Dienstag, 19. Oktober 2010

Neu anfangen


Jemand beginnt zu schreiben,
entschlossen vor Verzweiflung.
Maurice Blanchot




Für Aude Masserann – meine erste Leserin





Einmal, vor Jahren, bevor etwas entzweigerissen ist, muß es ein Gefühl in mir gegeben haben, der Welt anzugehören. Zumindest für eine gewisse Zeit ist das gewiß so gewesen. Dieses Gefühl hat es gegeben. Ich täusche mich nicht. Ich selbst wurde davon überrascht, von dieser Selbstverständlichkeit, mit der ich wieder in der Welt war. Es geschah nicht mit einem Mal, sondern nach und nach. Und doch begann es unvermittelt, während einer Zugfahrt, in einem Zweite-Klasse-Wagen. Ich stellte fest, daß ich an Land zurückgehrt war.

Dazu muß ich sagen, daß ich Jahre vorher einen Unfall hatte. Er passierte unvorhergesehen, wie die meisten Unfälle. Ein Psychologe sagte damals zu mir, ich sei wohl auf Grund gelaufen. Ich erinnere mich nicht, was ich darauf erwiderte. Nur an eine gewisse Gehässigkeit oder Schadenfreude bei ihm, die ich nicht verstehen, die ich nicht mit-denken konnte. Ich glaube, ich habe gar nichts darauf erwidert, sondern eher geschwiegen. Ich denke auch nicht, das mir das einleuchte, was er sagte. Ich war nicht auf Grund gelaufen. Vielmehr glaube ich, daß der Grund mich die ganze Zeit beobachtet hat. In den Jahren, den Jahrzehnten, um es genau zu sagen, in denen ich das Überleben nach meiner Kindheit nur im Ausweichen durchgehalten hatte, ließ mich der Grund nicht aus den Augen. Man kann wohl sagen, daß ich von ihm beschattet wurde. Genau genommen war es ein ständiges Herannahen. Und dann hat mich der Grund schließlich ereilt. Zwar sah ich die ganze Zeit das Land vor mir, aber ich konnte es nicht mehr erreichen. Ich war weder ganz an Land, noch ganz im Meer, was für mich gespenstisch und beängstigend war und mich einschüchterte.

Und mit einem Mal, während dieser Zugfahrt, vollzog sich eine andere Bewegung: die einer Entscheidung. Ich entschied mich, an Land zu gehen. Ich ging an Land. Schlagartig fühlte ich mich mir gegenüber nicht mehr fremd. Ich war ein Mann Anfang Vierzig, der im Zug saß und zu seiner Freundin fuhr.

Bei allem, was ich hier noch sagen werde, will ich nicht unerwähnt lassen, daß ich sie wegen dieser Zugfahrt mehr als alles auf der Welt geliebt habe. Im Hinblick auf dieses Ereignis, das nur geschehen konnte, weil ich wegen ihr die Unmöglichkeit auf die Probe stellte.

Jedenfalls gefiel mir plötzlich die Welt, ungeachtet ihres Unberechenbaren, das mir mit jeder Bewegung, mit der ich mich von der Grenze entfernte und auf der anderen Seite ankam, deutlich wurde. Mir gefielen die Helligkeit an den Tagen, das Dunkel der Nacht, die Jahreszeiten, die Musik von Damien Rice, Fine Frenzy, Sophie Zelmani, Eskobar, Ray Lamontagne. Und Snow Patrol… »We’ll do it all/ Everything/ On our own/ We don’t need/ Anything/ Or anyone… If lay here/ If just le here/ Would you lie with me an just forget the world.« Wir haben uns zu diesen Worten geliebt. Waren in der Stadt und haben das Lied laut gesungen und uns dabei umarmt und geküßt. Bis die Leute uns anschauten, als wären wir verrückt geworden. Oder wie sie übermütige Kinder manchmal anschauten: kopfschüttelnd. Bis wir lachen mußten, über die Leute und über uns. Über etwas, das sich gut und richtig anfühlte und das vielleicht Verliebtheit war. Ich kann es nicht mehr sagen. Es gab andere Situationen, in denen sie mit allem auf uns losging, was ihr zur Verfügung stand. In denen sie schroff und zurückweisend war und ich in der Öffentlichkeit nicht meinen Arm um sie legen durfte. Wo sie mich mit den Augen ihrer Mutter ansah und sich schämte, daß die Leute sie mit mir sahen. Wegen ihrer Gefühle, die dann nicht sein durften. Weil sie jung war und ich alt. Wegen dem, was die Nachbarn denken könnten. Wegen ihrer Mutter, die sich niemals ein Gefühl erlaubte. Und ihrer Tochter schon gar nicht.

Mir gefielen die Filme, die ich damals sah: Lovesong für Bobby Long, Billy Elliot, High Art, Betty Blue, Lawn Dogs, Somersault und Winter Pasing. Es war die Zeit, in der ich Pferde stehlen von Per Petterson las und Wo der Fluß die Richtung wechselt von Mark Spragg. Der Schatten des Windes wurde veröffentlicht, das erste Buch von Carlos Ruiz Zafón, und man sah überall Menschen, die es lasen. Ich gehörte zu ihnen. Zuzeiten hatte ich ein kindliches Aussehen.

Es gab so etwas wie einen roten Faden, der mich mit der Welt verband. Einen komfortablen Platz, der nicht der eines Haustiers war. Es gab ein vertrautes Wesen, in diesem Fall jene junge Frau, für die die Dinge so radikal anders waren, daß wir keine gemeinsame Sprache fanden. Ein Ja war für sie kein Ja, ein Nein kein Nein. Sie konnte mich am Morgen herbeisehnen, begehren bis zum Schwindligwerden, und wenn ich am Abend dann bei ihr war, verachten und auf das Heftigste abwehren. Ein Versprechen war für sie etwas, das dem Moment gehörte und das keine Option auf die Zukunft darstellte. Man verspricht halt etwas, aber jeder weiß doch, daß das nichts bedeutet, daß man das nur so sagt, weil es in einem bestimmten Moment eben paßt… Mit ihren Worten bürgte sie für Empathie und Mitgefühl, die sie niemals in dem Maße aufbrachte, wie sie darüber sprach. Ihre Gefühle änderten sich im Viertelstundentakt, aber sie folgte jedem einzelnen mit der Ernsthaftigkeit einer Irren. Zeitweise waren da eine große Angst und Unsicherheit bei ihr zu spüren, die in krassem Gegensatz zu dem standen, was sie sagte. Und ich war mit Blindheit geschlagen, und mit Wünschen. Es gab Schwächen, auf meiner Seite. Diese Schwächen rührten von fehlenden Werkzeugen. Hatten zu tun mit Dingen, die ich nicht wußte. Mit dem Makel des Überlebens. Mit all den Beeinträchtigungen und Hemmnissen, die damit einhergingen. Die Schattenseiten meiner Wünsche sozusagen. Ich vertraute darauf, was sie sagte, mehr als meinen Gefühlen. Ich glaubte ihr. Ich glaubte! Was naheliegend war. Denn ich kannte es nicht anders. Als mißhandeltes und mißbrauchtes Kind glaubst du nie deinen Gefühlen. Du hast nur die Wahl, den Worten zu glauben, oder gar nicht. Du glaubst den Worten, immer wieder. Immer wieder glaubst du. Du glaubst, daß deine Eltern ehrlich sind und wahrhaftig und daß sie dich lieben und daß die Dinge sich zum Besseren wenden. Daß dein Vater nicht wieder zu dir kommt in der Nacht. Daß der schwarze Gummiknüppel nicht abermals deine Haut zum Platzen bringen wird. Daß dein Vater dich liebt. Weil deine Mutter sagt, daß es so ist. Du glaubst das, weil ihre Worte ehrlich und wahrhaftig klingen. Weil ihre Worte ausdrücken, daß sich alles zum Besseren wenden wird. Du glaubst das. Du glaubst und glaubst und glaubst! Auch später noch, wenn du kein Kind mehr bist, aber noch immer zehn, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Du kannst nämlich niemals älter werden, wenn du mißbraucht wurdest. Du glaubst, daß die Frau, die du liebst, so schön ist, wie sie sagt, daß sie es ist. Daß sie schöner ist, als sie es ist. Und daß du es nur noch nicht sehen kannst. Daß sie dich liebt. Daß sie niemals dein Herz brechen wird. Du glaubst, wie der Junge, der du damals warst. Wegen dieser Not, die in dir kein Ende nimmt. Denn wäre diese Not nicht gewesen, hätte ich viel früher gesehen, was ich bereits gesehen hatte.

Als Schriftsteller vertraue ich darauf, daß die Worte, wenn man sie mir sagt oder schreibt, genau das bedeuten, was sie aussagen. Ich werde niemals dein Herz brechen,… Das ist ein Versprechen. Der, dem ich es gebe, verläßt sich darauf, daß es mir ernst damit ist und keine Eintagsfliege. Daß ich mir der Verantwortung bewußt bin, wenn ich es gebe. Und für den Fall, daß ich wegen verschiedener Dinge, die sich in meinem Leben ereignen, dieses niemals aufgeben will, ich den Anderen um Verzeihung bitten muß. Denn falls ich das verpasse oder es mißlingt mir, habe ich sein Herz gebrochen.

