und daß du es nur noch nicht sehen kannst. Daß sie dich liebt. Daß sie niemals dein Herz brechen wird. Du glaubst, wie der Junge, der du damals warst. Wegen dieser Not, die in dir kein Ende nimmt. Denn wäre diese Not nicht gewesen, hätte ich viel früher gesehen, was ich bereits gesehen hatte.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Als Schriftsteller vertraue ich darauf, daß die Worte, wenn man sie mir sagt oder schreibt, genau das bedeuten, was sie aussagen. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ich werde niemals dein Herz brechen,…</i> Das ist ein Versprechen. Der, dem ich es gebe, verläßt sich darauf, daß es mir ernst damit ist und keine Eintagsfliege. Daß ich mir der Verantwortung bewußt bin, wenn ich es gebe. Und für den Fall, daß ich wegen verschiedener Dinge, die sich in meinem Leben ereignen, dieses <i style="mso-bidi-font-style: normal;">niemals</i> aufgeben will, ich den Anderen um Verzeihung bitten muß. Denn falls ich das verpasse oder es mißlingt mir, habe ich sein Herz gebrochen.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ihr vollständiger Satz lautete übrigens: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ich werde niemals dein Herz brechen, dafür ist es viel zu schön.</i> Als sie es dann doch brach, tat es ihr nicht leid. Das konnte es auch nicht. Als sie Kind war, hatte es nie jemand zu ihr gesagt. Sie kannte es nicht besser. Die schrecklichen Dinge, die ihr zugestoßen waren. Und dann gab es niemanden außer mir, dem das leid tat. Sie kannte es nur von mir. Ich hatte es ihr gesagt. Aber das war nicht genug. Denn sie konnte es nicht annehmen. Sie wußte nicht, wie das geht. Und auch mit meinem schönen Herzen konnte sie nichts anfangen. Sie mußte es zerstören, nachdem sie es erkannte. Aber davor konnte sie etwas Schönes erkennen und sich für eine Weile daran erfreuen. Immerhin.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Es gab, vor ihren Versprechen, ihrem Verrat und ihren Ausreden, dem vorhersehbaren, unvorhersehbaren Riß, dem heute Phantomhaften ihrer Existenz, mit dem ich fertigzuwerden versuche, ihre Liebe, vielleicht. Und wenn schon nicht Liebe, so doch wenigstens eine Art von Zuneigung oder Sympathie, die von Liebe zeugt. Etwas das ganze Leben Zurückgehaltenes, das sie an ihrem Sterbebett irgend jemandem gestehen wird, der gerade da ist. Und das dann Liebe gewesen wäre. Etwas außerhalb ihrer uneingestandenen – und meiner eingestandenen – Bedürftigkeit und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, daß wir für eine gewisse Zeit zusammenblieben. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ihre unsichere, warme Hand auf meinem Körper, auf meinem Geschlecht. Ihre geschlossenen Augen, die jede meiner Bewegungen beobachtete, wachsam, voller Begehren und Angst, während sie mich machen ließ, während ich ihre Beine auseinanderschob, sie streichelte, in sie eindrang. Und nachdem sich unsere Körper geliebt hatten, konnte sie mich nicht anschauen. Als wäre sie ein Kind, das mich gerne hinausgeschickt hätte. Oder das darauf wartete, daß ich von selbst ging. Weil dies etwas war, daß sie von irgendwoher kannte. Etwas, daß sie sich schon einmal gewünscht hatte. Früher, als sie ein Kind war.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Die Musik, über die ich oben spreche, ich hörte sie in der Zeit mit ihr. Ich hörte sie <i style="mso-bidi-font-style: normal;">mit ihr</i>. Die Bücher, wir lasen sie zusammen. Die Filme, wir sahen sie gemeinsam. Das, was es noch gab, neben der Musik, den Filmen und Büchern, das zwischen ihr und mir, der Glanz des Gemeinsamen. Auch wenn es mir heute schwer fällt, daran zu glauben, daß es das gab, dieses Gemeinsame. Daß es etwas anderes war als <i style="mso-bidi-font-style: normal;">schwindelerregend</i>. Daß es jemals wahr war. Jedoch nichts, an dem sich eine sichere Orientierung festmachen ließ. Vielmehr die aus der Kindheit stammende, unüberwindbare Verzweiflung, die wir miteinander teilten. Eine Verzweiflung, die uns daran hinderte, eine andere Geschichte zu leben als jene verworrene, die wir miteinander gelebt haben. Als wären wir zu jener Zeit andere gewesen als die, die wir hätten sein können. Als wären bestimmte Worte niemals über unsere Lippen gekommen. Als wären wir noch jene Kinder, mit ihren immer frischen Wunden, die sich damals nicht auf die Schienen gelegt hatten. Damals, als wir noch Opfer einer rohen und kaltblütigen, exklusiven und erschreckenden Brutalität waren. Als wir diese Brutalität noch nicht überlebt hatten, als eine völlig andere Schöpfung. Jene traurige und unnahbare, desolate und verachtete Schöpfung, die durch den Mißbrauchs geschaffen wird. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Diese fremde Schöpfung erscheint einem selbst übrigens nie fremd. Man durchschaut sie lange nicht. Oft durchschaut man sie nie. Auch Andere sehen nicht, was mit einem los ist. Auch nicht, wie sehr alles von dieser Schöpfung durchdrungen und erschüttert ist. So sehr, daß, wenn zwei solche Geschöpfe sich begegnen, sie sich sofort wiedererkennen. Es ist unerklärlich und hängt vielleicht mit den Wunden zusammen, mit ihrer Ähnlichkeit. Durch das, was in der Kindheit geschah des Rechtes beraubt, sich berühren zu lassen, erkennt man im Anderen das Eigenste: die Verletzung. Da ist jemand, der die Gabe hat, einen zu erfassen, mit einem einzigen Blick. Den man lieben und umarmen, mit dem man sein Begehrern entdecken und ausleben kann. Jemand, der einem ähnlich ist. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Auf beinahe unwiderstehliche Weise wird etwas in Gang gesetzt, das nur in einer Tragödie enden kann, weil jeder im Anderen etwas <i style="mso-bidi-font-style: normal;">wiederfinden</i> will, statt <i style="mso-bidi-font-style: normal;">ihn</i> zu finden. Ihn, diesen Anderen, zu entdecken, ihn zu erschließen, als wäre er ein fremder Kontinent. Beide müssen also <i style="mso-bidi-font-style: normal;">arbeiten</i>. Weil die Liebe, nach der man sich sehnt, der Kontrast zum <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Wiederfinden</i> ist. Die Liebe ist also nur über den Preis von Arbeit zu haben. Man muß an den Wunden arbeiten. Beide müssen es. Um diese Liebe leben zu können, um sich frei fühlen zu können, muß man sich frei kämpfen von dem, was man im Anderen wiederfinden will. Man muß sich frei arbeiten, um sich für alle Gefühle frei fühlen zu können. Auch für die negativen, die sich hinter den Wunden und Narben der Kindheit verbergen und die sich oft in den Wünschen ausdrücken. Man muß die Arbeit an diesen Wunden und Narben mindestens so sehr lieben wie den Anderen. Man muß aufhören, sich und dem Anderen Geschichten über sich und seine Liebe zu erzählen, um ihn lieben zu können. Um auf eine Weise lieben zu können, die von den Worten, die über diese Liebe gemacht werden, nicht erfaßt wird. Einer Liebe die sich hinter den Worten, der Sprache verbirgt.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Als sie begriff, daß sie <i style="mso-bidi-font-style: normal;">mich</i> gar nicht zu lieben vermochte. Oder daß sie mich liebte, ohne die Voraussetzungen dafür zu erfüllen, nämlich für diese Liebe zu <i style="mso-bidi-font-style: normal;">arbeiten</i>. Daß sie wegen jener Ohnmacht, die aus ihrer Kindheit rührte, es nie vermocht hatte, jemanden zu lieben, zu keiner Zeit, weil sie nichts für das, was sie Liebe nannte, zu tun bereit war. Als sie glaubte, daß sie, weil sie ihre schlechten Gefühle ignoriert hatte, sich die guten Gefühle nur eingebildet hatte. Als sie deshalb in sich keinen Beweis dafür fand, daß sie liebte und glaubte, alles erfunden zu haben, für mich und für sich selbst. Als sie entdeckte, wie viele ihrer Worte, die sie mir gesagt hatte über ihre Gefühle für mich und das, was sie dachte über uns, lediglich der Tatsache geschuldet waren, daß sie mich brauchte, um nicht mehr so sehr unter ihrer Kindheit zu leiden. Bis auf einige Zärtlichkeiten im Dunkeln, für die sie nichts konnte, die über sie kamen, aus irgendeinem Schweigen in ihr. Zusammenhanglose Akkorde des Genießens, die keiner von uns fähig war, zu einer Symphonie zusammenzustellen, so unterschiedlich waren die Quellen, aus denen sie sich speisten. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Wie oft fühlte sie sich befriedigt und – zugleich beschämt, daß nur ich es war, der neben ihr lag, und keiner der schönen jungen Männer in ihrem Alter, mit denen sie tanzte und in die sich ständig verliebte. Bei denen sie womöglich das Gefühl hatte, sich dem Verpflichtenden der Nähe besser entziehen zu können. Denn Nähe hatte für sie etwas Bedrohliches. Dieses Bedrohliche korrespondierte mit ihrer Kindheit, es <i style="mso-bidi-font-style: normal;">sprach</i> Tag und Nacht. Es berichtete permanent, wie sie als Kind Nähe erfahren hatte: grenzverletzend, beraubend, also <i style="mso-bidi-font-style: normal;">in Übergriffen</i>. Sobald ich mich ihr näherte, erinnerte sich ihr Körper, daß er geopfert worden war. Sie konnte Nähe zwar zulassen, sie auch mehr oder weniger intensiv genießen. Aber nur wenn eine Tür in der Nähe war. Und diese Tür mußte geöffnet sein. Jemanden <i style="mso-bidi-font-style: normal;">richtig</i> zu lieben, sie wäre daran gestorben. Das muß für sie naheliegend gewesen sein. Denn sie war ja bereits einmal daran gestorben, an diesem Verwirrenden der Nähe. Daran, daß eine Tür verschlossen gewesen war. Das alles blieb undurchschaubar für sie. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Hinzu kam, daß es mir ähnlich erging. Nähe war – und ist – für mich mit Behinderungen und Widerständen, mit Empfindlichkeiten und enormen Hemmungen und Ängsten verbunden. Nur, im Gegensatz zu ihr, <i style="mso-bidi-font-style: normal;">arbeitete</i> ich daran. Wovon sie sich zusätzlich bedroht fühlte. Meine wachsende Verbindlichkeit schüchterte sie vollends ein. Ich habe noch im Ohr, wie oft sie sagte, daß sie sich klein fühle. Daß ich mit dem Einfluß, den ich auf sie hätte, Macht ausübte. Das war natürlich bloß dummes Gerede. Mein Einfluß ist keine Macht, die ich jemandem aufzwinge.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Als sie dies also begriff und sich klarmachte, daß sie mit alldem nicht fertigwerden konnte. Daß die Liebe etwas anderes war als die Worte, die sie darüber machte. Daß sie andere Antworten finden mußte, um andere Voraussetzungen für die Liebe zu schaffen. Was bedeutete, andere Fragen zu stellen, sich die eigenen Wunden anzusehen, statt ihnen sofort wieder zu entfliehen, sobald der Schmerz zu stark wurde. Als unleugbar wurde, daß das Bisherige nicht ausreichte, ging sie weg. Als wäre ich nicht mehr für sie als ein Versuch, irgend etwas Provisorisches. Immerhin wartete sie schon lange, wie ich heute weiß. Lag auf der Lauer. Wie ein Jäger im Wald. All diese jungen Männer, die ich bereits erwähnte. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ihre Verliebtheiten</i>. Sie liebte mich womöglich, hoffte aber jeden Augenblick auf einen Anderen. Doch dieser nicht kam nicht. Oder sie konnte sich für keinen von ihnen entscheiden. Weil sie sich an mich gebunden fühlte. Oder weil sie Angst hatte, mich zu verlieren. Weil es ihr gefiel, daß ich sie so über alle Maßen begehrte. Es fiel ihr vermutlich schwer, dem Reiz des Begehrtwerdens zu entkommen. Selbst wenn der, der sie begehrte, nicht der war, von dem sie wünschte, begehrt zu werden. Und den sie dann, mehr oder weniger, gewähren ließ. Jedenfalls war eine Entscheidung notwendig geworden. Vielleicht wäre es richtig gewesen, etwas für ihre Liebe zu tun, von der sie beteuerte, daß sie sie für mich empfand. Den eigenen Schmerz auszuhalten. Stehenzubleiben. Aufzuhören, ihre Beziehung mit mir als etwas Vorläufiges und Behelfsmäßiges zu sehen. Mit ihren Verliebtheiten aufzuhören. Sich verantwortlich fühlen. Aber <i style="mso-bidi-font-style: normal;">diese </i>Entscheidung traf sie nicht. Statt dessen entschied sie, mich nicht mehr zu lieben. Eine Entscheidung, die sie vermutlich nicht leichten Herzens traf. Vielleicht mußte sie sie erbrechen. Keinen Freund mehr zu haben, keinen Liebhaber. Niemanden mehr, den sie mitten in der Nacht anrufen konnte, wenn sie traurig war bis in ihr innerstes Herz, um sich eine Geschichte vorlesen zu lassen. Keinen Partner mehr, der ihr in allen Dingen ihres Lebens zur Seite stand. Der bei ihr blieb, ganz gleich, mit was sie ankam oder wie sie sich aufführte. Nur noch aus Sehnsucht, geplatzten Wünschen und Angst zu bestehen. Aufzugeben weiterzugraben, nachzusehen, was da war, so unerträglich, so quälend: ein kleines, zehn Jahre altes Mädchen, daß nie von ihr abfiel, so erwachsen sie auch wurde. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Sie fühlte sich von mir in die Enge getrieben. Allein durch die Unerbittlichkeit, mit der ich auf die eigenen Wunden blickte. Wegen der Entschiedenheit, mit der ich über meinen benutzten und durch den Dreck gezogenen Kinderkörper sprach, den ich wie eine Schubkarre mit zersprengten Fleischresten vor mir hertrieb. Wort für Wort. Die Worte, die ich benutzte, um den Kinderkörper abzuwischen. Um ihn von alldem Schmutz zu reinigen. Um ihn wieder rein zu machen. Ihn heilig zu sprechen. Manchmal setzte ich bestimmte Wörter in mir in Klammern oder sparte sie ganz aus, so sehr fürchtete ich mich vor dem, was diese Wörter auslösen, wohin sie mich führen würden. Und dann schrieb ich sie doch. Als wollte ich die Welt mit ihnen auslöschen. Als wollte ich das ganz und gar Unmögliche erreichen: für mich einen Platz im Leben finden. Ich war hartnäckig. Ich bin es noch, trotz meiner großen Müdigkeit. Der Gedanken, das zurückgelassene Kind könnte doch wie eine Katze sein und sieben Leben haben. Ich will diesen Gedanken nicht vorschnell aufgeben. Ich weiß, ich werde enttäuscht werden. Aber erst, wenn ich enttäuscht <i style="mso-bidi-font-style: normal;">wurde</i>, wird es keine Hoffnung mehr geben. Erst dann werde ich ungetröstet sein. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Nein, sie hätte niemals darüber hinwegkommen können. Darüber, daß es geschah, als sie ein Kind war. Und darüber, daß alle geschlafen oder weggesehen haben, als es geschah. Daß man sie dort zurückgelassen hatte, in diesem Käfig voller Rasiermesser. Wie in einem schlecht zusammengeschnittenen Film, wo nichts einen richtigen Sinn ergibt. Doch genau dorthin hätte sie zurückkehren müssen. Zu ihrem reglosen, zurückgelassenen Körper. Zu diesem Maß an Schande, daß man weder rächen, noch vergeben konnte. Dorthin, wo sich ihre Geschichte vollzog. Statt zu ihrer nie endenden Bewegung, mit der sie den Schmerz unterdrückte. Während sie ein Leben lebte, das sie für ihres hielt. Eine Stimme hörte, die wie ihre eigene klang. Sich Geschichten erzählte, die von Leichtigkeit und vom Glück handelten. Davon, daß die Dinge in Ordnung waren, weil sie sich sagte, daß sie in Ordnung waren. Daß sie nicht ihr Körper sei, während ihr Körper nicht aufhörte, nach ihr zu brüllen. Weil sie in einer Welt lebte, in der es Engel gab die sie beschützten. Schutzgeister, zu denen sie betete. Affirmationen, die sie sich hundertfach am Tag vorsagte. Einen liebenden Gott, an den sie Verantwortung für sich abgeben konnte. Das ganze Zeug. Während <i style="mso-bidi-font-style: normal;">es</i> da genau vor ihr war, sie packte und beinahe zerbrach. Und sie immer schneller war als <i style="mso-bidi-font-style: normal;">es</i>.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ich kann nicht sagen, worauf sich das stützt, was ich hier sage. Jedenfalls traf sie eine Entscheidung: sie ging weg. Sie tat dies mehrmals. Zuletzt am 20. Juni 2008, einem Freitag. An diesem Tag entschied sie, daß sie mich nicht mehr liebte. Daß zwischen ihr und mir keine Liebe mehr bestand. Übrigens ein herrlicher Sommertag. Ich trug Shorts, was mir heute unpassend vorkommt. Niemand sollte Shorts tragen, wenn er gerade getrennt wird. Der Körper sollte verhüllt sein. Das Gesicht maskiert. Das Herz gesichert, während es gebrochen wird. Man sollte ein dickes Buch vor sich auf dem Tisch liegen haben, um den Anderen damit aus der Wohnung zu prügeln. Vielleicht die Gesammelten Werke von Cioran: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Nichts vermag unser Leben zu verändern, es sei denn das zunehmende Eindringen von Kräften, die es aufheben.</i></span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Als sie an jenem Freitag das letzte Mal ging, gab es einen Moment, wo ich sie töten wollte. Wegen dem, was sie sagte und dem, was schmerzhaft fehlte in dem, was sie sagte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich von dem Gefühl, sie töten zu wollen, überwältigt. Auch später noch, nachdem sie fort war, sobald ich an sie dachte, wenn der Schmerz stark genug war, glaubte ich, ich hätte sie unbedingt töten sollen. Auch wegen dem, was sie gesagt hatte. Wegen dieser Ungeheuerlichkeit, über die nicht sprechen will. Zwei Jahre lang ertrug ich den Gedanken nicht, ohne sie weiterzuleben. Allerdings ertrug ich den Gedanken, ich hätte sie töten sollen, ebensowenig. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ich verstehe heute, daß es da etwas in ihrem Leben gab, das sie nicht sehen konnte, weil es ihr wegen eines inneren Verbotes nicht freistand, es zu sehen. Und was sie doch ständig sah, wenn sie mich anblickte. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Das, was nicht sein durfte.</i> </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ich habe sie danach nie wiedergesehen. Wir haben ein halbes Jahr später noch einmal miteinander telefoniert. Davor hatten wir uns einige Emails geschrieben. Der Grund waren Fristen in einer juristischen Angelegenheit, in der ich ihr seit dem Jahr 2004 aushalf. Ich war es, der sie anrief, den Kontakt wiederherstellte. Aus heutiger Sicht meinerseits ein Akt der Anständigkeit. Der Notwendigkeit geschuldet, ein Strafverfahren gegen sie zu verhindern. Jedenfalls etwas ohne Hintergedanken. Ich hatte nach dem Gespräch am Telefon durchaus den Eindruck, daß der Kontakt zwischen uns wiederbelebt werden könnte. Wir kannten uns seit zehn Jahren, waren lange befreundet gewesen und einige Jahre lang ein Paar. Auf meine Frage, wie sie das Gespräch erlebt habe, kamen solche Worte wie <i style="mso-bidi-font-style: normal;">gut</i> und <i style="mso-bidi-font-style: normal;">positiv</i>. An einem der nächsten Tag erhielt ich eine Email von ihr. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir schrieb. Nur, daß sie sich nach unserem Telefonat schlecht gefühlt hatte. Daß sie sich mir nicht gewachsen fühlte und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Im darauffolgenden Sommer, nachdem ich die juristische Angelegenheit in ihrem Sinne abgewickelt hatte, bat ich meine Freundin Tine, ihr ihre Briefe und Fotografien zurückzuschicken. Ich ließ ihr ausrichten, daß ich keine weitere Verbindung wünschte.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Letztendlich hat sie das, worin wir übereingekommen waren, unsere gemeinsamen Glaubenssätze und Regeln, all das, was wir durch Ausprobieren in guten und schlechten Tagen für uns als richtig und wahr erkannt hatten, unsere gemeinsame moralische Geschichte, wenn man so will, ausgerenkt wie ein Schläger einen Arm oder ein Bein ausrenkt. Sie hat den Vertrag, den wir für unser Leben beschlossen hatten, vor meinen Augen zerfetzt, weil sich, wie sie sagte, ihr Gefühl geändert hätte. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Was ich hier sage, muß angezweifelt werden. Denn ich weiß nicht, ob es wirklich unsere gemeinsamen Glaubenssätze und Regeln waren, ob es <i style="mso-bidi-font-style: normal;">de facto</i> etwas gab, indem wir übereingekommen waren. Den Vertrag, den sie geschlossen hatte, er hatte vielleicht nur für ihr eigenes Leben gegolten. Womöglich hatte er mit mir und mit meinem Leben gar nichts zu tun. Nur so läßt sich erklären, daß sie sich wenige Wochen bevor sich ihr Gefühl geändert hatte, dahingehend äußerte, daß ich der wichtigste Mensch in ihrem Leben sei und sie unbedingt mit mir befreundet bleiben wollte. Übrigens etwas, das sie drei Tage, bevor sie sich trennte, als wir telefonierten, wiederholte. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Tatsache war wohl, daß sich ihr Gefühl schon lange vorher geändert hatte. Daß sie mir schon lange etwas vormachte. Wobei es ihr gegenüber nicht konziliant ist, sondern nur konsequent, wenn ich sage, daß sie sich selbst etwas vormachte. Mag sein, sie wollte mich nicht verlieren, oder mir nicht wehtun. Wenn ich gute Tage habe, glaube ich, daß es so war, auch wenn ich ihre Motive nicht durchschaue. An den anderen Tagen bevorzuge ich die eher schlichte Erklärung meiner guten Freundin Dodo, die meint: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">daß manche Leute eben einfach Scheiße sind</i>. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; tab-stops: 383.55pt; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ich dachte einmal, sie würde mein Leben retten. Wie jemand, der plötzlich im Leben auftaucht und der eine Laterne trägt und die bestehende Dunkelheit ausleuchtet. Das auftauchende Licht bedeutete, daß jemand von Außen kam. Daß es also ein Außen gab, ein Außerhalb der Höhle. Da brachte jemand Licht. Das konnte nur der Retter sein. Der Junge liebte seinen Retter. Das war nur natürlich. Ein kleiner Junge denkt so. Vor allem, wenn er in einer Höhle sitzt und nichts vom Licht weiß oder von einem Außen. Ich fühlte mich mit ihr verbunden. Ich zeigte ihr ein paar Dinge, die ich gut konnte. Die ich besser konnte als sie, weil ich deutlich älter war als sie und länger überlebt hatte. Weil ich Bücher schrieb und deshalb die Wahrheit erfinden konnte. Weil ich mich als den Menschen betrachtete, den Georges Bataille als eine Fliege hinter einer Scheibe beschrieb, und die Zeit, die er damit zubringt, gegen die Scheibe anzurennen, die menschlichste, weil aufständischste ist.