Ihr vollständiger Satz lautete übrigens: Ich werde niemals dein Herz brechen, dafür ist es viel zu schön. Als sie es dann doch brach, tat es ihr nicht leid. Das konnte es auch nicht. Als sie Kind war, hatte es nie jemand zu ihr gesagt. Sie kannte es nicht besser. Die schrecklichen Dinge, die ihr zugestoßen waren. Und dann gab es niemanden außer mir, dem das leid tat. Sie kannte es nur von mir. Ich hatte es ihr gesagt. Aber das war nicht genug. Denn sie konnte es nicht annehmen. Sie wußte nicht, wie das geht. Und auch mit meinem schönen Herzen konnte sie nichts anfangen. Sie mußte es zerstören, nachdem sie es erkannte. Aber davor konnte sie etwas Schönes erkennen und sich für eine Weile daran erfreuen. Immerhin.

Es gab, vor ihren Versprechen, ihrem Verrat und ihren Ausreden, dem vorhersehbaren, unvorhersehbaren Riß, dem heute Phantomhaften ihrer Existenz, mit dem ich fertigzuwerden versuche, ihre Liebe, vielleicht. Und wenn schon nicht Liebe, so doch wenigstens eine Art von Zuneigung oder Sympathie, die von Liebe zeugt. Etwas das ganze Leben Zurückgehaltenes, das sie an ihrem Sterbebett irgend jemandem gestehen wird, der gerade da ist. Und das dann Liebe gewesen wäre. Etwas außerhalb ihrer uneingestandenen – und meiner eingestandenen – Bedürftigkeit und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, daß wir für eine gewisse Zeit zusammenblieben.

Ihre unsichere, warme Hand auf meinem Körper, auf meinem Geschlecht. Ihre geschlossenen Augen, die jede meiner Bewegungen beobachtete, wachsam, voller Begehren und Angst, während sie mich machen ließ, während ich ihre Beine auseinanderschob, sie streichelte, in sie eindrang. Und nachdem sich unsere Körper geliebt hatten, konnte sie mich nicht anschauen. Als wäre sie ein Kind, das mich gerne hinausgeschickt hätte. Oder das darauf wartete, daß ich von selbst ging. Weil dies etwas war, daß sie von irgendwoher kannte. Etwas, daß sie sich schon einmal gewünscht hatte. Früher, als sie ein Kind war.

Die Musik, über die ich oben spreche, ich hörte sie in der Zeit mit ihr. Ich hörte sie mit ihr. Die Bücher, wir lasen sie zusammen. Die Filme, wir sahen sie gemeinsam. Das, was es noch gab, neben der Musik, den Filmen und Büchern, das zwischen ihr und mir, der Glanz des Gemeinsamen. Auch wenn es mir heute schwer fällt, daran zu glauben, daß es das gab, dieses Gemeinsame. Daß es etwas anderes war als schwindelerregend. Daß es jemals wahr war. Jedoch nichts, an dem sich eine sichere Orientierung festmachen ließ. Vielmehr die aus der Kindheit stammende, unüberwindbare Verzweiflung, die wir miteinander teilten. Eine Verzweiflung, die uns daran hinderte, eine andere Geschichte zu leben als jene verworrene, die wir miteinander gelebt haben. Als wären wir zu jener Zeit andere gewesen als die, die wir hätten sein können. Als wären bestimmte Worte niemals über unsere Lippen gekommen. Als wären wir noch jene Kinder, mit ihren immer frischen Wunden, die sich damals nicht auf die Schienen gelegt hatten. Damals, als wir noch Opfer einer rohen und kaltblütigen, exklusiven und erschreckenden Brutalität waren. Als wir diese Brutalität noch nicht überlebt hatten, als eine völlig andere Schöpfung. Jene traurige und unnahbare, desolate und verachtete Schöpfung, die durch den Mißbrauchs geschaffen wird.

Diese fremde Schöpfung erscheint einem selbst übrigens nie fremd. Man durchschaut sie lange nicht. Oft durchschaut man sie nie. Auch Andere sehen nicht, was mit einem los ist. Auch nicht, wie sehr alles von dieser Schöpfung durchdrungen und erschüttert ist. So sehr, daß, wenn zwei solche Geschöpfe sich begegnen, sie sich sofort wiedererkennen. Es ist unerklärlich und hängt vielleicht mit den Wunden zusammen, mit ihrer Ähnlichkeit. Durch das, was in der Kindheit geschah des Rechtes beraubt, sich berühren zu lassen, erkennt man im Anderen das Eigenste: die Verletzung. Da ist jemand, der die Gabe hat, einen zu erfassen, mit einem einzigen Blick. Den man lieben und umarmen, mit dem man sein Begehrern entdecken und ausleben kann. Jemand, der einem ähnlich ist.

Auf beinahe unwiderstehliche Weise wird etwas in Gang gesetzt, das nur in einer Tragödie enden kann, weil jeder im Anderen etwas wiederfinden will, statt ihn zu finden. Ihn, diesen Anderen, zu entdecken, ihn zu erschließen, als wäre er ein fremder Kontinent. Beide müssen also arbeiten. Weil die Liebe, nach der man sich sehnt, der Kontrast zum Wiederfinden ist. Die Liebe ist also nur über den Preis von Arbeit zu haben. Man muß an den Wunden arbeiten. Beide müssen es. Um diese Liebe leben zu können, um sich frei fühlen zu können, muß man sich frei kämpfen von dem, was man im Anderen wiederfinden will. Man muß sich frei arbeiten, um sich für alle Gefühle frei fühlen zu können. Auch für die negativen, die sich hinter den Wunden und Narben der Kindheit verbergen und die sich oft in den Wünschen ausdrücken. Man muß die Arbeit an diesen Wunden und Narben mindestens so sehr lieben wie den Anderen. Man muß aufhören, sich und dem Anderen Geschichten über sich und seine Liebe zu erzählen, um ihn lieben zu können. Um auf eine Weise lieben zu können, die von den Worten, die über diese Liebe gemacht werden, nicht erfaßt wird. Einer Liebe die sich hinter den Worten, der Sprache verbirgt.

Als sie begriff, daß sie mich gar nicht zu lieben vermochte. Oder daß sie mich liebte, ohne die Voraussetzungen dafür zu erfüllen, nämlich für diese Liebe zu arbeiten. Daß sie wegen jener Ohnmacht, die aus ihrer Kindheit rührte, es nie vermocht hatte, jemanden zu lieben, zu keiner Zeit, weil sie nichts für das, was sie Liebe nannte, zu tun bereit war. Als sie glaubte, daß sie, weil sie ihre schlechten Gefühle ignoriert hatte, sich die guten Gefühle nur eingebildet hatte. Als sie deshalb in sich keinen Beweis dafür fand, daß sie liebte und glaubte, alles erfunden zu haben, für mich und für sich selbst. Als sie entdeckte, wie viele ihrer Worte, die sie mir gesagt hatte über ihre Gefühle für mich und das, was sie dachte über uns, lediglich der Tatsache geschuldet waren, daß sie mich brauchte, um nicht mehr so sehr unter ihrer Kindheit zu leiden. Bis auf einige Zärtlichkeiten im Dunkeln, für die sie nichts konnte, die über sie kamen, aus irgendeinem Schweigen in ihr. Zusammenhanglose Akkorde des Genießens, die keiner von uns fähig war, zu einer Symphonie zusammenzustellen, so unterschiedlich waren die Quellen, aus denen sie sich speisten.

Wie oft fühlte sie sich befriedigt und – zugleich beschämt, daß nur ich es war, der neben ihr lag, und keiner der schönen jungen Männer in ihrem Alter, mit denen sie tanzte und in die sich ständig verliebte. Bei denen sie womöglich das Gefühl hatte, sich dem Verpflichtenden der Nähe besser entziehen zu können. Denn Nähe hatte für sie etwas Bedrohliches. Dieses Bedrohliche korrespondierte mit ihrer Kindheit, es sprach Tag und Nacht. Es berichtete permanent, wie sie als Kind Nähe erfahren hatte: grenzverletzend, beraubend, also in Übergriffen. Sobald ich mich ihr näherte, erinnerte sich ihr Körper, daß er geopfert worden war. Sie konnte Nähe zwar zulassen, sie auch mehr oder weniger intensiv genießen. Aber nur wenn eine Tür in der Nähe war. Und diese Tür mußte geöffnet sein. Jemanden richtig zu lieben, sie wäre daran gestorben. Das muß für sie naheliegend gewesen sein. Denn sie war ja bereits einmal daran gestorben, an diesem Verwirrenden der Nähe. Daran, daß eine Tür verschlossen gewesen war. Das alles blieb undurchschaubar für sie.

Hinzu kam, daß es mir ähnlich erging. Nähe war – und ist – für mich mit Behinderungen und Widerständen, mit Empfindlichkeiten und enormen Hemmungen und Ängsten verbunden. Nur, im Gegensatz zu ihr, arbeitete ich daran. Wovon sie sich zusätzlich bedroht fühlte. Meine wachsende Verbindlichkeit schüchterte sie vollends ein. Ich habe noch im Ohr, wie oft sie sagte, daß sie sich klein fühle. Daß ich mit dem Einfluß, den ich auf sie hätte, Macht ausübte. Das war natürlich bloß dummes Gerede. Mein Einfluß ist keine Macht, die ich jemandem aufzwinge.

Als sie dies also begriff und sich klarmachte, daß sie mit alldem nicht fertigwerden konnte. Daß die Liebe etwas anderes war als die Worte, die sie darüber machte. Daß sie andere Antworten finden mußte, um andere Voraussetzungen für die Liebe zu schaffen. Was bedeutete, andere Fragen zu stellen, sich die eigenen Wunden anzusehen, statt ihnen sofort wieder zu entfliehen, sobald der Schmerz zu stark wurde. Als unleugbar wurde, daß das Bisherige nicht ausreichte, ging sie weg. Als wäre ich nicht mehr für sie als ein Versuch, irgend etwas Provisorisches. Immerhin wartete sie schon lange, wie ich heute weiß. Lag auf der Lauer. Wie ein Jäger im Wald. All diese jungen Männer, die ich bereits erwähnte. Ihre Verliebtheiten. Sie liebte mich womöglich, hoffte aber jeden Augenblick auf einen Anderen. Doch dieser nicht kam nicht. Oder sie konnte sich für keinen von ihnen entscheiden. Weil sie sich an mich gebunden fühlte. Oder weil sie Angst hatte, mich zu verlieren. Weil es ihr gefiel, daß ich sie so über alle Maßen begehrte. Es fiel ihr vermutlich schwer, dem Reiz des Begehrtwerdens zu entkommen. Selbst wenn der, der sie begehrte, nicht der war, von dem sie wünschte, begehrt zu werden. Und den sie dann, mehr oder weniger, gewähren ließ. Jedenfalls war eine Entscheidung notwendig geworden. Vielleicht wäre es richtig gewesen, etwas für ihre Liebe zu tun, von der sie beteuerte, daß sie sie für mich empfand. Den eigenen Schmerz auszuhalten. Stehenzubleiben. Aufzuhören, ihre Beziehung mit mir als etwas Vorläufiges und Behelfsmäßiges zu sehen. Mit ihren Verliebtheiten aufzuhören. Sich verantwortlich fühlen. Aber diese Entscheidung traf sie nicht. Statt dessen entschied sie, mich nicht mehr zu lieben. Eine Entscheidung, die sie vermutlich nicht leichten Herzens traf. Vielleicht mußte sie sie erbrechen. Keinen Freund mehr zu haben, keinen Liebhaber. Niemanden mehr, den sie mitten in der Nacht anrufen konnte, wenn sie traurig war bis in ihr innerstes Herz, um sich eine Geschichte vorlesen zu lassen. Keinen Partner mehr, der ihr in allen Dingen ihres Lebens zur Seite stand. Der bei ihr blieb, ganz gleich, mit was sie ankam oder wie sie sich aufführte. Nur noch aus Sehnsucht, geplatzten Wünschen und Angst zu bestehen. Aufzugeben weiterzugraben, nachzusehen, was da war, so unerträglich, so quälend: ein kleines, zehn Jahre altes Mädchen, daß nie von ihr abfiel, so erwachsen sie auch wurde.

Sie fühlte sich von mir in die Enge getrieben. Allein durch die Unerbittlichkeit, mit der ich auf die eigenen Wunden blickte. Wegen der Entschiedenheit, mit der ich über meinen benutzten und durch den Dreck gezogenen Kinderkörper sprach, den ich wie eine Schubkarre mit zersprengten Fleischresten vor mir hertrieb. Wort für Wort. Die Worte, die ich benutzte, um den Kinderkörper abzuwischen. Um ihn von alldem Schmutz zu reinigen. Um ihn wieder rein zu machen. Ihn heilig zu sprechen. Manchmal setzte ich bestimmte Wörter in mir in Klammern oder sparte sie ganz aus, so sehr fürchtete ich mich vor dem, was diese Wörter auslösen, wohin sie mich führen würden. Und dann schrieb ich sie doch. Als wollte ich die Welt mit ihnen auslöschen. Als wollte ich das ganz und gar Unmögliche erreichen: für mich einen Platz im Leben finden. Ich war hartnäckig. Ich bin es noch, trotz meiner großen Müdigkeit. Der Gedanken, das zurückgelassene Kind könnte doch wie eine Katze sein und sieben Leben haben. Ich will diesen Gedanken nicht vorschnell aufgeben. Ich weiß, ich werde enttäuscht werden. Aber erst, wenn ich enttäuscht wurde, wird es keine Hoffnung mehr geben. Erst dann werde ich ungetröstet sein.

Nein, sie hätte niemals darüber hinwegkommen können. Darüber, daß es geschah, als sie ein Kind war. Und darüber, daß alle geschlafen oder weggesehen haben, als es geschah. Daß man sie dort zurückgelassen hatte, in diesem Käfig voller Rasiermesser. Wie in einem schlecht zusammengeschnittenen Film, wo nichts einen richtigen Sinn ergibt. Doch genau dorthin hätte sie zurückkehren müssen. Zu ihrem reglosen, zurückgelassenen Körper. Zu diesem Maß an Schande, daß man weder rächen, noch vergeben konnte. Dorthin, wo sich ihre Geschichte vollzog. Statt zu ihrer nie endenden Bewegung, mit der sie den Schmerz unterdrückte. Während sie ein Leben lebte, das sie für ihres hielt. Eine Stimme hörte, die wie ihre eigene klang. Sich Geschichten erzählte, die von Leichtigkeit und vom Glück handelten. Davon, daß die Dinge in Ordnung waren, weil sie sich sagte, daß sie in Ordnung waren. Daß sie nicht ihr Körper sei, während ihr Körper nicht aufhörte, nach ihr zu brüllen. Weil sie in einer Welt lebte, in der es Engel gab die sie beschützten. Schutzgeister, zu denen sie betete. Affirmationen, die sie sich hundertfach am Tag vorsagte. Einen liebenden Gott, an den sie Verantwortung für sich abgeben konnte. Das ganze Zeug. Während es da genau vor ihr war, sie packte und beinahe zerbrach. Und sie immer schneller war als es.

Ich kann nicht sagen, worauf sich das stützt, was ich hier sage. Jedenfalls traf sie eine Entscheidung: sie ging weg. Sie tat dies mehrmals. Zuletzt am 20. Juni 2008, einem Freitag. An diesem Tag entschied sie, daß sie mich nicht mehr liebte. Daß zwischen ihr und mir keine Liebe mehr bestand. Übrigens ein herrlicher Sommertag. Ich trug Shorts, was mir heute unpassend vorkommt. Niemand sollte Shorts tragen, wenn er gerade getrennt wird. Der Körper sollte verhüllt sein. Das Gesicht maskiert. Das Herz gesichert, während es gebrochen wird. Man sollte ein dickes Buch vor sich auf dem Tisch liegen haben, um den Anderen damit aus der Wohnung zu prügeln. Vielleicht die Gesammelten Werke von Cioran: Nichts vermag unser Leben zu verändern, es sei denn das zunehmende Eindringen von Kräften, die es aufheben.

Als sie an jenem Freitag das letzte Mal ging, gab es einen Moment, wo ich sie töten wollte. Wegen dem, was sie sagte und dem, was schmerzhaft fehlte in dem, was sie sagte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich von dem Gefühl, sie töten zu wollen, überwältigt. Auch später noch, nachdem sie fort war, sobald ich an sie dachte, wenn der Schmerz stark genug war, glaubte ich, ich hätte sie unbedingt töten sollen. Auch wegen dem, was sie gesagt hatte. Wegen dieser Ungeheuerlichkeit, über die nicht sprechen will. Zwei Jahre lang ertrug ich den Gedanken nicht, ohne sie weiterzuleben. Allerdings ertrug ich den Gedanken, ich hätte sie töten sollen, ebensowenig.

Ich verstehe heute, daß es da etwas in ihrem Leben gab, das sie nicht sehen konnte, weil es ihr wegen eines inneren Verbotes nicht freistand, es zu sehen. Und was sie doch ständig sah, wenn sie mich anblickte. Das, was nicht sein durfte.

Ich habe sie danach nie wiedergesehen. Wir haben ein halbes Jahr später noch einmal miteinander telefoniert. Davor hatten wir uns einige Emails geschrieben. Der Grund waren Fristen in einer juristischen Angelegenheit, in der ich ihr seit dem Jahr 2004 aushalf. Ich war es, der sie anrief, den Kontakt wiederherstellte. Aus heutiger Sicht meinerseits ein Akt der Anständigkeit. Der Notwendigkeit geschuldet, ein Strafverfahren gegen sie zu verhindern. Jedenfalls etwas ohne Hintergedanken. Ich hatte nach dem Gespräch am Telefon durchaus den Eindruck, daß der Kontakt zwischen uns wiederbelebt werden könnte. Wir kannten uns seit zehn Jahren, waren lange befreundet gewesen und einige Jahre lang ein Paar. Auf meine Frage, wie sie das Gespräch erlebt habe, kamen solche Worte wie gut und positiv. An einem der nächsten Tag erhielt ich eine Email von ihr. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir schrieb. Nur, daß sie sich nach unserem Telefonat schlecht gefühlt hatte. Daß sie sich mir nicht gewachsen fühlte und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.