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Manchmal sieht man die Dinge erst, nachdem sich das Licht geändert hat. So kann ich erst jetzt sehen, daß auch sie in einer Höhle lebte. Daß sie nur zufällig mit ihrer Laterne bei mir vorbeigekommen war. Auf der Suche nach Licht. Dann war ich mit ihr in ihre Höhle gegangen. Es war hell dort. Wegen der Laterne, die sie hatte. Aber es war nur eine weitere Höhle. Irgendwann wußte ich es wohl. So wie man etwas weiß, ohne es zu wissen. Ich spürte, daß wir gemeinsam ein Licht finden mußten, das nicht von einer Laterne stammte. Aber sie wußte es noch nicht. Sie hielt das Licht ihrer Laterne für <i style="mso-bidi-font-style: normal;">das</i> Licht. Sie richtete ihre Höhle immer wieder neu ein. Sagte, daß sie frei sein, sich frei fühlen wollte. Allerdings ohne sich innerlich zu verpflichten, ihre eigene Geschichte zu erkennen und zu erhellen. Ich redete oft auf sie ein. Es kam zu Verstimmungen, Streitereien, den gewöhnlichen Machtspielen, mit ihren primitiven Versöhnungen. Mehrmals betrachtete sie ihre Laterne und weinte. Danach war sie jedesmal entschlossen, es anders zu machen, besser, richtig. Mir weiter zu vertrauen. Einen Psychologen aufzusuchen. Etwa um herauszufinden, weshalb sie nicht sagte, daß wir uns geliebt oder daß wir zusammen geschlafen hatten, sondern: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">als du dich in mir befriedigt hast</i>. Nicht so eine Frau zu werden wie ihre Mutter, die mit einer ähnlichen Laterne in einer der Nachbarhöhlen lebte. Aber dann wollte sie doch nicht von dort weg. Zumindest nicht mit mir. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Als sie von mir fortging, hat sie ihre Höhle schließlich verlassen. Das war unvermeidlich. Sie hat mich dort zurückgelassen. Man kann es vielleicht so sagen: sie kam mit einer Laterne vorbei, die ich für <i style="mso-bidi-font-style: normal;">das</i> Licht hielt. Sie lockte mich in ihre Höhle, ohne zu wissen, was sie tat. Ohne die Folgen abzusehen. Sie stellte fest, daß es sich gut anfühlte, nicht mehr allein zu sein. Ihre Höhle mit mir einzurichten. Da ich in meiner Höhle lange allein gewesen war, fand ich ihre Gesellschaft angenehm. Ich gab mich ihr hin. Ich begann, nach und nach, meine innere Höhlenexistenz abzustreifen und menschlicher zu werden. Begann, mich wohl zu fühlen. Begann, sie zu lieben. Vielleicht deshalb, weil ich mich wohlfühlte. Weil ich ein kleiner Junge war, der sich nicht mehr schutzlos wähnte. Als läge er mit einem Mädchen vor einem Kaminfeuer, während draußen der eisige Nordwind den Schnee gegen die Fenster peitschte. Doch da war immer noch das Licht ihrer Laterne, das nicht <i style="mso-bidi-font-style: normal;">das</i> Licht war. Und ihre Höhle, die nicht das Außen war. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Wenn ich sie ansah, sah ich immer zuerst das Kind, über das sie nicht hinwegkam. Ich sah, was mit diesem Kind los war und was man ihm angetan hatte. Im Gegensatz zu ihr, die <i style="mso-bidi-font-style: normal;">nicht wissen durfte</i>, wußte ich immer alles. Wie es gelitten hatte und was es durchmachen mußte und daß es ganz allein war, als es um sein Leben kämpfte. Auch deshalb bin ich geblieben. Dieses Kind war so besonders, daß man nur bleiben konnte. Man mußte es einfach beschützen, ihm beistehen und es lieben. So sehr war es verwundet. Die meisten dieser Wunden kannte ich von mir. Von meiner <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Arbeit</i> an ihnen. Ich hatte sie bewußt <i style="mso-bidi-font-style: normal;">wiedererlebt</i>. Doch längst nicht alle habe ich aufgelöst. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Die Erfahrung der Liebe für den kleinen Jungen in mir ist fragmentarisch. Ich würde ihn gerne so zu lieben vermögen, wie ich das Kind in ihr geliebt habe. Jenes unfaßlich schöne Kind, über das ich eine Geschichte schrieb und ihr den Titel: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Das fliegende Kind</i> gab. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Vielleicht ist sie in ihre Höhle zurückgekehrt. Ich jedenfalls bin nicht mehr dort. Ich bin nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Ich bin auch nicht in meine alte Höhle zurückgekrochen. Obwohl ich eingestehe, daß ich verzweifelt nach ihr gesucht habe. Nach diesem Platz, den ich kannte. Aber ich bin auch nicht an dem Ort, wo <i style="mso-bidi-font-style: normal;">das</i> Licht ist. Momentan bin ich ohne ein Zuhause. Und es gibt niemanden mit einer Laterne. Doch der Winter ist vorüber. Obwohl ich <i style="mso-bidi-font-style: normal;">das</i> Licht nie gesehen habe, weiß ich nun, daß es nicht das Licht einer Laterne ist. Und ich weiß von den anderen Höhlen. Von den Anderen darin. Ich habe ein anderes Bewußtsein meiner Stärken und Einschränkungen. So ist mir drastisch klar geworden, daß ich mich, genau wegen dieser Stärken und Einschränkungen, in sehr große Gefahr begebe, sobald ich eine Liebesbeziehung eingehe. Ich denke, daß es vielen Menschen, die als Kind mißbraucht und mißhandelt wurden, ähnlich geht. Man darf sich hier keiner Täuschung hingeben: dieser äußerste Schmerz von damals wird von der Zeit nicht verändert. Wir können leicht wieder Opfer werden. Selbst wenn wir <i style="mso-bidi-font-style: normal;">nur</i> Opfer einer Trennung werden, die wir überleben müssen. Jedes Mal, wenn wir lieben, gelangen wir dorthin. Zu lieben, das ist für uns eine Sache auf Leben und Tod. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">In einer früheren Fassung dieses Textes schrieb ich an dieser Stelle, daß ich ihr verziehen hätte. Das war eine törichte Behauptung. Sie ließe sich nur aufrechterhalten, wenn ich meine Wut und meine Empörung unterdrückte. Ich habe ihr nicht verziehen, daß sie unsere Beziehung nicht geschützt hat. Ihre Unaufrichtigkeit und den Vertrauensmißbrauch. Ihre scheußliche Maskerade, hinter der sich ohne mein Wissen eine völlig andere, eine geheime Geschichte abspielte. Davon abgesehen, daß ich mich nicht entscheiden könnte, ob ich <i style="mso-bidi-font-style: normal;">ihr</i> verzeihen soll oder ihr <i style="mso-bidi-font-style: normal;">die Sachen</i>, um die es hier geht, steht der Widerstand, ihr verzeihen zu wollen, an erster Stelle. Ich weigere mich, ihr zu verzeihen. Überhaupt weigere ich mich, mich mit der Idee des Verzeihens zu arrangieren. Verzeihen ist etwas, das mir schon als Kind nicht guttat. Damals tat ich es, weil man es von mir erwartete. Um nicht die Illusion der Liebe zu verlieren. Noch einmal zu versuchen, etwas Unverzeihliches zu verzeihen. Diese Anstrengung wäre zuviel für mich.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Ich sehe uns beide zwei Jahre zuvor auf einer Brücke stehen. Es ist Nacht. Der Fluß unter uns schimmert im Mondlicht. Ich zerreiße die Aufzeichnungen, die ich während einer Trennung von ihr geschrieben habe. Ich führe mir ihre guten Seiten vor Augen. Ich gebe uns eine weitere Chance. Sie sieht mich ernst an. <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ich weiß, wie sehr ich dich verletzt habe. Es wird nicht wieder passieren. Wir werden vielleicht nicht immer ein Paar sein. Aber wir werden Freunde bleiben, egal was kommt. Ich verspreche dir, daß ich dich nicht noch einmal verlassen werde. Ich habe mich weiterentwickelt</i>. Auf dieser Brücke glaube ich ihr. Ich glaube ihr, daß sie ihr Versprechen nicht bricht, wenn es ihr unbequem würde. Ich glaubte ihr, obwohl sie es bereits mehr als einmal getan hatte. Ich war gefesselt von ihrem Geschwätz. Von meinem Wunsch, ihr vertrauen zu wollen. Ich war komplett verrückt. Wie damals bei meinem Vater, als er zu mir sagte, daß er mich in Ruhe lassen würde. Alles sprach dagegen. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Daß sie mich verlassen hat, ist letztendlich unerheblich. Sie war nicht mein Leben, auch wenn sie es zum Einsturz brachte. Ich habe ihr alles gegeben, und sie hat alles genommen. Danach ist sie gegangen. Es ist so schrecklich banal, wenn ich das hier in zwei Sätzen sage. Aber es ist die Wahrheit. Das, was bleibt. Es ist so, wie ich es vor Jahren im <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Hagakure</i> gelesen habe: <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Was wirklich zählt, ist das Ende der Dinge.</i> </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Meine Verzweiflung über die stattgefundene Zerstückelung ist grell, periodisch und schwerverständlich. Sogar für mich selbst. Ich durchschaue nicht wirklich, was gerade mit mir geschieht. Eine Art Entäußerung. Aber authentisch. Ich fühle mich um Jahre gealtert. Als würde mein Dasein mich kränken. Es gibt keine Lösung für diese Erniedrigung, keine andere Vernunft als meine eigene, die ich noch akzeptieren muß. Der Bruch, der entstanden ist, läßt keine Übereinkunft, keine beherzte Versöhnung mehr zu. Wobei mir durchaus klar ist, daß wir ohne einander von keinerlei Bedeutung sind. Dennoch ist jede Komplizenschaft mit ihr ausgeschlossen. Das ist niemals einfach, weil es ein bestimmtes Denken von mir erfordert. Eine <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Strenge</i> im Denken, die sich jeder Versuchung widersetzt. Das bedeutet auch, daß ich der Versuchung des Hasses und der Verachtung für sie entschlossen gegenübertrete, ohne dabei die durch sie entstandene Verletzung preiszugeben. Diese Verletzung, die durch ihren Vertrauensbruch entstandene Wunde, schmerzt. Sie ist das Schlimmste überhaupt. Auch, weil durch sie eine alte, in der Kindheit entstandene Wunde, die noch nicht richtig verheilt war, neu aufgebrochen ist. Der Wundschmerz nimmt weiter zu, je mehr Zeit vergeht. Und der Schmerz verändert mich. Alle Wege, ihm zu entfliehen, sind versperrt. Ich bin gezwungen, ihm in jedem Moment zu begegnen. Ohne ihm nachzugeben. Ohne auszuweichen. Die Veränderung durch ihn zu akzeptieren.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Mit dem Abstand, den ich heute zu den Dingen einnehme, ist es unwahrscheinlich, daß ich ihr jemals wieder vertrauen werde. Ich will nicht, daß sie mir wieder zu nahe kommt. Daß wir einander noch einmal so vertraut werden, wie wir es waren. Ich achte peinlich darauf, ihr Schweigen nicht zu durchbrechen, die vorhandene, durch sie initiierte Distanz nicht zu vereiteln. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Mit jedem Wort, das ich schreibe, finde ich mich mehr damit ab, daß die Dinge so sind, wie sie es nun einmal sind. Wort für Wort lösche ich aus, was war. Auch, was ich an ihr liebte. Oder die Idee, daß ich ihr Dankbarkeit schulde. Ich weiß, daß es gut war, daß ich sie nicht getötet habe. Ich weiß, daß ich mein Leben rettete, <i style="mso-bidi-font-style: normal;">weil</i> ich sie liebte. Und daß ich es ein weiteres Mal rettete, indem ich realisierte, daß mich ihr Verhalten beschädigt und mein Leben beeinträchtigt hat. Als ich mir zugestand, sie aus genau diesem Grund nicht mehr zu lieben. Für beides schulde ich <i style="mso-bidi-font-style: normal;">mir</i> Dankbarkeit. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><i style="mso-bidi-font-style: normal;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Weil ich liebte</span></i><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">, weiß ich, daß ich mich weigern muß, die Dinge anders zu sehen, als sie es sind. Ich muß dies nicht weiter begründen. Was stattgefunden hat, war eine unverzeihliche Kränkung, eine <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Roheit</i>, die jede, in der Vergangenheit bestandene Vertrautheit zwischen ihr und mir konterkariert. Die Wiederholung der Erfahrung, daß Liebe verletzt. Gewiß könnte ich nachsichtig den Altersunterschied anführen. In diesem Fall betrug er fünfundzwanzig Jahre. Andererseits ist sich mitfühlend und anständig verhalten nicht unter allen Umständen eine Frage des Alters. Selbst Kinder vermögen dies. Sogar wenn die Umstände ihres Lebens bitter sind und ihre Geschichte schrecklich. Was nahelegt, daß eine Frau von sechsundzwanzig Jahren, die ein Psychologiestudium absolviert hat, hierzu imstande sein könnte. Aber vielleicht täusche ich mich auch, was das angeht. Man hat mir von sogenannten <i style="mso-bidi-font-style: normal;">blinden Flecken</i> berichtet, Teilen des Ichs oder Selbst, die von der jeweiligen Person nicht wahrgenommen werden. Was wohl identisch ist mit dem <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Eisbergmodell</i>, über das ich einmal in einem Psychologischen Lehrbuch las. Wenn wir uns unsere Handlungsmotive als Eisberg vorstellen, können wir nur die Spitze dieses Eisbergs erkennen. Das meiste findet also unter Wasser statt. Wobei ich mich schon die ganze Zeit frage, welche Erklärungen es für fehlende Rücksicht und normale Anständigkeit es wohl gab, bevor die Psychologie hierfür Modelle erfand? Hemingway war übrigens der Ansicht, daß es ausreiche, wenn ein Achtel einer Romanfigur über Wasser zu erkennen sei, um sich Klarheit über den Rest zu verschaffen. Aber wer von uns könnte sich selbst wohl so beschreiben, wie Hemingway eine seiner Romanfiguren. Zumal Hemingway jemand war, der auch unter Wasser sehen konnte.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Wenn ich dorthin schaue, an jenen geheimen Ort in mir, sehe ich, daß das Kind in mir gewachsen ist. Ich meine das emotional. Ich konnte seinen Abstand zu dem Erwachsenen, der ich bin, verringern. Die Begegnung mit ihr hat sicher genauso dazu beigetragen wie mein unbewußter Wunsch, diese Synthese herzustellen. Durch die Trennung wurde hier nichts annulliert. Ich wurde nur, insgesamt, in diesem Prozeß angehalten.</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">Als ob ich etwas in mir Gewicht und Wert gebe, lerne ich allmählich mit dem Schmerz zu denken. Das ist meine Art, Frieden zu schließen. Eine Annäherung an das Leben wiederzufinden. Gewiß wird es neue Einsichten geben. Ausblicke, ein Außen, vielleicht. Die Dinge werden wieder Geschmack bekommen. Ich werde von neuem Freude empfinden. Selbst wenn ich all das erfinden müßte. Bis es soweit ist, beobachte ich das, was mich umgibt. Bewege mich, als wüßte ich nichts. Schreibe. Um nicht zu sterben. Und stelle mir Fragen: Wie fühlen sich ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge, wenn sie sexuell mißbraucht werden? Wie fühlen sich dieses Mädchen und dieser Junge, wenn sie Erwachsene sind? Wenn sie zu lieben versuchen? Mit ihren, in der Kindheit ausgebeuteten Körpern. Mit ihren widersprüchlichen Emotionen. Mit ihrer unauflösbaren Verwirrung. Noch gefangen in der kindlichen Situation. In der Verleugnung der Wahrheit. Mit diesem unstillbaren Verlangen nach Selbstbestimmung und Freiheit. </span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><br />
</div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">10. März – 23. März 2010</span></div><div style="line-height: 14pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"><span style="font-family: Arial; mso-fareast-font-family: 'Arial Unicode MS';">© RW; Stigmata; März 2010</span></div><div style="text-align: justify;"><br />
</div></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; margin: 0cm 0cm 0pt; mso-line-height-rule: exactly; text-align: justify;"></div>Vizekonsulhttp://www.blogger.com/profile/09001814076383810623noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-2801461368045953666.post-22394280803325893482010-10-19T06:31:00.000-07:002010-10-19T06:34:36.923-07:00Tage des Zorns<div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><i><span style="font-size: 10pt;">Ihr, die ihr später lebt. Nahestehende</span></i></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><i><span style="font-size: 10pt;">eines Herzens, das nicht mehr schlägt,</span></i></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><i><span style="font-size: 10pt;">stellt euch vor, stellt es euch vor: das</span></i></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><i><span style="font-size: 10pt;">Kind – (…) Es sagt nichts. Es lebt</span></i></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><i><span style="font-size: 10pt;">fortan im Geheimnis. Es wird nicht</span></i></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><i><span style="font-size: 10pt;">mehr weinen. </span></i></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><span style="font-size: 10pt;">Maurice Blanchot</span></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><span style="font-size: 10pt;">Für die, die gestorben sind.</span><br />
<span style="font-size: 10pt;">Für die, die überlebt haben.</span></div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Als Kind trat ich in ein Leben ein, von dem ich nicht dachte, daß es möglich war. Niemals dachte ich an ein solches Leben. Ein solches Gegen-Leben. Ich hielt es für ausgeschlossen. Der Feind saß jeden Tag mir gegenüber. Entweder in der Küche, auf einem blaßblauen Küchenstuhl. Oder im Eßzimmer, auf der Eckbank. Obwohl ich ebenfalls saß, schwankte ich. Ihm gegenüber schwankte ich. Ich blutete noch ein wenig. Von den Schlägen mit dem schwarzen Gummiknüppel. Auch von den nächtlichen <i>Besuchen</i>, deren Gastgeber ich war. Erweckt. Bebend. Verwirrt. Überwältigt. Einer Not gehorchend, die ich nicht erfaßte. Doch ohne es zu verhindern. Da waren Gefühle. <i>Glücksgefühle</i>. Auch Erregung. Und Angst, glaube ich. Ein Aufbäumen gegen die Last des säuischen Reiters, der an mir haftete. Und, ich wage es kaum auszusprechen: Liebe. <i>Unüberwindbare</i> Liebe, die sich meiner wie ein Virus bemächtigte. Meines Körpers und meines Atems. Meines Herzens und meiner Sprache. Die unentwegte Tötung und Wiederbelebung von Mund zu Mund. Und von Mund zu Schwanz. In einer erlaubten Beziehung. An die ich mich klammerte. Um dem Bedrücker und seinem Begehren zu entkommen, wäre etwas nötig gewesen, das ich nicht hatte. Oder das da war, aber stumm blieb. <i>Ein Wort wäre nötig gewesen. Und dieses Wort hätte sprechen müssen</i>. Der durch dieses fremde und markerschütternde Begehren sonderbar gewordene Kinderkörper hätte sprechen müssen. Bevor dieser Abfall der Liebe auf ewig in ihn eingeschrieben wurde. Als geheime Erinnerungsspuren und deformierte Körperstücke, die ständig plagen, weil sie weder dem Gedächtnis entgehen, noch dem Vergessen entkommen. Der Körper des Kindes hätte sprechen müssen. Fieberhaft und ungestüm. Oder langsam und stockend. Damit diese Abwandlung der Geschichte der Liebe als ihr umgekehrtes Abbild hätte hörbar werden können. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Heute mein erstaunter Blick darauf. Auf mein Überleben. Daß ich so <i>unmöglich-lebendig</i> bin. Vollkommen unverhofft lebendig. Ich überlebte die Liebe. Und die Folgen der Liebe. Wie seltsam das ist. Ich war die Welt, in der es Helden gibt, wie John Berger irgendwo sagt. <i>Ich</i> war also diese Welt. Ich betrachte meinen Körper, der neben mir auf dem Schreibtisch liegt und wie früher ein wenig blutet. Die Grausamkeiten, die er erfahren hat, hatten etwas Vollkommenes. Daß er überlebt hat, ist unvorstellbar. Eine Zumutung. Eine Art Rache, in der nichts Gewaltsames mehr liegt. Nur die Traurigkeit. Die Traurigkeit aller Kinder. Überall auf der Welt. Man weiß es noch nicht. Aber wenn dieser Körper eines Tages stirbt, wird er getrennt von mir sterben. All die Jahre, die wir zusammengelebt haben, werden keine Bedeutung mehr haben. Er wird ganz allein sterben, wie all die Kinderkörper vor ihm gestorben sind. Er wird eine furchtbare Leere hinterlassen. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Seit vierzig Jahren überlebe ich. Oberhalb oder unterhalb des Lebens der Anderen. Die Zeit ist niemals auf meiner Seite. Wo es darum geht, auf gute Weise ins Leben zu gelangen, komme ich immer zu spät. Ein dreibeiniger Hund. Aber einer mit einem unglaublichen Spürsinn. Nichts und niemand konnte ihn zum Verschwinden bringen. Doch wie will man das denken, dieses Vorwärtsstolpern und sich Aufrechthalten auf drei Beinen? Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Wie will man den Rückzug aus engen Beziehungen damit zusammenbringen, daß man sie gleichzeitig verzweifelt sucht? Wo das, was man erlebt hat an Erniedrigung, Tortur, Ohnmacht, Angst und Schuld, den zwingenden Wunsch nach Schutz und Zuwendung zu einem Bedürfnis werden läßt, dem man selbst kaum genügen kann.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich überlebe das Kind, das man drangsaliert und geschunden hat. Ich überlebe, und das muß man wissen, mit Anderen, die ebenfalls das Kind überleben, das sie einmal gewesen sind. Auch sie wurden heimgesucht und bedrängt. Traktiert und gefoltert. Damals, als sie Kinder waren. Es gibt viele von uns, sehr viele. Sehr, sehr viele. Meistens schweigen wir. Wir kennen es nicht anders. Jeder Satz, denn wir sagen, ist potentiell gefährlich. Auch jede Handlung. Jede Art von Ungehorsam wird furchtbar bestraft. Alles, was wir sagen oder tun, kann durchkreuzt werden. Jeder Fehler, jede noch so kleine Verschwommenheit bringen uns in tödliche Gefahr. Doch hier, während ich schreibe, ist mir das egal. Es interessiert mich nicht, wie meine Worte verstanden werden. Ich bin kein Kind mehr. Ich wache über meine Rettung. Alles andere als diese Indifferenz wäre unheilvoll für mich.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich mache mir klar, daß es andere Männer gibt. Männer, die nicht verletzt wurden. Männer, die keine Angst haben, einen Satz zu sagen oder ihn aufzuschreiben. Die nicht das Gefühl haben, ständig auf der Hut sein zu müssen. Oder in einem falschen Leben zu sein. Die keine Angst vor Strafe haben. Keine Schuldgefühle, was ihr eigenes Leben angeht. Die keine depressiven Episoden kennen. Zumindest nicht solche, die so tief in sie hineinragen, daß ihnen der Tod verlockender scheint als alles andere. Männer, die sich nicht jeden Tag überlegen, ob sie ihre Wohnungen verlassen. Die im Umgang nicht derart gehemmt und angstvoll sind, daß es für sie das Schwierigste überhaupt ist, einen Anderen kennenzulernen. Es gibt auch Frauen, für die das so ist. Frauen, die nicht verletzt wurden. Obwohl das kaum vorstellbar ist, wenn man sich die Männer nur lange genug betrachtet. Frauen und Männer also, die sich an den Händen nehmen. Die sich halten. Die genau wissen, daß nur diese gelungene Menschennähe das Leben ausmacht. Daß sie nur gemeinsam <i>heimkommen</i> werden. Und daß sie nur heimkommen, wenn sie sich an den Händen halten. Auch wenn diese Hände feucht werden vor Aufregung und Angst.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich weiß, daß das eben Geschriebene bedeutet, daß es auch Kinder gab, die eine gute Kindheit hatten. Die Eltern hatten, die sie liebevoll umsorgten und auf die sie sich verlassen konnten. Die also wußten, wie es sich anfühlte, mit sie schützenden und sich um sie sorgenden Menschen verbunden zu sein. Eingebunden zu sein in dem lebenserhaltenden Rahmen menschlicher und göttlicher Fürsorge und Schutz. Es verblüfft mich, was ich hier schreibe. <i>Daß</i> ich es schreibe und somit für mich wahr mache: es gab also <i>auch</i> Eltern, die ihre Kinder liebten. Und daß es, wie ich vermute, ebenso für heute gilt. Nicht bloß in den Romanen, in denen ich darüber gelesen habe. Oder in den Filmen, die ich gesehen habe. Meistens amerikanische Romane und Filme aus Hollywood. Solche Romane und Filme, in denen Eltern ihre Kinder liebten Wo sie alles für sie taten, statt ihnen alles mögliche anzutun. Ich hielt das oft für Kitsch, auch wenn ich regelmäßig deswegen heftig weinen mußte. Etwa wenn sich alle an Weihnachten oder Thanksgiving in ihrem Elternhaus trafen. Da, in den Filmen und Büchern. Oder wenn eine Mutter alles versuchte, um ihr krankes Kind zu retten. Oder wenn Vater und Sohn, die jahrelang Streit miteinander hatten, sich versöhnten. <i>So als ob es möglich wäre</i>. Es ist vielleicht nur schwer vorstellbar, daß ich das lediglich aus Filmen und Büchern kannte. Tatsächlich kannte ich lange Zeit keine Kinder, die von ihren Eltern geliebt wurden. Zumindest nicht ohne daß sie von ihnen gleichzeitig mißhandelt oder mißbraucht wurden. Ich kannte nur diese anderen Kinder. Jene Kinder, um die es mir hier geht. Zu denen ich gehöre.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich teile die Empfindungen und Erfahrungen der meisten Menschen nicht. Vielleicht ist es sinnvoll, dies einmal zu erwähnen: meine <i>Unzugänglichkeit</i>, was das angeht. Eine schmerzhafte Empfindlichkeit, die zu einer gewissen Entfremdung geführt hat. Auch zu einem Mangel, Zuneigung zu empfinden. Und wenn ich sie doch einmal empfinde, ist sie mit beunruhigender Beständigkeit verbunden. Einer Treue, die mein Leben in Gefahr bringt, sobald der Andere nichts mehr von mir wissen will. Auch das Einswerden zweier Körper war für mich immer die Ausnahme. Wenn meine Haut nämlich berührt wird, erinnert sie sich augenblicklich daran, wie sie einmal berührt wurde. Früher, als ich ein Kind war. Dieses Wiederfinden des einst Zerstörten ist nur schwer zu ertragen. Es korrespondiert mit meiner Sprache. Denn das, was ich schreibe, beruht auf einer zerstörten Sprache. Es ist eine Sprache, die in der Kindheit zertrümmert wurde. Wie die Aussicht auf ein Berührtwerden, ohne meinen zerschlagen Kinderkörper spüren zu müssen. Es ist eine zersplitterte Sprache. Trotzdem verlasse<i> ich</i> mich auf <i>meine</i> Worte. Darauf, daß in der Stille zwischen ihnen ein <i>Ruhigwerden</i> geschieht und ich am Leben bleibe. Meine Worte sichern mein Überleben. Buchstäblich. Auch an solchen Tagen, an denen ich durchrissen und voller Blut bin. Unbeherrscht. Unbändig. Übersteigert. Wo Worte in mir drängen und nachdrängen. Heftig aus mir hervordrängen. Mit einer Wildheit, daß ich mich mit beiden Händen am Tisch festhalten muß, um von ihnen nicht mitgerissen und fortgetrieben zu werden. Rohe Worte, die noch keine Entsprechung haben. Ungeheuerliche, maßlose Worte, die mich verschlingen oder zu Taten herausfordern könnten. Tyrannische Repräsentationen, die es im Zaum zu halten gilt. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Heute ist es anders. Mit der Schnelligkeit und Gewalt eines Feuersturms greife ich an: tollkühn und unerschrocken, mit tierischer Stimme und furchtbaren Schreien. Ich bin eine Wunde, die nicht mehr heilt. Für mich gelten keine Tabus. Ich bin wie einer dieser Männer, die Kinder jagen: ich überschreite alle Grenzen. Vergesse, daß es überhaupt Grenzen gibt. Auch ich bin zu allem bereit. <i>Es ist die Zeit des großen Mittags, der fruchtbaren Aufhellung</i>, von der Nietzsche spricht. Ich werde alle Wahrheiten, die Sie so liebgewonnen haben und die allein Sie beschützen, ruinieren. Ich werde alles aufs Spiel setzen. Ich werde Ihnen das hier beibringen. Und ich werde dabei vermutlich alles andere als rücksichtvoll sein. Vor allem werde ich mich weigern, weiter von Gemeinschaft zu sprechen, als existierte sie. Ich sträube mich gegen diese Zugehörigkeit. Auch wenn ich eine gewisse Sehnsucht danach nicht verleugnen kann. An manchen Tagen möchte ich der Versuchung nachgeben. Meistens jedoch will ich es nicht mehr. Ich will Sie nicht mehr. Ihre hilfreichen Hände. Ihre ganze Art, wie Sie uns von sich trennen, noch während der Bewegung, mit der sie sich uns scheinbar zuwenden. Es ist wie Jean Genet geschrieben hat<i>, daß das Leben Sie diesseits der Schranke hält, von wo aus Sie glauben, uns gefahrlos und zu Ihrer seelischen Beruhigung eine hilfreiche Hand hinhalten zu können.</i> Das wird so niemals geschehen. Vorher müßten Sie zuerst so werden wie wir.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich sehe, daß die Kinder das Abgetrennteste sind, was man sich vorstellen kann. Überall auf der Welt sind sie das Abgetrennteste, was es gibt. Sehr schnell werden sie zur Last. Vor allem, wenn man sie nicht ruhig halten kann. Wenn sie nicht parieren und zu unserer Prachtentfaltung dienen. Wenn wir unser eigenes beschränktes Sein mit ihnen nicht erweitern können. Wenn sie sich nicht versklaven, schänden, prostituieren oder für die eigene Versorgung im Alter ausbeuten lassen. Dann haben sie sehr bald keine Zukunft mehr. Kinder müssen sich lohnen. Etwa wie Haustiere. Wenn sie sich nicht mehr auszahlen, werfen wir sie weg. Da scheuen wir vor nichts zurück. Wir vernachlässigen und prügeln sie. Wir isolieren sie und lassen sie absichtlich verhungern. Manchmal geben wir sie weg oder setzen sie aus. Ganz zu schweigen von subtileren Methoden, die wir Erziehung nennen und die nichts weiter sind als die Ausformung eines Backenzahns mit einem feinen Bohrer, um ihn für eine Füllung vorzubereiten. Nur daß die Wurzeln, wenn man die Plombe nach dreißig oder mehr Jahren öffnen muß, weil der Schmerz unerträglich geworden ist, bis in die Spitzen hinein verfault sind. Im Nachhinein tun wir manchmal verwundert, wie dieser oder jener Mensch mit seinen Kindern umgegangen ist. Als wüßten wir nicht am eigenen Leib, was wir selbst alles getan haben, um unseren eigenen Schmerz auszuhalten oder ihm zu entkommen. Als würden wir beim genauen Betrachten unserer Kinder nicht allmählich diese verhängnisvolle <i>Familienähnlichkeit </i>feststellen. Wie wir da im Dämmerlicht alle auf diesem verlassenen Schießplatz herumstehen. Entweder als Zielscheiben, oder als jene, die ein geladenes Gewehr in den Händen halten. In dieser unglaublichen Stille, in der wir uns plötzlich gezwungen sehen <i>nachzudenken</i>. Zu erkennen, wie wir die Hände unserer Eltern geleckt haben, weil sie uns einen Knochen hinwarfen, an dem sich noch ein paar Fleischreste befanden. Und wie sehr wir von unseren eigenen Kindern verlangt haben, daß sie es ganz genauso tun, als wir ihnen die selben Knochen hinwarfen. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Wir schänden und traktieren die Kinder. Wir schaffen sie auf die heimischen Märkte. Werfen sie kopfüber in die Großbordelle des Internets. <i>Wir bieten sie an</i>. Und ein paar Hunderttausend oder Millionen von uns, meist Männer, an ihren Computern, die online frei über ihre Vorlieben reden, Erfahrungen austauschen, wählen per Klick zwischen mehr nackten Kindern in pornographischen Posen, als sie jemals in ihrem Leben ohne das Internet sehen könnten. Sie können Wünsche äußern. Und ihre Wünsche werden ihnen erfüllt werden. Denn in der realen Welt Europas, der ehemaligen Ostblockstaaten und Nordamerikas lassen sich immer Kinder finden, um den Markt zu befriedigen. Ich nenne das die <i>Kommerzialisierung der Kinderzimmer</i>. Früher fickte ein Vater sein Kind <i>nur</i>. Heute filmt er mit seiner Digitalkamera, wie er es fickt, und stellt den Film ins Netz. Wobei kein <i>Kunden</i>wunsch dreckig genug ist, um ihn nicht doch zu erfüllen. Selbstverständlich ohne Preisaufschlag. Was nicht für Snuff-Filme gilt. Vor allem nicht für solche, an denen Kinder beteiligt sind. Das ist richtig teuer. Ein Snuff-Film ist übrigens ein Film, in dem ein Kind oder mehrere Kinder zu Tode gefickt oder gefoltert werden. Man bestellt diese Filme. Sie werden extra für einen angefertigt. Ich konnte das zuerst nicht glauben. Bis ich dann vor einigen Jahren einen solchen Film mit eigenen Augen sehen konnte: <i>das Zugrundegehen eines Kindes</i>. Ich erinnere mich an die unglaubliche Geduld und Kälte, die die Folterer an den Tag legten, um das Wirkliche, das <i>Alleszeigen</i> zu realisieren. Um das Traktieren eines Kindes und seinen Tod für den <i>Kunden</i> zu einem einzigartigen Genießen zu machen. Es war ein wahres <i>Aufglühen</i> der Gewalt. Die unzählbaren Schreie. Die <i>Fragmentierung</i> eines Kinderkörpers. Jedes weitere Darübersprechen ist ausgeschlossen. Denn das, worüber ich sprechen müßte, entgeht jeder möglichen Sprache von vornherein. Es ist geschehen und hört nicht auf zu geschehen. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich weiß von Leuten, die beim Anblick blutiger und dampfender Leichenberge oder Kriegsgreuel derart geil werden, daß sie kaum noch zu halten sind. Sie würden sterben, um sich eine Hinrichtung anzuschauen. Diese Leute würden ihr Leben geben, um so einen Film zu sehen. Da sind auch Leute darunter, denen wir vertrauen. Leute, die Geschmack haben, die kultiviert sind. Leute, die sich einen Picasso in ihren Flur gehängt haben. Ein Flur, der so groß ist wie ein Fußballfeld. Leute mit Einfluß. Mächtige Leute. Solche Leute, von denen man sich einfach nicht vorstellen kann, daß sie Gefallen finden an Folterungen oder an Amputationen mit einer Kettensäge. Oder daran, ein Kind zu sodomieren. Es solange zu traktieren, bis es sich sämtlicher Körperinhalte entledigt. Bis es stirbt. Aber man täuscht sich da. Das ist überhaupt das Größte für diese Leute. Die Angst des ausgesuchten Opfers ist geforderte Bedingung. Das perverse Genießen Gottes, <i>des Vaters</i>, dem das Opfer dargebracht wird. Für den das Opfer <i>eingerichtet </i>ist. Und wir sind direkt dabei. Auch wenn wir das nicht direkt <i>konsumieren</i>. Wir sind dabei, weil wir in einer Welt leben, in der Quälen und Qual <i>konsumiert</i> werden. Wir alle <i>haben</i> die Schreie des Folterers, die Haut des Kindes. Wir sind davon vollkommen durchdrungen. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Jedes Jahr, wenn ich mitbekomme, wie die Eliten in diesem Land ihre offiziellen Gedenkorgien für die im Dritten Reich von den deutschen Nazis ermordeten Juden abhalten, kommt mir das große Kotzen. Eine furchteinflößende Bande von Höflingen, die das Gedenken als monströse heuchlerische Sauerei zelebriert und sich zur selben Zeit einen Dreck um die Gegenwart ihrer eigenen Kinder schert. Wenn ich diesem Pack zuhöre, daß wir nicht vergessen dürften, könnte ich vor lauter Wut stundenlang schreien. Es sind übrigens auch diese Leute, die behaupten, daß eine nationale Gedenktafel, ähnlich der <i>Memorial Wall</i> für die Angehörigen der US-Streitkräfte, die im Vietnamkrieg gekämpft haben und gefallen sind, für die mißbrauchten und ermordeten Kinder eine völlig überdrehte Forderung sei. Als hätten wir nicht in einem Krieg gekämpft und wären nicht in diesem Krieg gefallen oder verwundet heimgekehrt. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Wie viele Namen von getöteten Kindern könnten wir wohl in diesem Land in so eine Mauer einmeißeln? Wie viele von den fünfzigtausend Kindern, die weltweit jedes Jahr ermordet werden, gehen auf unser Konto? Wie viele von den 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen, die überall auf der Welt zum Geschlechtsverkehr gezwungen und geschlagen werden, werden bei uns zum Geschlechtsverkehr gezwungen und geschlagen? Wie viele von den anderthalb Millionen Mädchen, die jedes Jahr in die Prostitution gezwungen werden, machen hier und für unsere Männer die Beine breit? Sechs Millionen Kinder, die in Sklaverei vegetieren, wie viele davon bei uns? Jedes dritte bis vierte Kind, sagen die einen. Jedes siebte bis achte Kind, sagen die anderen. Wie auch immer: es sind viele. So viele, daß man ohne weiteres von einem massenhaften Mißbrauch von Kindern auch bei uns sprechen kann.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Ich denke an die Haut eines Kindes, wenn ich nach einer Entsprechung zu der zwei Meter hohen Bronzestatute der <i>Three Soldiers</i> in der Nähe der <i>Memorial Wall</i> in Washington suche, jenen drei Soldaten in ihren typischen Vietnamuniformen. Mir fällt nur die Haut ein. Ich denke sofort daran. An ihre Haut, die die Kinder buchstäblich zu Markte tragen. An die weiche, zarte Haut eines Kindes, das an einem Sommertag am Strand ist und dort spielt. Wie nackt und schutzlos es ist in diesem Krieg. Es hat nicht einmal eine Uniform. Seine Haut <i>ist</i> das <i>Ehrenkleid</i>. Also kämen für eine Bronzestatute am ehesten wohl drei nackte Kinder, die am Strand spielen, in Frage. Man müßte den Sand auf ihrer Haut sehen, die Wassertropfen, die im Licht der Sonne glitzern. Die sagenhafte Schönheit ihres Blicks, wenn sie die Endlosigkeit des Meeres betrachten, den unendlichen Himmel oder den Flug der Möwen.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Während ich dies hier schreibe, entdeckt man gerade den Mißbrauch. Einige Überlebende haben geredet. Andere sind ihnen gefolgt. Ein paar sogenannte Prominente kamen hinzu. Und dann konnte es nicht länger verschwiegen werden. Die ganze Kinderfickerei kommt nun ans Licht. Mißbrauch und Gewalt in den Kirchen, den Heimen, in Internaten, Gesang- und Sportvereinen. Also genau dort, wo sie schon immer stattgefunden haben. Man könnte diese exzessive Gewalt – und zwar im epidemischen Ausmaß – auch in den Familien finden. Doch für diese Wahrheit ist keiner wirklich gewappnet. Also macht man einen großen Bogen. Ist den Kirchen, den Heimen und Internaten, den Gesang- und Sportvereinen insgeheim dankbar, daß sie von dem <i>Desaster</i> in den Familien ablenken.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">In den Medien wird ausführlich über die beiden großen Reformpädagogen des Landes gesprochen: der eine homosexuell, der andere ein Kinderficker. Ihre sexuelle Präferenz bekommt Bedeutung. Denn beide sind oder waren ein Paar. Beiden hatten mit Kindern in pädagogischen Einrichtungen zu tun. Man registriert mit Befremden, daß der Reformer, der jahrelang mit den Kinderficker zusammenlebte, nichts bemerkt haben will. Auch, daß er den Kinderficker deckt. Die mißbrauchten Kinder denunziert und behauptet, sie wären wohl geil gewesen und hätten sich seinem Lebensgefährten aufgedrängt. Und der konnte dann womöglich nicht widerstehen. Jedenfalls sei er selbst nicht involviert, und der Kinderficker liege im Sterben. Man möge ihn doch bitte in Frieden lassen. Was für ein Skandal!</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Betroffen sind ebenfalls Einrichtungen der Katholischen Kirche. Die Bischöfe leugnen, bagatellisieren, ignorieren, vertuschen, beschwichtigen. Sie verheddern sich in Widersprüche. Jammern, was das Zeug hält. Fühlen sich verfolgt. Prangern die angeblich antiklerikale Medienkampagne an. <i>So schlimm wie einst der Kirchenkampf der Nazis</i>. Bezichtigen die Journalisten, sie hätten ein Vaterproblem und würden sich an Mutter Kirche abarbeiten. Bieten großzügig an, für die Opfer zu singen und zu beten. Man möchte auf der Stelle mit einem Bus voll mit Überlebenden quer durchs Land fahren und jedem einzelnen dieser Bischöfe die Fresse polieren. Sogar der Papst fühlt sich verfolgt. Man stelle sich das einmal vor. <i>Er</i> fühlt sich verfolgt. Wünscht sich Aufklärung mit Augenmaß. Es werden Kollateralschäden befürchtet – in der Kirche. Wo doch die Kirche selbst ihr größter Kollateralschaden ist. Denn in ihr werden Kinder zu Opfern gemacht. Was wir uns – und wir wollen uns von diesem Teil unserer Kindheit einfach nicht verabschieden – Gott zu nennen nicht abgewöhnen können, wird in den Kirchen jeden Tag geschändet. Friedrich Nietzsche erklärte 1882 den Tod Gottes: <i>Gott bleibt tot: Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab?</i> Nietzsche wußte vielleicht damals nicht, daß er, als er von Gott sprach, die Kinder meinte. Daß er sich selbst als das Kind sah, das er einst war.<i> Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet</i>. Die Aufklärung, die der Papst sich wünscht, wird mit Nietzsches Frage eingeleitet: <i>Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?</i> Der erste Trost wäre, daß wir die Kirche verbieten. Warum soll das nicht möglich sein? Wir verbieten doch auch Rocker-Clubs und andere kriminelle Vereinigungen. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Die organisierten Pädophilen melden sich mit ihrem Ansinnen nach einem aufgeklärten und humanen Strafrecht zu Wort. Also die sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen nicht mehr unter Strafe zu stellen. Was nichts anderes heißt, als jedes Kind in diesem Land nackt, mit auseinandergerissenen Arschbacken und geöffneter Vagina mitten auf die Straße zu legen. Jedenfalls fordern diese primitiven Vollspasten das Recht, ihre Sexualität mit Kindern zu leben. Fragen ernsthaft, ob solche Sexualität für Kinder schädlich sei. Man muß schon Eier so groß wie Melonen in der Hose haben, um sich zu trauen, diese Frage laut zu stellen. Oder man fühlt sich sicher, daß keine Gruppe wütender Eltern über einen herfällt. Daß man nicht geteert und gefedert und mit schweren Knüppeln aus der Stadt getrieben wird. Gut, erklären wir es also den Pädophilen: Sexualität für Kinder ist nicht schädlich. <i>Solche</i> Sexualität schon. Es ist eine gute Sache, wenn zwei Kinder miteinander ihre Sexualität entdecken. Aber ein fünfzigjähriger Mann, der sich an einer Fünfjährigen oder einem Siebenjährigen zu schaffen macht. Diese Kinder auffordert, seinen Penis zu stimulieren. Daß man überhaupt erklären muß, daß das schädlich ist. Und wie schädlich das ist. Die reine Zerstörung. Das ist hirnverbrannt! </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Einer dieser Pädophilen hat übrigens in einem Buch die Stimulierung eines dreieinhalb Jahre alten Mädchen beschrieben. Zur wissenschaftlichen Dokumentation, wie er erklärte. <i>Um die Dunkelfelder unserer Gesellschaft zu erhellen</i>. Was für eine Sau! Als ob die Dunkelfelder unserer Gesellschaft in der Vagina einer Dreieinhalbjährigen liegen. Und selbst wenn sie dort lägen: ließen sie sich erhellen, indem man die Vagina eines Kindes stimuliert? Und dann noch zu behaupten, daß die Pädophilie etwas anderes sei als Inzest und Kindesmißbrauch. Daß die pädophile Sexualform über ein ungewöhnlich differenziertes Konzept <i>gegenüber dem Konsens</i> verfüge. Sicher würden die Leute, die sich in sogenannten Swinger-Clubs vergnügen oder sich gegenseitig voll pissen und ins Maul kacken lassen, ebenfalls behaupten, daß ihre sexuelle Präferenz über ein ungewöhnlich differenziertes Konzept <i>gegenüber dem Konsens</i> verfüge. Frei nach dem Motto: Jede Liebe ist Liebe. Wobei es an dieser Stelle naheliegend ist zu fragen, ob wir alles verschmerzen müssen, nur weil wir die Rede- und Meinungsfreiheit verteidigen? Über den Schriftsteller Salman Rushdie und seine Verleger hat man wegen weit weniger eine <i>Fatwa</i> verhängt.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Jedenfalls haben die Ereignisse ausgereicht, daß jetzt sogar die Politiker über den Mißbrauch sprechen. Nicht nur in den Babbel-Runden des Fernsehens, wo üblicherweise Halb-Debile mit beiden Händen angestrengt ihren Hohlkopf melken, um irgendeinen halbwegs vernünftig klingenden Satz aus ihrem Mund herauszuquetschen. Nein, man redet im Parlament darüber. Man redet darüber, wie man dort immer über <i>Themen</i> redet. Man gibt eine Rolle. Zieht eine Show ab. Niemand krümmt sich vor Schmerz oder Gram wegen des hunderttausendfachen Leids der Kinder. Da ist keiner, der vom Kummer der Überlebenden umgeworfen wird. In dem Paralleluniversum, in dem diese Leute leben, werden sie von derlei nur an den Rändern erreicht. Hinzu kommt, daß alle besoffen sind von ihrer eigenen Wichtigkeit. Die Regierungschefin tritt auf. Sie sagt etwas zum Mißbrauch. Sie tut dies so, wie sie es immer tut. Sie könnte ebensogut über etwas anderes reden. Etwa über Elektroautos oder die Krise in Griechenland. Eine Sache von wenigen Sätzen. So dahingesagt, daß niemand sie anzweifelt. Oder jeder sie anzweifelt. Ohne daß es jemanden interessiert. Als am Nachmittag die Bundesfamilienministerin spricht, ist das Parlament nahezu leer. Das wichtigste Thema, über das im Parlament jemals gesprochen werden wird. Und außer einigen Figuren in der ersten Reihe, die telefonieren, SMS schreiben oder Akten lesen, ist keiner mehr da. Die Kamera fängt kilometerlang die leeren Sitzreihen ein. Es ist gespenstisch. Gelegentlicher Applaus für die sehr junge, sehr unsicher, beinahe schutzlos wirkende Frau am Rednerpult. Ihre Rede und ihre Bewegungen, die Mimik, alles wirkt wie einstudiert. Ein wenig angestrengt. Man möchte zu ihr gehen, den Arm um sie legen. Sie beschützen. Es ist nicht rational. Eher instinktiv. Man wartet darauf, daß sie die Dinge beim Namen nennt. Daß sie sagt, wie Kinder in den zurückliegenden Jahrhunderten behandelt wurden. Daß die Kinder ausgepeitscht wurden, weil sie mit vier Jahren noch nicht lesen konnten. Daß sie nackt in Kellern eingesperrt wurden. Daß man sie Leichen von anderen Kindern betrachten ließ und ihnen drohte, daß auch ihnen dieses Schicksal zuteil werden würde, wenn sie nicht gehorchten. Daß man ihnen häßliche Puppen schenkte, um sie zu erschrecken. Daß man sie ersäufte, weil sie mißgestaltet waren. Sie ermordete, weil sie im Weg waren. Sie verkaufte. Weggab. Wegwarf. Daß man ihnen Opium und Schnaps gab, um sie ruhig zu halten. Ihnen Klistiere verabreichte, um sie sauber zu kriegen. Sie zwölf Stunden am Tag und länger arbeiten ließ. Daß man sie ihren depressiven Vätern zum Beischlaf ins Bett legte, damit es diesen anschließend besser ging. Daß die Kirche und das, was man Christentum nennt, immer mit dabei waren, wenn es darum ging, den Kindern Schmerz und Leid zuzufügen. Daß sie es <i>ausspricht</i>, was man heute den Kindern antut. In den Kinderzimmern. In den Bordellen. In den Kirchen und Vereinen. Dort, wo gesungen und geturnt wird. In den Schulen, Heimen und Internaten. <i>In den Familien!