Im darauffolgenden Sommer, nachdem ich die juristische Angelegenheit in ihrem Sinne abgewickelt hatte, bat ich meine Freundin Tine, ihr ihre Briefe und Fotografien zurückzuschicken. Ich ließ ihr ausrichten, daß ich keine weitere Verbindung wünschte.

Letztendlich hat sie das, worin wir übereingekommen waren, unsere gemeinsamen Glaubenssätze und Regeln, all das, was wir durch Ausprobieren in guten und schlechten Tagen für uns als richtig und wahr erkannt hatten, unsere gemeinsame moralische Geschichte, wenn man so will, ausgerenkt wie ein Schläger einen Arm oder ein Bein ausrenkt. Sie hat den Vertrag, den wir für unser Leben beschlossen hatten, vor meinen Augen zerfetzt, weil sich, wie sie sagte, ihr Gefühl geändert hätte.

Was ich hier sage, muß angezweifelt werden. Denn ich weiß nicht, ob es wirklich unsere gemeinsamen Glaubenssätze und Regeln waren, ob es de facto etwas gab, indem wir übereingekommen waren. Den Vertrag, den sie geschlossen hatte, er hatte vielleicht nur für ihr eigenes Leben gegolten. Womöglich hatte er mit mir und mit meinem Leben gar nichts zu tun. Nur so läßt sich erklären, daß sie sich wenige Wochen bevor sich ihr Gefühl geändert hatte, dahingehend äußerte, daß ich der wichtigste Mensch in ihrem Leben sei und sie unbedingt mit mir befreundet bleiben wollte. Übrigens etwas, das sie drei Tage, bevor sie sich trennte, als wir telefonierten, wiederholte.

Tatsache war wohl, daß sich ihr Gefühl schon lange vorher geändert hatte. Daß sie mir schon lange etwas vormachte. Wobei es ihr gegenüber nicht konziliant ist, sondern nur konsequent, wenn ich sage, daß sie sich selbst etwas vormachte. Mag sein, sie wollte mich nicht verlieren, oder mir nicht wehtun. Wenn ich gute Tage habe, glaube ich, daß es so war, auch wenn ich ihre Motive nicht durchschaue. An den anderen Tagen bevorzuge ich die eher schlichte Erklärung meiner guten Freundin Dodo, die meint: daß manche Leute eben einfach Scheiße sind.

Ich dachte einmal, sie würde mein Leben retten. Wie jemand, der plötzlich im Leben auftaucht und der eine Laterne trägt und die bestehende Dunkelheit ausleuchtet. Das auftauchende Licht bedeutete, daß jemand von Außen kam. Daß es also ein Außen gab, ein Außerhalb der Höhle. Da brachte jemand Licht. Das konnte nur der Retter sein. Der Junge liebte seinen Retter. Das war nur natürlich. Ein kleiner Junge denkt so. Vor allem, wenn er in einer Höhle sitzt und nichts vom Licht weiß oder von einem Außen. Ich fühlte mich mit ihr verbunden. Ich zeigte ihr ein paar Dinge, die ich gut konnte. Die ich besser konnte als sie, weil ich deutlich älter war als sie und länger überlebt hatte. Weil ich Bücher schrieb und deshalb die Wahrheit erfinden konnte. Weil ich mich als den Menschen betrachtete, den Georges Bataille als eine Fliege hinter einer Scheibe beschrieb, und die Zeit, die er damit zubringt, gegen die Scheibe anzurennen, die menschlichste, weil aufständischste ist.

Manchmal sieht man die Dinge erst, nachdem sich das Licht geändert hat. So kann ich erst jetzt sehen, daß auch sie in einer Höhle lebte. Daß sie nur zufällig mit ihrer Laterne bei mir vorbeigekommen war. Auf der Suche nach Licht. Dann war ich mit ihr in ihre Höhle gegangen. Es war hell dort. Wegen der Laterne, die sie hatte. Aber es war nur eine weitere Höhle. Irgendwann wußte ich es wohl. So wie man etwas weiß, ohne es zu wissen. Ich spürte, daß wir gemeinsam ein Licht finden mußten, das nicht von einer Laterne stammte. Aber sie wußte es noch nicht. Sie hielt das Licht ihrer Laterne für das Licht. Sie richtete ihre Höhle immer wieder neu ein. Sagte, daß sie frei sein, sich frei fühlen wollte. Allerdings ohne sich innerlich zu verpflichten, ihre eigene Geschichte zu erkennen und zu erhellen. Ich redete oft auf sie ein. Es kam zu Verstimmungen, Streitereien, den gewöhnlichen Machtspielen, mit ihren primitiven Versöhnungen. Mehrmals betrachtete sie ihre Laterne und weinte. Danach war sie jedesmal entschlossen, es anders zu machen, besser, richtig. Mir weiter zu vertrauen. Einen Psychologen aufzusuchen. Etwa um herauszufinden, weshalb sie nicht sagte, daß wir uns geliebt oder daß wir zusammen geschlafen hatten, sondern: als du dich in mir befriedigt hast. Nicht so eine Frau zu werden wie ihre Mutter, die mit einer ähnlichen Laterne in einer der Nachbarhöhlen lebte. Aber dann wollte sie doch nicht von dort weg. Zumindest nicht mit mir.

Als sie von mir fortging, hat sie ihre Höhle schließlich verlassen. Das war unvermeidlich. Sie hat mich dort zurückgelassen. Man kann es vielleicht so sagen: sie kam mit einer Laterne vorbei, die ich für das Licht hielt. Sie lockte mich in ihre Höhle, ohne zu wissen, was sie tat. Ohne die Folgen abzusehen. Sie stellte fest, daß es sich gut anfühlte, nicht mehr allein zu sein. Ihre Höhle mit mir einzurichten. Da ich in meiner Höhle lange allein gewesen war, fand ich ihre Gesellschaft angenehm. Ich gab mich ihr hin. Ich begann, nach und nach, meine innere Höhlenexistenz abzustreifen und menschlicher zu werden. Begann, mich wohl zu fühlen. Begann, sie zu lieben. Vielleicht deshalb, weil ich mich wohlfühlte. Weil ich ein kleiner Junge war, der sich nicht mehr schutzlos wähnte. Als läge er mit einem Mädchen vor einem Kaminfeuer, während draußen der eisige Nordwind den Schnee gegen die Fenster peitschte. Doch da war immer noch das Licht ihrer Laterne, das nicht das Licht war. Und ihre Höhle, die nicht das Außen war.

Wenn ich sie ansah, sah ich immer zuerst das Kind, über das sie nicht hinwegkam. Ich sah, was mit diesem Kind los war und was man ihm angetan hatte. Im Gegensatz zu ihr, die nicht wissen durfte, wußte ich immer alles. Wie es gelitten hatte und was es durchmachen mußte und daß es ganz allein war, als es um sein Leben kämpfte. Auch deshalb bin ich geblieben. Dieses Kind war so besonders, daß man nur bleiben konnte. Man mußte es einfach beschützen, ihm beistehen und es lieben. So sehr war es verwundet. Die meisten dieser Wunden kannte ich von mir. Von meiner Arbeit an ihnen. Ich hatte sie bewußt wiedererlebt. Doch längst nicht alle habe ich aufgelöst.

Die Erfahrung der Liebe für den kleinen Jungen in mir ist fragmentarisch. Ich würde ihn gerne so zu lieben vermögen, wie ich das Kind in ihr geliebt habe. Jenes unfaßlich schöne Kind, über das ich eine Geschichte schrieb und ihr den Titel: Das fliegende Kind gab.

Vielleicht ist sie in ihre Höhle zurückgekehrt. Ich jedenfalls bin nicht mehr dort. Ich bin nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Ich bin auch nicht in meine alte Höhle zurückgekrochen. Obwohl ich eingestehe, daß ich verzweifelt nach ihr gesucht habe. Nach diesem Platz, den ich kannte. Aber ich bin auch nicht an dem Ort, wo das Licht ist. Momentan bin ich ohne ein Zuhause. Und es gibt niemanden mit einer Laterne. Doch der Winter ist vorüber. Obwohl ich das Licht nie gesehen habe, weiß ich nun, daß es nicht das Licht einer Laterne ist. Und ich weiß von den anderen Höhlen. Von den Anderen darin. Ich habe ein anderes Bewußtsein meiner Stärken und Einschränkungen. So ist mir drastisch klar geworden, daß ich mich, genau wegen dieser Stärken und Einschränkungen, in sehr große Gefahr begebe, sobald ich eine Liebesbeziehung eingehe. Ich denke, daß es vielen Menschen, die als Kind mißbraucht und mißhandelt wurden, ähnlich geht. Man darf sich hier keiner Täuschung hingeben: dieser äußerste Schmerz von damals wird von der Zeit nicht verändert. Wir können leicht wieder Opfer werden. Selbst wenn wir nur Opfer einer Trennung werden, die wir überleben müssen. Jedes Mal, wenn wir lieben, gelangen wir dorthin. Zu lieben, das ist für uns eine Sache auf Leben und Tod.