</i> Daß sie sagt, was Männer den Kindern antun. Den eigenen und den fremden. Daß die Kirche wieder mitmacht. Und daß man überlegen muß, ob es nicht besser wäre, das Christentum zu ächten. Die Kirche auf eine Stufe zu stellen mit anderen Sekten, etwa den Scientologen. Daß sie fragt: <i>Warum töten wir diese Männer nicht?</i> Und: <i>Töten wir diese Männer nicht, weil wir ein Recht haben? Weil wir zivilisiert sind?</i> Daß sie sagt: <i>Wir mögen das Recht haben. Aber wir ficken unsere Kinder. Ist das besonders zivilisiert? </i>Daß sie weiter fragt: <i>Was wollen wir mit solchen Männern? Männer, die nicht begreifen, was sie anrichten. Wollen wir wirklich noch länger mit solchen Männern leben?</i> Damit es ein einziges Mal gesagt wäre. Damit man dann sagen könnte: <i>Nein, das tun wir nicht. Wir töten diese Männer nicht. Wir tun, was nötig ist. Wir streiten uns nicht zehn Jahre lang darüber, wie wir verhindern, daß es Kinderpornographie im Internet gibt. Wir haben das Recht. Wir schützen unsere Kinder. Wir schützen jedes einzelne Kind. Wir handeln. Wir haben den absoluten Willen zu handeln. Mit dem Recht, das wir haben, sorgen wir dafür, daß kein einziges Kind mehr solches Leid erfährt. Daß kein Kind mehr in pornographischen Posen im Internet zu finden ist. Und daß jedem Kinderficker das Gehirn gewaschen wird, wie und mit welchen Mitteln auch immer. Wir werden nicht mehr unsere Freiheit oder die Freiheit im Netz zum Ziel haben, ohne gleichzeitig die Freiheit der Kinder zum Ziel zu haben.</i> Doch sie sagt es nicht. Sie sagt das alles nicht. Sie schreit nicht vor Wut. Sie ist nicht außer sich vor Empörung. Sie ist politisch korrekt. Sie sagt, was man sagt, wenn man politisch korrekt ist. Ihre Worte klingen hohl und ausgeleiert. Ich verstehe nicht, wie ihr das gelingt. Darüber zu sprechen, ohne wirklich etwas dazu zu sagen. Daß nichts, von dem, was sie sagt, im Gedächtnis bleibt. Weil nichts von dem, was sie sagt, weh tut. Weil niemand deswegen aufschreckt. Weil sie nicht <i>improvisiert</i>. Sie <i>erfindet</i> keine neue Sprache. Dies gilt übrigens auch für die Medien. Die Kanalratten des Boulevard, aber auch die Journalisten berichten, reden und schreiben darüber, wie sie über alles und jeden berichten, reden und schreiben. Sie reproduzieren endlos den stereotypen Diskurs. Beten den Konsens an. Selbst da, wo sie nicht übereinstimmen. Da ist kein einziger, der in Taumel gerät. Der bereit wäre, <i>alles</i> in Frage zu stellen. Alles abzufackeln. Mit keiner noch so kleinen Subversion bringt man irgend jemanden in Verlegenheit. Der Schein bleibt in allem gewahrt. Auch am sogenannten <i>Runden Tisch</i>, der eingerichtet wurde. Wo sich neuerdings Politiker des Bundes und der Länder mit Vertretern der Kirchen, der Schulen, der Ärzteschaft und einigen Verbänden treffen, um über Hilfe für die Opfer sexueller Gewalt zu reden. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Was am ärgerlichsten ist, daß alle so tun, als wären sie vom Ausmaß von Gewalt und Mißbrauch gegen Kinder überrascht. Einigen von ihnen kann man dabei zusehen, wie es sie bestürzt, wenn sie sich die Folgen bewußt zu machen versuchen. Was es also bedeutet, Gewalt und Mißbrauch überlebt zu haben. Fassungslos und verwirrt betrachten sie in sicherer Entfernung die Überlebenden. Vielleicht sind diese Leute tatsächlich so uninformiert oder unvorbereitet, was die Signifikanz des Mißbrauchs angeht. Daß sie noch nie ein Buch der kürzlich verstorbenen Alice Miller gelesen haben. Daß ihnen die Forschungen von Piaget, Judith Herman, Onno van der Hart, Ellert Nijenhaus, Kathy Steele, Bessel van der Kolk oder Marsha Linehan gänzlich unbekannt sind. Daß sie noch nie etwas von Lloyd deMause gehört haben. Daß sie sich nicht <i>einfühlen</i> können. Nur wenn dem so ist: weshalb verkaufen sie dann nicht Fleischklopse bei McDonalds oder sitzen bei Herrn Schlecker an der Kasse? Sie werden nicht müde zu versichern, am Runden Tisch mit allen über alles reden zu wollen. Aber nicht <i>mit</i> den Opfern. Die, die überlebt haben, die 1000-fach den Leidensweg Christi gegangen sind, haben an <i>ihrem</i> Tisch nichts verloren. Vielleicht weil ihre Wiederauferstehung allen unangenehm ist? </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">So wie ich das sehe, will niemand, daß das Opfer reden <i>will</i>. Niemand will ertragen, was er da zu hören bekäme. Die ganze dreckige Wahrheit, das ist ihnen allen zuviel. Wer will sich schon so ohnmächtig fühlen? Die eigene Ohnmachtserfahrung. Wer will das aushalten? Wer <i>kann</i> das? Ich meine: außer den Überlebenden, den einstigen Opfern. Die keine andere Wahl haben. Und wenn sie dann alle noch hören müßten, was sie zugelassen haben. Was sie zu verantworten haben. Das würde ihre schönen Lebensgeschichten zertrümmern. Das, worin sie sich so nett eingerichtet haben. Mit einem Mal wäre das verloren. Sie müßten alles neu zusammensetzen. Also machen sie es sich einfach. Sagen sich, daß <i>wir</i> geschändet wurden. Und daß die Schande gefälligst bei <i>uns</i> zu bleiben hat. So bleiben sie zwar auf der Seite der Täter. Aber sie sind wenigstens fein raus. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Machen wir uns nichts vor: es wäre für alle einfacher, wenn wir gestorben wären. Sogar für uns. Daß wir nicht gestorben sind, stellt alle vor ein Problem. Kinder sind meistens lästig. Als Opfer sind sie es doppelt und dreifach. Ihre Not erfordert Aufmerksamkeit, verläßliches Handeln und <i>Hingabe</i>. Vielleicht sogar Liebe. Später, wenn sie erwachsen geworden sind, sind sie lästig, weil sie überlebt haben. Auch nun muß man sich mit ihnen beschäftigen. Und zwar noch nachdrücklicher und <i>tiefer</i>, als dies der Fall gewesen wäre, hätte man diese Aufgabe <i>angenommen</i>, als sie noch Kinder waren. Um einem Kind, das mißbraucht wurde, und später dem überlebenden Erwachsenen gegenüber verläßlich handeln zu können, muß man dem eigenen <i>inneren</i> Kind gegenüber aufmerksam sein. Man muß das aushalten: <i>die eigene Geschichte</i>. Das, was einem angetan wurde. Was man selbst überlebt hat. Den eigenen Schmerz. Mit jemandem zusammensein, der als Kind mißbraucht und mißhandelt wurde, so jemandem überhaupt zu begegnen, ist aufwühlend. Und nicht nur deshalb, weil er wie ein Spiegel wirken könnte. Jemandem zu begegnen, dem man bereits alles angetan hat, das rauht einen auf, innen und außen. Da sitzt jemand, der nicht an dem gestorben ist, was man ihm angetan hat. Der kein Opfer mehr ist. Der überlebt hat. Der durch seine bloße Existenz <i>bezeugt</i>, daß man sich seiner Haut und seines Geschlechts bemächtigt hat. Daß es Menschen gab, die ihn bedenkenlos geplündert, gefoltert und vergewaltigt haben. So jemandem zu begegnen, das ist eine Herausforderung. Mit einem Überlebenden zusammenzutreffen bedeutet, früher oder später mit einem beschädigten Menschen konfrontiert zu werden. Mit seiner unfaßbaren Heftigkeit. Mit seinen Ängsten und Selbstzweifeln. Seinem nur schwer zu ertragenden Mißtrauen. Seiner ganzen, schrecklichen und unvorhersehbaren Wut. Es bedeutet, mit jemandem zusammenzusein, der die Sexualität eines Versehrten hat. Der einem ohne Haut gegenübertritt. Der so nackt ist, daß man sein gepeinigtes Herz vor Aufregung schlagen <i>sehen</i> kann. Der einem buchstäblich unter die Haut geht. Das muß man wollen. Und weil man das nicht will, sitzt auch niemand von uns mit an diesem Runden Tisch. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Was das ist, das Leben eines mißbrauchten Kindes. Wie soll ich Ihnen das erklären, wo ich nun nicht mit an Ihrem Runden Tisch sitze? Wie soll ich Ihnen <i>beibringen</i>, daß das Leben eines mißbrauchten Kindes ein einziger Augenblick ist, wenn nicht als Wunde? Was einem solchen Kind widerfahren ist, untersteht dem Regime dieses Augenblicks, der das ganze Leben andauert. Es ist das ständig unmittelbar Bevorstehende. Wir müssen wachsam sein. Denn wir werden verfolgt, weil wir Kinder sind. Überall gibt es Jagdreviere, in denen man hinter uns her ist. Wo man uns aufspürt. Unsere Situation ist ausweglos. Es ist atemberaubend, wie ausweglos. Genaugenommen befinden wir uns in einem Angriffskrieg. Wir sind die, die angegriffen werden. Die Front ist unser Kinderzimmer. Der Ort, an dem wir sicher sein sollten. Und geschützt. Der Gegner kennt jeden unserer Schritte. Alle Ausweich- und Ablenkungsmanöver haben uns nichts gebracht. Jede Finte war vergeblich. Die Brutalität des Gegners hat unseren Widerstand gebrochen. Dort, wo wir einmal frei waren, hat der Gegner nun ein Lager errichtet. Dort hält er uns gefangen. Dort wird er uns vergewaltigen und foltern. Dort wird er uns töten. Auf die eine oder die andere Art. Selbst wo wir unseren Tod überleben, wird nichts mehr sein wie zuvor.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Hier kommt der Moment, an dem ich wechsle. Ich bin mir im Klaren darüber. Ich habe den Puls eines wilden Tiers. Noch genügend Körper, um zu sagen, was zu sagen ist. <i>Wenn meine Kraft versagt, dann gebe ich auf</i>. Antigone, glaube ich. Ich bin nicht böse. Das sollten Sie über mich wissen. Aber ich stehe in der Nähe des Bösen. Stehe ihm nahe. Die Stimmen in meinem Kopf. Ein unsichtbarer Faden, den Sie finden müssen, um das Folgende zu verstehen. Ich werde Sie nicht schonen. Da sind Spuren, die meine sind. Die nicht <i>nur</i> meine sind. Der dunkle Wald. Die Väter, die Stiefväter, die Onkel, die Brüder, die Vettern und Cousins. Die Freunde der Väter und Stiefväter, der Onkel, der Brüder, der Vettern und Cousins. Fremde Männer. Alle sind hinter uns her. Wir sind die Beute. Tausende von uns hat man bereits ermordet. Ganze Hügelketten gefolterter Kinder, mit durchbogen Rücken. Nackte, geschändete Körper, wie Abfallhaufen aneinandergereiht. Einige sind noch nicht tot, leben noch ein wenig. Rühren sich noch unter all den toten Körpern. Es scheint unerheblich. Kaum einer bemerkt es. Und doch finden <i>wir</i> es bedeutsam, daß wir uns von den Leichenkörpern unterscheiden. Wir sind davongekommen. Entblößt. Unbeweglich. Vom Schmerz aufgerieben. Wir liegen in unserer eigenen Kacke. In unserem eigenen Blut. Das getrocknete Sperma der Männer ist noch auf unserer Haut und <i>in uns</i>. Unsere Körper sind bedeckt von der Gier der Männer. Die Schmiere ihrer enthemmten Berührung klebt an uns wie eine zweite Haut. Und darunter, unter unserer Haut, im Inneren unserer auf ewig verworfenen Körper, ist alles voller Scham und Angst. Wir sind angefüllt mit Schweigen. Wir können nicht mehr schreien. Nicht nach allem, was