In einer früheren Fassung dieses Textes schrieb ich an dieser Stelle, daß ich ihr verziehen hätte. Das war eine törichte Behauptung. Sie ließe sich nur aufrechterhalten, wenn ich meine Wut und meine Empörung unterdrückte. Ich habe ihr nicht verziehen, daß sie unsere Beziehung nicht geschützt hat. Ihre Unaufrichtigkeit und den Vertrauensmißbrauch. Ihre scheußliche Maskerade, hinter der sich ohne mein Wissen eine völlig andere, eine geheime Geschichte abspielte. Davon abgesehen, daß ich mich nicht entscheiden könnte, ob ich ihr verzeihen soll oder ihr die Sachen, um die es hier geht, steht der Widerstand, ihr verzeihen zu wollen, an erster Stelle. Ich weigere mich, ihr zu verzeihen. Überhaupt weigere ich mich, mich mit der Idee des Verzeihens zu arrangieren. Verzeihen ist etwas, das mir schon als Kind nicht guttat. Damals tat ich es, weil man es von mir erwartete. Um nicht die Illusion der Liebe zu verlieren. Noch einmal zu versuchen, etwas Unverzeihliches zu verzeihen. Diese Anstrengung wäre zuviel für mich.

Ich sehe uns beide zwei Jahre zuvor auf einer Brücke stehen. Es ist Nacht. Der Fluß unter uns schimmert im Mondlicht. Ich zerreiße die Aufzeichnungen, die ich während einer Trennung von ihr geschrieben habe. Ich führe mir ihre guten Seiten vor Augen. Ich gebe uns eine weitere Chance. Sie sieht mich ernst an. Ich weiß, wie sehr ich dich verletzt habe. Es wird nicht wieder passieren. Wir werden vielleicht nicht immer ein Paar sein. Aber wir werden Freunde bleiben, egal was kommt. Ich verspreche dir, daß ich dich nicht noch einmal verlassen werde. Ich habe mich weiterentwickelt. Auf dieser Brücke glaube ich ihr. Ich glaube ihr, daß sie ihr Versprechen nicht bricht, wenn es ihr unbequem würde. Ich glaubte ihr, obwohl sie es bereits mehr als einmal getan hatte. Ich war gefesselt von ihrem Geschwätz. Von meinem Wunsch, ihr vertrauen zu wollen. Ich war komplett verrückt. Wie damals bei meinem Vater, als er zu mir sagte, daß er mich in Ruhe lassen würde. Alles sprach dagegen.

Daß sie mich verlassen hat, ist letztendlich unerheblich. Sie war nicht mein Leben, auch wenn sie es zum Einsturz brachte. Ich habe ihr alles gegeben, und sie hat alles genommen. Danach ist sie gegangen. Es ist so schrecklich banal, wenn ich das hier in zwei Sätzen sage. Aber es ist die Wahrheit. Das, was bleibt. Es ist so, wie ich es vor Jahren im Hagakure gelesen habe: Was wirklich zählt, ist das Ende der Dinge.

Meine Verzweiflung über die stattgefundene Zerstückelung ist grell, periodisch und schwerverständlich. Sogar für mich selbst. Ich durchschaue nicht wirklich, was gerade mit mir geschieht. Eine Art Entäußerung. Aber authentisch. Ich fühle mich um Jahre gealtert. Als würde mein Dasein mich kränken. Es gibt keine Lösung für diese Erniedrigung, keine andere Vernunft als meine eigene, die ich noch akzeptieren muß. Der Bruch, der entstanden ist, läßt keine Übereinkunft, keine beherzte Versöhnung mehr zu. Wobei mir durchaus klar ist, daß wir ohne einander von keinerlei Bedeutung sind. Dennoch ist jede Komplizenschaft mit ihr ausgeschlossen. Das ist niemals einfach, weil es ein bestimmtes Denken von mir erfordert. Eine Strenge im Denken, die sich jeder Versuchung widersetzt. Das bedeutet auch, daß ich der Versuchung des Hasses und der Verachtung für sie entschlossen gegenübertrete, ohne dabei die durch sie entstandene Verletzung preiszugeben. Diese Verletzung, die durch ihren Vertrauensbruch entstandene Wunde, schmerzt. Sie ist das Schlimmste überhaupt. Auch, weil durch sie eine alte, in der Kindheit entstandene Wunde, die noch nicht richtig verheilt war, neu aufgebrochen ist. Der Wundschmerz nimmt weiter zu, je mehr Zeit vergeht. Und der Schmerz verändert mich. Alle Wege, ihm zu entfliehen, sind versperrt. Ich bin gezwungen, ihm in jedem Moment zu begegnen. Ohne ihm nachzugeben. Ohne auszuweichen. Die Veränderung durch ihn zu akzeptieren.

Mit dem Abstand, den ich heute zu den Dingen einnehme, ist es unwahrscheinlich, daß ich ihr jemals wieder vertrauen werde. Ich will nicht, daß sie mir wieder zu nahe kommt. Daß wir einander noch einmal so vertraut werden, wie wir es waren. Ich achte peinlich darauf, ihr Schweigen nicht zu durchbrechen, die vorhandene, durch sie initiierte Distanz nicht zu vereiteln.

Mit jedem Wort, das ich schreibe, finde ich mich mehr damit ab, daß die Dinge so sind, wie sie es nun einmal sind. Wort für Wort lösche ich aus, was war. Auch, was ich an ihr liebte. Oder die Idee, daß ich ihr Dankbarkeit schulde. Ich weiß, daß es gut war, daß ich sie nicht getötet habe. Ich weiß, daß ich mein Leben rettete, weil ich sie liebte. Und daß ich es ein weiteres Mal rettete, indem ich realisierte, daß mich ihr Verhalten beschädigt und mein Leben beeinträchtigt hat. Als ich mir zugestand, sie aus genau diesem Grund nicht mehr zu lieben. Für beides schulde ich mir Dankbarkeit.

Weil ich liebte, weiß ich, daß ich mich weigern muß, die Dinge anders zu sehen, als sie es sind. Ich muß dies nicht weiter begründen. Was stattgefunden hat, war eine unverzeihliche Kränkung, eine Roheit, die jede, in der Vergangenheit bestandene Vertrautheit zwischen ihr und mir konterkariert. Die Wiederholung der Erfahrung, daß Liebe verletzt. Gewiß könnte ich nachsichtig den Altersunterschied anführen. In diesem Fall betrug er fünfundzwanzig Jahre. Andererseits ist sich mitfühlend und anständig verhalten nicht unter allen Umständen eine Frage des Alters. Selbst Kinder vermögen dies. Sogar wenn die Umstände ihres Lebens bitter sind und ihre Geschichte schrecklich. Was nahelegt, daß eine Frau von sechsundzwanzig Jahren, die ein Psychologiestudium absolviert hat, hierzu imstande sein könnte. Aber vielleicht täusche ich mich auch, was das angeht. Man hat mir von sogenannten blinden Flecken berichtet, Teilen des Ichs oder Selbst, die von der jeweiligen Person nicht wahrgenommen werden. Was wohl identisch ist mit dem Eisbergmodell, über das ich einmal in einem Psychologischen Lehrbuch las. Wenn wir uns unsere Handlungsmotive als Eisberg vorstellen, können wir nur die Spitze dieses Eisbergs erkennen. Das meiste findet also unter Wasser statt. Wobei ich mich schon die ganze Zeit frage, welche Erklärungen es für fehlende Rücksicht und normale Anständigkeit es wohl gab, bevor die Psychologie hierfür Modelle erfand? Hemingway war übrigens der Ansicht, daß es ausreiche, wenn ein Achtel einer Romanfigur über Wasser zu erkennen sei, um sich Klarheit über den Rest zu verschaffen. Aber wer von uns könnte sich selbst wohl so beschreiben, wie Hemingway eine seiner Romanfiguren. Zumal Hemingway jemand war, der auch unter Wasser sehen konnte.

Wenn ich dorthin schaue, an jenen geheimen Ort in mir, sehe ich, daß das Kind in mir gewachsen ist. Ich meine das emotional. Ich konnte seinen Abstand zu dem Erwachsenen, der ich bin, verringern. Die Begegnung mit ihr hat sicher genauso dazu beigetragen wie mein unbewußter Wunsch, diese Synthese herzustellen. Durch die Trennung wurde hier nichts annulliert. Ich wurde nur, insgesamt, in diesem Prozeß angehalten.

Als ob ich etwas in mir Gewicht und Wert gebe, lerne ich allmählich mit dem Schmerz zu denken. Das ist meine Art, Frieden zu schließen. Eine Annäherung an das Leben wiederzufinden. Gewiß wird es neue Einsichten geben. Ausblicke, ein Außen, vielleicht. Die Dinge werden wieder Geschmack bekommen. Ich werde von neuem Freude empfinden. Selbst wenn ich all das erfinden müßte. Bis es soweit ist, beobachte ich das, was mich umgibt. Bewege mich, als wüßte ich nichts. Schreibe. Um nicht zu sterben. Und stelle mir Fragen: Wie fühlen sich ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge, wenn sie sexuell mißbraucht werden? Wie fühlen sich dieses Mädchen und dieser Junge, wenn sie Erwachsene sind? Wenn sie zu lieben versuchen? Mit ihren, in der Kindheit ausgebeuteten Körpern. Mit ihren widersprüchlichen Emotionen. Mit ihrer unauflösbaren Verwirrung. Noch gefangen in der kindlichen Situation. In der Verleugnung der Wahrheit. Mit diesem unstillbaren Verlangen nach Selbstbestimmung und Freiheit.

10. März – 23. März 2010
© RW; Stigmata; März 2010

Tage des Zorns


Ihr, die ihr später lebt. Nahestehende
eines Herzens, das nicht mehr schlägt,
stellt euch vor, stellt es euch vor: das
Kind – (…) Es sagt nichts. Es lebt
fortan im Geheimnis. Es wird nicht
mehr weinen.
Maurice Blanchot


Für die, die gestorben sind.
Für die, die überlebt haben.






Als Kind trat ich in ein Leben ein, von dem ich nicht dachte, daß es möglich war. Niemals dachte ich an ein solches Leben. Ein solches Gegen-Leben. Ich hielt es für ausgeschlossen. Der Feind saß jeden Tag mir gegenüber. Entweder in der Küche, auf einem blaßblauen Küchenstuhl. Oder im Eßzimmer, auf der Eckbank. Obwohl ich ebenfalls saß, schwankte ich. Ihm gegenüber schwankte ich. Ich blutete noch ein wenig. Von den Schlägen mit dem schwarzen Gummiknüppel. Auch von den nächtlichen Besuchen, deren Gastgeber ich war. Erweckt. Bebend. Verwirrt. Überwältigt. Einer Not gehorchend, die ich nicht erfaßte. Doch ohne es zu verhindern. Da waren Gefühle. Glücksgefühle. Auch Erregung. Und Angst, glaube ich. Ein Aufbäumen gegen die Last des säuischen Reiters, der an mir haftete. Und, ich wage es kaum auszusprechen: Liebe. Unüberwindbare Liebe, die sich meiner wie ein Virus bemächtigte. Meines Körpers und meines Atems. Meines Herzens und meiner Sprache. Die unentwegte Tötung und Wiederbelebung von Mund zu Mund. Und von Mund zu Schwanz. In einer erlaubten Beziehung. An die ich mich klammerte. Um dem Bedrücker und seinem Begehren zu entkommen, wäre etwas nötig gewesen, das ich nicht hatte. Oder das da war, aber stumm blieb. Ein Wort wäre nötig gewesen. Und dieses Wort hätte sprechen müssen. Der durch dieses fremde und markerschütternde Begehren sonderbar gewordene Kinderkörper hätte sprechen müssen. Bevor dieser Abfall der Liebe auf ewig in ihn eingeschrieben wurde. Als geheime Erinnerungsspuren und deformierte Körperstücke, die ständig plagen, weil sie weder dem Gedächtnis entgehen, noch dem Vergessen entkommen. Der Körper des Kindes hätte sprechen müssen. Fieberhaft und ungestüm. Oder langsam und stockend. Damit diese Abwandlung der Geschichte der Liebe als ihr umgekehrtes Abbild hätte hörbar werden können.

Heute mein erstaunter Blick darauf. Auf mein Überleben. Daß ich so unmöglich-lebendig bin. Vollkommen unverhofft lebendig. Ich überlebte die Liebe. Und die Folgen der Liebe. Wie seltsam das ist. Ich war die Welt, in der es Helden gibt, wie John Berger irgendwo sagt. Ich war also diese Welt. Ich betrachte meinen Körper, der neben mir auf dem Schreibtisch liegt und wie früher ein wenig blutet. Die Grausamkeiten, die er erfahren hat, hatten etwas Vollkommenes. Daß er überlebt hat, ist unvorstellbar. Eine Zumutung. Eine Art Rache, in der nichts Gewaltsames mehr liegt. Nur die Traurigkeit. Die Traurigkeit aller Kinder. Überall auf der Welt. Man weiß es noch nicht. Aber wenn dieser Körper eines Tages stirbt, wird er getrennt von mir sterben. All die Jahre, die wir zusammengelebt haben, werden keine Bedeutung mehr haben. Er wird ganz allein sterben, wie all die Kinderkörper vor ihm gestorben sind. Er wird eine furchtbare Leere hinterlassen.

Seit vierzig Jahren überlebe ich. Oberhalb oder unterhalb des Lebens der Anderen. Die Zeit ist niemals auf meiner Seite. Wo es darum geht, auf gute Weise ins Leben zu gelangen, komme ich immer zu spät. Ein dreibeiniger Hund. Aber einer mit einem unglaublichen Spürsinn. Nichts und niemand konnte ihn zum Verschwinden bringen. Doch wie will man das denken, dieses Vorwärtsstolpern und sich Aufrechthalten auf drei Beinen? Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Wie will man den Rückzug aus engen Beziehungen damit zusammenbringen, daß man sie gleichzeitig verzweifelt sucht? Wo das, was man erlebt hat an Erniedrigung, Tortur, Ohnmacht, Angst und Schuld, den zwingenden Wunsch nach Schutz und Zuwendung zu einem Bedürfnis werden läßt, dem man selbst kaum genügen kann.

Ich überlebe das Kind, das man drangsaliert und geschunden hat. Ich überlebe, und das muß man wissen, mit Anderen, die ebenfalls das Kind überleben, das sie einmal gewesen sind. Auch sie wurden heimgesucht und bedrängt. Traktiert und gefoltert. Damals, als sie Kinder waren. Es gibt viele von uns, sehr viele. Sehr, sehr viele. Meistens schweigen wir. Wir kennen es nicht anders. Jeder Satz, denn wir sagen, ist potentiell gefährlich. Auch jede Handlung. Jede Art von Ungehorsam wird furchtbar bestraft. Alles, was wir sagen oder tun, kann durchkreuzt werden. Jeder Fehler, jede noch so kleine Verschwommenheit bringen uns in tödliche Gefahr. Doch hier, während ich schreibe, ist mir das egal. Es interessiert mich nicht, wie meine Worte verstanden werden. Ich bin kein Kind mehr. Ich wache über meine Rettung. Alles andere als diese Indifferenz wäre unheilvoll für mich.

Ich mache mir klar, daß es andere Männer gibt. Männer, die nicht verletzt wurden. Männer, die keine Angst haben, einen Satz zu sagen oder ihn aufzuschreiben. Die nicht das Gefühl haben, ständig auf der Hut sein zu müssen. Oder in einem falschen Leben zu sein. Die keine Angst vor Strafe haben. Keine Schuldgefühle, was ihr eigenes Leben angeht. Die keine depressiven Episoden kennen. Zumindest nicht solche, die so tief in sie hineinragen, daß ihnen der Tod verlockender scheint als alles andere. Männer, die sich nicht jeden Tag überlegen, ob sie ihre Wohnungen verlassen. Die im Umgang nicht derart gehemmt und angstvoll sind, daß es für sie das Schwierigste überhaupt ist, einen Anderen kennenzulernen. Es gibt auch Frauen, für die das so ist. Frauen, die nicht verletzt wurden. Obwohl das kaum vorstellbar ist, wenn man sich die Männer nur lange genug betrachtet. Frauen und Männer also, die sich an den Händen nehmen. Die sich halten. Die genau wissen, daß nur diese gelungene Menschennähe das Leben ausmacht. Daß sie nur gemeinsam heimkommen werden. Und daß sie nur heimkommen, wenn sie sich an den Händen halten. Auch wenn diese Hände feucht werden vor Aufregung und Angst.

Ich weiß, daß das eben Geschriebene bedeutet, daß es auch Kinder gab, die eine gute Kindheit hatten. Die Eltern hatten, die sie liebevoll umsorgten und auf die sie sich verlassen konnten. Die also wußten, wie es sich anfühlte, mit sie schützenden und sich um sie sorgenden Menschen verbunden zu sein. Eingebunden zu sein in dem lebenserhaltenden Rahmen menschlicher und göttlicher Fürsorge und Schutz. Es verblüfft mich, was ich hier schreibe. Daß ich es schreibe und somit für mich wahr mache: es gab also auch Eltern, die ihre Kinder liebten. Und daß es, wie ich vermute, ebenso für heute gilt. Nicht bloß in den Romanen, in denen ich darüber gelesen habe. Oder in den Filmen, die ich gesehen habe. Meistens amerikanische Romane und Filme aus Hollywood. Solche Romane und Filme, in denen Eltern ihre Kinder liebten Wo sie alles für sie taten, statt ihnen alles mögliche anzutun. Ich hielt das oft für Kitsch, auch wenn ich regelmäßig deswegen heftig weinen mußte. Etwa wenn sich alle an Weihnachten oder Thanksgiving in ihrem Elternhaus trafen. Da, in den Filmen und Büchern. Oder wenn eine Mutter alles versuchte, um ihr krankes Kind zu retten. Oder wenn Vater und Sohn, die jahrelang Streit miteinander hatten, sich versöhnten. So als ob es möglich wäre. Es ist vielleicht nur schwer vorstellbar, daß ich das lediglich aus Filmen und Büchern kannte. Tatsächlich kannte ich lange Zeit keine Kinder, die von ihren Eltern geliebt wurden. Zumindest nicht ohne daß sie von ihnen gleichzeitig mißhandelt oder mißbraucht wurden. Ich kannte nur diese anderen Kinder. Jene Kinder, um die es mir hier geht. Zu denen ich gehöre.