man mit uns gemacht hat. So überleben wir. So ist es, wenn wir überleben. So ist es ab jetzt für uns. So sind wir am Leben. Mit unseren zuckenden, von der Marter durchbohrten Körpern. Körper, die überwältigt wurden. Überwältigt sind und es bleiben. Wir werden uns nie wieder davon erholen. Wir bleiben im Zustand der Erwartung, daß die Männer zurückkehren. Die Männer haben gemacht, daß sich unsere Augen nicht mehr mit Tränen füllen können. Daß wir nicht mehr weinen. Obwohl wir vom Schmerz abgeschabt sind bis auf die Knochen. Die Männer haben uns der Welt abhanden kommen lassen. Lange bevor wir in ihr ankommen konnten. Die Männer haben uns glauben lassen, daß wir nicht für die Welt bestimmt waren. Sie haben uns in dem Glauben bestärkt, daß wir nur als Opfer für die Welt bestimmt waren. Als <i>Fickloch</i>. Die Männer haben uns zu Objekten gemacht, zu toten Gegenständen, um besser in uns hineinstoßen, hineinschlagen und hineintreten zu können. Alles Wasser reicht nicht aus, um uns von dem zu reinigen, was die Männer mit uns gemacht haben. Unsere ausgehöhlten Körper bleiben schwarz von Schuld. Unser Körper, dort, in der Ecke, ein elender, stinkender Körper, der einmal schön war. Zart. So zart. Verführerisch. So verführerisch. Keiner konnte sich zurückhalten. Einen Verbrechen, diesen Körper nicht in Besitz genommen zu haben. Ein so wundervoller Körper. Wie dafür gemacht, ihn zu entweihen. Einmal, früher, vor langer Zeit, da hatten wir jeder einen Namen. Wir hatten einen Körper, ein Leben. Eine <i>Zukunft</i>. Dann, nachdem die Männer bei uns waren, hatten wir nichts mehr. Heute sind wir niemand mehr. Nur gefickte Kinder, deren gefolterte Körper älter geworden sind. Aus diesen ruinierten Körpern heraus, die immer unsere ersten Feinde bleiben, schreien wir. Wir sind Mädchen und Jungen. Wir sind fünf, sieben, elf und dreizehn Jahre alt. Mädchen und Jungen in zu alten Körpern. Körper, die zu wahr sind, zu traurig, zu abstoßend, zu verletzt, zu zerbrochen, zu unansehnlich, zu häßlich, kalt und unfreundlich, um jemals geliebt zu werden.<i> Körperscherben</i>. Es gibt keinen Halt, keine Form des Lebens, die wir noch ausdrücken könnten. Und doch. <i>Wir sind davongekommen!</i> Wir schreien es heraus: wir hatten einen Namen! Einen Körper! Ein Leben! Wir hatten eine Zukunft! Jetzt sind wir nur noch gefickte Kinder, die in alten, schikanierten Körpern stecken. In Körpern, die schon lange nicht mehr berührt wurden. Demoliert und in Auflösung begriffen. Mit psychiatrischen Brandmalen versehen. So stehen wir vor einer der zahllosen Festungsmauern, die Sie gegen solche wie uns errichtet haben. <i>Um besser mit uns reden zu können</i>. Wegen der nötigen Distanz. Um Mitgefühl zu empfinden, ohne sich erweichen zu lassen von diesen sich schrecklich aufbäumenden Körpern. Diesen im Schmerz eingeschlossenen Körpern. Körper, die ein Zeichen tragen. Die sich allem widersetzen, außer der Raserei ihres Schmerzes. Regelrecht überflutet von dem eigenen schrecklichen, faulenden Fleisch, in dem sich Angst und Schmerz so tief eingegraben haben, daß sie nur noch als ein einziger, fortdauernder Schreikrampf existieren. Diese von sich selbst verlassenen Körper, deren Sterben ewig dauert. In denen etwas brüllt, nachdem es niedergeschlagen wurde. Zerschellt an der sonderbaren Liebe der Männer. Eine verheerende Liebe. Wie eine anhaltende Verwüstung. Schlimmer noch als der Tod in einem dunklen Land. Etwas in uns ist nie von dort zurückgekehrt. Dieses dunkle Land hat uns verschlungen. Wir wurden niedergestreckt von den Verheerungen der Liebe. Unsere Sprache klingt, als wären wir unter die Räder eines Fuhrwerks gekommen. Als wäre jemand mit einem Messer auf jedes einzelne unserer Worte losgegangen und hätte es niedergemetzelt. Hätte wie ein Wahnsinniger in sie hineingestochen. Sie unkenntlich gemacht. Wort für Wort. Und jetzt kehren sie zurück. Ich bringe sie zurück. Blutende Worte, die sich über das Blatt Papier wälzen. Wie eine Feuersbrunst. Der Brand durchdringt die Mauern, die Sie errichtet haben, um sich zu schützen. Das Niederprasseln meiner Worte übertönt Ihr scheußliches Gekeife. Was ich mit ihnen ausdrücke, erscheint Ihnen nicht anwendbar. Sie fühlen sich von meinen Worten attackiert. Sie schreien nach Schutz. Sie sagen, daß Sie sich vor mir schützen müssen. Spätestens jetzt sagen Sie es. Daß es nicht angehen kann, daß einer wie ich Sie mit Worten zusammenschlägt. Sich nicht an die Regeln hält. Doch ich kann das nicht. Mich an Ihre Regeln halten. Keiner von uns kann das. Es gelingt uns nicht mehr. Nicht, nachdem wir von Ihnen geopfert wurden, um <i>Ihre</i> Ungeheuer friedlich zu stimmen. Unsere inneren Landschaften gleichen Landschaften nach einem Sturmangriff. Unsere Sinne sind so wach, daß wir die Bewegung des Anderen erahnen, lange bevor dieser sie ausführt. Wir bemerken die Gefahr, noch bevor das Auge uns gegenüber aufblitzt. Wir vertrauen mit letzter Kraft, wie wir mit ganzer Kraft verzweifeln. Längst sehen wir nur noch die Formungen durch die Beschädigung. Den langen Augenblick der vergangenen Qual, die keine Vergangenheit hat. Hämmernde Fausthiebe und Tritte. Papa kommt jede Nacht zu uns. Schwarze Gummiknüppel bringen unsere Haut zum Zerplatzen. Wir liegen noch hier. Zusammengekrümmt. Gebrandmarkt. Entehrt. Verschrien. Zurückgelassen. Besudelt von innen und außen. Immer im Zustand der Befürchtung. Von einem<i> ständig</i> wachen Vorgefühl überflutet. Etwas existiert, das sich erneut an uns heften, das uns besetzen, das sich abermals ausdehnen wird, um uns zu fesseln, unsere Gesichter in die Kissen zu pressen, uns von hinten zu stoßen, in uns hineinzustoßen, uns zu quetschen und zu strangulieren, uns herumzuwerfen, um in unsere Augen zu sehen und sich an unserer Angst zu erbauen. Um abermals alles niederzureißen. Um hinterher auf unsere abgewetzte Nacktheit zu weinen. Abscheuliche Tränen der Reue, die auf unseren wunden, noch ans Bett genagelten Körpern wie Säure brennen. Niemand hat je etwas gesehen und gehört. Dabei kann es nicht unbemerkt geblieben sein, als man unser Inneres nach Außen stülpte wie die Ärmel einer Jacke. Als man jede Stelle unseres Körpers zum Schreien brachte. Als man nacheinander einen Mittelfinger, ein Lineal, eine ungeschälte Banane in unsere Vagina hineinrammte, den Schwanz in unseren Anus stieß. Als unsere Stimme keine Worte mehr formte. Als nur noch Töne aus unseren geschundenen Leibern herausfuhren, die einen hinabrissen in die Hölle, sobald man sie hörte. Unmöglich, daß so etwas unbemerkt bleibt. Es sei denn, man will, daß so etwas unbemerkt bleibt. Alles andere war Ihnen wichtiger. Die wöchentliche Hausordnung. Das Kehren der Straße vor Ihrem Haus. Die Sauberkeit im Inneren Ihres Hauses. Diese frisch gefegte Straße bedeutete Ihnen alles. Alles andere bedeutete Ihnen mehr als unsere Vernichtung. In Ihren Alltagsverrichtungen waren Sie zu Stein geworden. In dem täglichen Gerümpel, den Sie Ihr Leben nennen, hat der Stein über Sie triumphiert. Damit haben Sie alles möglich gemacht. Die Vernichtung unserer Zartheit. Den unendlichen Schrecken. Für eine sauber gekehrte Straße. Für ein geputztes Haus. Ihr Verhalten macht uns überhaupt erst verdächtig. Jederzeit antastbar von Glaubwürdigkeitsgutachten. Von Staatsanwälten und Richtern, die lieber sterben würden als zu glauben, was wir ihnen erzählen. Die sich ums Verrecken nicht vorstellen können und wollen, daß das, was wir erzählen, von Ihnen unbemerkt geblieben ist. Dabei sollen wir es ihnen ausführlich erzählen. Mit unseren eigenen Worten. Die wir nicht mehr haben. Selbst wenn wir unsere eigenen Worte noch hätten. Wie sollten wir das erzählen können? Das von dem Lineal und der Banane in unserer Vagina. Das von dem Schwanz in unserem Anus. Wie sollten wir erzählen, daß wir fotografiert und gefilmt worden? Mit aufgerissener Vagina. Unsere kleine Hand, die einen aufgerichteten Schwanz reibt. Während unsere Lippen und unsere Zunge den Kopf dieses Teils <i>küssen </i>und lecken. Von der Schande unserer Körper. Wie sollten wir davon sprechen können, nachdem alles zerschlagen ist? In Stücke gerissen. Nachdem die Männer über alles triumphiert haben, was wir einmal waren. Nachdem wir die Lust an der Bestialität in unseren eigenen Körpern gespürt haben. Wir stürzen in einem endlosen Fall, ohne auch nur das kleinste Stück von uns retten zu können. Die Beraubung ist vollständig. Wir sind das bevorzugte Geschlecht der Männer. Die Männer ziehen uns ihren Frauen vor. Dies könnte uns mit Stolz erfüllen. Wären wir nicht zurückgekehrt aus diesem Krieg, den wir verloren haben. Und hätte uns dieser Krieg nicht versehrt bis ans Ende unseres Lebens.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Jene, die uns verfolgen und die anderen, die sich unserer Verfolgung nicht entgegenstellen, sie durch Verschweigen und Wegschauen begünstigen, sind der Ansicht, daß man nicht von Verfolgung reden kann. Volks- und Religionsgruppen werden verfolgt. Ganze Völker. Robben und Tiger, Wale und Delphine. Aber doch keine Kinder. <i>Die Welt ist so, wie Sie sie sehen wollen</i>, sagt man mir. <i>Unsere Welt ist eine andere. Besser als Sie sie beschreiben. So furchtbar, wie Sie sagen, sind wir nicht. Die Welt existiert nur durch Ihre Wahrnehmung! </i>Das wird man sich merken müssen. </div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">Die Nacht ist zu ende, ohne daß ich geschlafen hätte. Gefangen in der Müdigkeit, frage ich mich, was noch geht? Wovon ich lebe? Wen oder was ich noch liebe? Ich kann sehen, daß ich vorzeitig kaputtgegangen bin. Es wäre zum Davonlaufen, wenn ich allein kaputtgegangen wäre. Aber das bin ich nicht. Und mir ist ein gewisses Talent verblieben. Daß ich noch etwas vollbringen kann. Sei es auch nur, daß ich <i>Worte mache</i>. Daß ich sie mir <i>aneigne</i>. Dies ist etwas, das mir zuteil wird. Und das ist mit Vorsicht zu behandeln. Das verträgt keine Zugeständnisse. Das ist gewissermaßen eine Gnade. Trotz des Schmerzes, den das Worte machen verursacht. Trotz des Wissens, in welcher Wüste ich spreche. Und wie wenig ein Kinderleben Wert hat für Leute wie Sie. Es ist fünf Minuten vor Sechs und ich schreibe: Sehen Sie nur, da oben am Himmel, die großen gelben Sterne. Das sind Sabrina, Julia, Birte, Susann, Alice, Timo, Daniel, Marie, Helena, Kristina, Danny, Liane, Eric, Nicole, Biggy, Claudie, Anna, Lisa, Patricia, Richard und all die anderen. Wer von ihnen hat wohl am längsten zum Sterben gebraucht? Diese großen gelben Sterne zeigen uns, daß das Humane noch immer nicht mehr ist als eine Zierde der Barbarei. Da können Sie noch so sehr darauf beharren, daß es anders sei. Es wird nichts ändern. Das Nein, das ich für Sie habe, ist ehrlich gemeint. Die Verachtung, die ich empfinde, kommt von Herzen. Sie können sich bedenkenlos darauf verlassen. Sie müssen mit mir rechnen. Meine Revanche ist, daß ich am Leben bleibe.</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;">© RW; aus: <i>Stigmata</i>, Mai 2010</div><div class="MsoNormal" style="line-height: 14pt; text-align: justify;"><br />
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