Ich teile die Empfindungen und Erfahrungen der meisten Menschen nicht. Vielleicht ist es sinnvoll, dies einmal zu erwähnen: meine Unzugänglichkeit, was das angeht. Eine schmerzhafte Empfindlichkeit, die zu einer gewissen Entfremdung geführt hat. Auch zu einem Mangel, Zuneigung zu empfinden. Und wenn ich sie doch einmal empfinde, ist sie mit beunruhigender Beständigkeit verbunden. Einer Treue, die mein Leben in Gefahr bringt, sobald der Andere nichts mehr von mir wissen will. Auch das Einswerden zweier Körper war für mich immer die Ausnahme. Wenn meine Haut nämlich berührt wird, erinnert sie sich augenblicklich daran, wie sie einmal berührt wurde. Früher, als ich ein Kind war. Dieses Wiederfinden des einst Zerstörten ist nur schwer zu ertragen. Es korrespondiert mit meiner Sprache. Denn das, was ich schreibe, beruht auf einer zerstörten Sprache. Es ist eine Sprache, die in der Kindheit zertrümmert wurde. Wie die Aussicht auf ein Berührtwerden, ohne meinen zerschlagen Kinderkörper spüren zu müssen. Es ist eine zersplitterte Sprache. Trotzdem verlasse ich mich auf meine Worte. Darauf, daß in der Stille zwischen ihnen ein Ruhigwerden geschieht und ich am Leben bleibe. Meine Worte sichern mein Überleben. Buchstäblich. Auch an solchen Tagen, an denen ich durchrissen und voller Blut bin. Unbeherrscht. Unbändig. Übersteigert. Wo Worte in mir drängen und nachdrängen. Heftig aus mir hervordrängen. Mit einer Wildheit, daß ich mich mit beiden Händen am Tisch festhalten muß, um von ihnen nicht mitgerissen und fortgetrieben zu werden. Rohe Worte, die noch keine Entsprechung haben. Ungeheuerliche, maßlose Worte, die mich verschlingen oder zu Taten herausfordern könnten. Tyrannische Repräsentationen, die es im Zaum zu halten gilt.

Heute ist es anders. Mit der Schnelligkeit und Gewalt eines Feuersturms greife ich an: tollkühn und unerschrocken, mit tierischer Stimme und furchtbaren Schreien. Ich bin eine Wunde, die nicht mehr heilt. Für mich gelten keine Tabus. Ich bin wie einer dieser Männer, die Kinder jagen: ich überschreite alle Grenzen. Vergesse, daß es überhaupt Grenzen gibt. Auch ich bin zu allem bereit. Es ist die Zeit des großen Mittags, der fruchtbaren Aufhellung, von der Nietzsche spricht. Ich werde alle Wahrheiten, die Sie so liebgewonnen haben und die allein Sie beschützen, ruinieren. Ich werde alles aufs Spiel setzen. Ich werde Ihnen das hier beibringen. Und ich werde dabei vermutlich alles andere als rücksichtvoll sein. Vor allem werde ich mich weigern, weiter von Gemeinschaft zu sprechen, als existierte sie. Ich sträube mich gegen diese Zugehörigkeit. Auch wenn ich eine gewisse Sehnsucht danach nicht verleugnen kann. An manchen Tagen möchte ich der Versuchung nachgeben. Meistens jedoch will ich es nicht mehr. Ich will Sie nicht mehr. Ihre hilfreichen Hände. Ihre ganze Art, wie Sie uns von sich trennen, noch während der Bewegung, mit der sie sich uns scheinbar zuwenden. Es ist wie Jean Genet geschrieben hat, daß das Leben Sie diesseits der Schranke hält, von wo aus Sie glauben, uns gefahrlos und zu Ihrer seelischen Beruhigung eine hilfreiche Hand hinhalten zu können. Das wird so niemals geschehen. Vorher müßten Sie zuerst so werden wie wir.

Ich sehe, daß die Kinder das Abgetrennteste sind, was man sich vorstellen kann. Überall auf der Welt sind sie das Abgetrennteste, was es gibt. Sehr schnell werden sie zur Last. Vor allem, wenn man sie nicht ruhig halten kann. Wenn sie nicht parieren und zu unserer Prachtentfaltung dienen. Wenn wir unser eigenes beschränktes Sein mit ihnen nicht erweitern können. Wenn sie sich nicht versklaven, schänden, prostituieren oder für die eigene Versorgung im Alter ausbeuten lassen. Dann haben sie sehr bald keine Zukunft mehr. Kinder müssen sich lohnen. Etwa wie Haustiere. Wenn sie sich nicht mehr auszahlen, werfen wir sie weg. Da scheuen wir vor nichts zurück. Wir vernachlässigen und prügeln sie. Wir isolieren sie und lassen sie absichtlich verhungern. Manchmal geben wir sie weg oder setzen sie aus. Ganz zu schweigen von subtileren Methoden, die wir Erziehung nennen und die nichts weiter sind als die Ausformung eines Backenzahns mit einem feinen Bohrer, um ihn für eine Füllung vorzubereiten. Nur daß die Wurzeln, wenn man die Plombe nach dreißig oder mehr Jahren öffnen muß, weil der Schmerz unerträglich geworden ist, bis in die Spitzen hinein verfault sind. Im Nachhinein tun wir manchmal verwundert, wie dieser  oder jener Mensch mit seinen Kindern umgegangen ist. Als wüßten wir nicht am eigenen Leib, was wir selbst alles getan haben, um unseren eigenen Schmerz auszuhalten oder ihm zu entkommen. Als würden wir beim genauen Betrachten unserer Kinder nicht allmählich diese verhängnisvolle Familienähnlichkeit feststellen. Wie wir da im Dämmerlicht alle auf diesem verlassenen Schießplatz herumstehen. Entweder als Zielscheiben, oder als jene, die ein geladenes Gewehr in den Händen halten. In dieser unglaublichen Stille, in der wir uns plötzlich gezwungen sehen nachzudenken. Zu erkennen, wie wir die Hände unserer Eltern geleckt haben, weil sie uns einen Knochen hinwarfen, an dem sich noch ein paar Fleischreste befanden. Und wie sehr wir von unseren eigenen Kindern verlangt haben, daß sie es ganz genauso tun, als wir ihnen die selben Knochen hinwarfen.

Wir schänden und traktieren die Kinder. Wir schaffen sie auf die heimischen Märkte. Werfen sie kopfüber in die Großbordelle des Internets. Wir bieten sie an. Und ein paar Hunderttausend oder Millionen von uns, meist Männer, an ihren Computern, die online frei über ihre Vorlieben reden, Erfahrungen austauschen, wählen per Klick zwischen mehr nackten Kindern in pornographischen Posen, als sie jemals in ihrem Leben ohne das Internet sehen könnten. Sie können Wünsche äußern. Und ihre Wünsche werden ihnen erfüllt werden. Denn in der realen Welt Europas, der ehemaligen Ostblockstaaten und Nordamerikas lassen sich immer Kinder finden, um den Markt zu befriedigen. Ich nenne das die Kommerzialisierung der Kinderzimmer. Früher fickte ein Vater sein Kind nur. Heute filmt er mit seiner Digitalkamera, wie er es fickt, und stellt den Film ins Netz. Wobei kein Kundenwunsch dreckig genug ist, um ihn nicht doch zu erfüllen. Selbstverständlich ohne Preisaufschlag. Was nicht für Snuff-Filme gilt. Vor allem nicht für solche, an denen Kinder beteiligt sind. Das ist richtig teuer. Ein Snuff-Film ist übrigens ein Film, in dem ein Kind oder mehrere Kinder zu Tode gefickt oder gefoltert werden. Man bestellt diese Filme. Sie werden extra für einen angefertigt. Ich konnte das zuerst nicht glauben. Bis ich dann vor einigen Jahren einen solchen Film mit eigenen Augen sehen konnte: das Zugrundegehen eines Kindes. Ich erinnere mich an die unglaubliche Geduld und Kälte, die die Folterer an den Tag legten, um das Wirkliche, das Alleszeigen zu realisieren. Um das Traktieren eines Kindes und seinen Tod für den Kunden zu einem einzigartigen Genießen zu machen. Es war ein wahres Aufglühen der Gewalt. Die unzählbaren Schreie. Die Fragmentierung eines Kinderkörpers. Jedes weitere Darübersprechen ist ausgeschlossen. Denn das, worüber ich sprechen müßte, entgeht jeder möglichen Sprache von vornherein. Es ist geschehen und hört nicht auf zu geschehen.

Ich weiß von Leuten, die beim Anblick blutiger und dampfender Leichenberge oder Kriegsgreuel derart geil werden, daß sie kaum noch zu halten sind. Sie würden sterben, um sich eine Hinrichtung anzuschauen. Diese Leute würden ihr Leben geben, um so einen Film zu sehen. Da sind auch Leute darunter, denen wir vertrauen. Leute, die Geschmack haben, die kultiviert sind. Leute, die sich einen Picasso in ihren Flur gehängt haben. Ein Flur, der so groß ist wie ein Fußballfeld. Leute mit Einfluß. Mächtige Leute. Solche Leute, von denen man sich einfach nicht vorstellen kann, daß sie Gefallen finden an Folterungen oder an Amputationen mit einer Kettensäge. Oder daran, ein Kind zu sodomieren. Es solange zu traktieren, bis es sich sämtlicher Körperinhalte entledigt. Bis es stirbt. Aber man täuscht sich da. Das ist überhaupt das Größte für diese Leute. Die Angst des ausgesuchten Opfers ist geforderte Bedingung. Das perverse Genießen Gottes, des Vaters, dem das Opfer dargebracht wird. Für den das Opfer eingerichtet ist. Und wir sind direkt dabei. Auch wenn wir das nicht direkt konsumieren. Wir sind dabei, weil wir in einer Welt leben, in der Quälen und Qual konsumiert werden. Wir alle haben die Schreie des Folterers, die Haut des Kindes. Wir sind davon vollkommen durchdrungen.

Jedes Jahr, wenn ich mitbekomme, wie die Eliten in diesem Land ihre offiziellen Gedenkorgien für die im Dritten Reich von den deutschen Nazis ermordeten Juden abhalten, kommt mir das große Kotzen. Eine furchteinflößende Bande von Höflingen, die das Gedenken als monströse heuchlerische Sauerei zelebriert und sich zur selben Zeit einen Dreck um die Gegenwart ihrer eigenen Kinder schert. Wenn ich diesem Pack zuhöre, daß wir nicht vergessen dürften, könnte ich vor lauter Wut stundenlang schreien. Es sind übrigens auch diese Leute, die behaupten, daß eine nationale Gedenktafel, ähnlich der Memorial Wall für die Angehörigen der US-Streitkräfte, die im Vietnamkrieg gekämpft haben und gefallen sind, für die mißbrauchten und ermordeten Kinder eine völlig überdrehte Forderung sei. Als hätten wir nicht in einem Krieg gekämpft und wären nicht in diesem Krieg gefallen oder verwundet heimgekehrt.

Wie viele Namen von getöteten Kindern könnten wir wohl in diesem Land in so eine Mauer einmeißeln? Wie viele von den fünfzigtausend Kindern, die weltweit jedes Jahr ermordet werden, gehen auf unser Konto? Wie viele von den 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen, die überall auf der Welt zum Geschlechtsverkehr gezwungen und geschlagen werden, werden bei uns zum Geschlechtsverkehr gezwungen und geschlagen? Wie viele von den anderthalb Millionen Mädchen, die jedes Jahr in die Prostitution gezwungen werden, machen hier und für unsere Männer die Beine breit? Sechs Millionen Kinder, die in Sklaverei vegetieren, wie viele davon bei uns? Jedes dritte bis vierte Kind, sagen die einen. Jedes siebte bis achte Kind, sagen die anderen. Wie auch immer: es sind viele. So viele, daß man ohne weiteres von einem massenhaften Mißbrauch von Kindern auch bei uns sprechen kann.

Ich denke an die Haut eines Kindes, wenn ich nach einer Entsprechung zu der zwei Meter hohen Bronzestatute der Three Soldiers in der Nähe der Memorial Wall in Washington suche, jenen drei Soldaten in ihren typischen Vietnamuniformen. Mir fällt nur die Haut ein. Ich denke sofort daran. An ihre Haut, die die Kinder buchstäblich zu Markte tragen. An die weiche, zarte Haut eines Kindes, das an einem Sommertag am Strand ist und dort spielt. Wie nackt und schutzlos es ist in diesem Krieg. Es hat nicht einmal eine Uniform. Seine Haut ist das Ehrenkleid. Also kämen für eine Bronzestatute am ehesten wohl drei nackte Kinder, die am Strand spielen, in Frage. Man müßte den Sand auf ihrer Haut sehen, die Wassertropfen, die im Licht der Sonne glitzern. Die sagenhafte Schönheit ihres Blicks, wenn sie die Endlosigkeit des Meeres betrachten, den unendlichen Himmel oder den Flug der Möwen.

Während ich dies hier schreibe, entdeckt man gerade den Mißbrauch. Einige Überlebende haben geredet. Andere sind ihnen gefolgt. Ein paar sogenannte Prominente kamen hinzu. Und dann konnte es nicht länger verschwiegen werden. Die ganze Kinderfickerei kommt nun ans Licht. Mißbrauch und Gewalt in den Kirchen, den Heimen, in Internaten, Gesang- und Sportvereinen. Also genau dort, wo sie schon immer stattgefunden haben. Man könnte diese exzessive Gewalt – und zwar im epidemischen Ausmaß – auch in den Familien finden. Doch für diese Wahrheit ist keiner wirklich gewappnet. Also macht man einen großen Bogen. Ist den Kirchen, den Heimen und Internaten, den Gesang- und Sportvereinen insgeheim dankbar, daß sie von dem Desaster in den Familien ablenken.

In den Medien wird ausführlich über die beiden großen Reformpädagogen des Landes gesprochen: der eine homosexuell, der andere ein Kinderficker. Ihre sexuelle Präferenz bekommt Bedeutung. Denn beide sind oder waren ein Paar. Beiden hatten mit Kindern in pädagogischen Einrichtungen zu tun. Man registriert mit Befremden, daß der Reformer, der jahrelang mit den Kinderficker zusammenlebte, nichts bemerkt haben will. Auch, daß er den Kinderficker deckt. Die mißbrauchten Kinder denunziert und behauptet, sie wären wohl geil gewesen und hätten sich seinem Lebensgefährten aufgedrängt. Und der konnte dann womöglich nicht widerstehen. Jedenfalls sei er selbst nicht involviert, und der Kinderficker liege im Sterben. Man möge ihn doch bitte in Frieden lassen. Was für ein Skandal!

Betroffen sind ebenfalls Einrichtungen der Katholischen Kirche. Die Bischöfe leugnen, bagatellisieren, ignorieren, vertuschen, beschwichtigen. Sie verheddern sich in Widersprüche. Jammern, was das Zeug hält. Fühlen sich verfolgt. Prangern die angeblich antiklerikale Medienkampagne an. So schlimm wie einst der Kirchenkampf der Nazis. Bezichtigen die Journalisten, sie hätten ein Vaterproblem und würden sich an Mutter Kirche abarbeiten. Bieten großzügig an, für die Opfer zu singen und zu beten. Man möchte auf der Stelle mit einem Bus voll mit Überlebenden quer durchs Land fahren und jedem einzelnen dieser Bischöfe die Fresse polieren. Sogar der Papst fühlt sich verfolgt. Man stelle sich das einmal vor. Er fühlt sich verfolgt. Wünscht sich Aufklärung mit Augenmaß. Es werden Kollateralschäden befürchtet – in der Kirche. Wo doch die Kirche selbst ihr größter Kollateralschaden ist. Denn in ihr werden Kinder zu Opfern gemacht. Was wir uns – und wir wollen uns von diesem Teil unserer Kindheit einfach nicht verabschieden – Gott zu nennen nicht abgewöhnen können, wird in den Kirchen jeden Tag geschändet. Friedrich Nietzsche erklärte 1882 den Tod Gottes: Gott bleibt tot: Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? Nietzsche wußte vielleicht damals nicht, daß er, als er von Gott sprach, die Kinder meinte. Daß er sich selbst als das Kind sah, das er einst war. Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet. Die Aufklärung, die der Papst sich wünscht, wird mit Nietzsches Frage eingeleitet: Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Der erste Trost wäre, daß wir die Kirche verbieten. Warum soll das nicht möglich sein? Wir verbieten doch auch Rocker-Clubs und andere kriminelle Vereinigungen.

Die organisierten Pädophilen melden sich mit ihrem Ansinnen nach einem aufgeklärten und humanen Strafrecht zu Wort. Also die sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen nicht mehr unter Strafe zu stellen. Was nichts anderes heißt, als jedes Kind in diesem Land nackt, mit auseinandergerissenen Arschbacken und geöffneter Vagina mitten auf die Straße zu legen. Jedenfalls fordern diese primitiven Vollspasten das Recht, ihre Sexualität mit Kindern zu leben. Fragen ernsthaft, ob solche Sexualität für Kinder schädlich sei. Man muß schon Eier so groß wie Melonen in der Hose haben, um sich zu trauen, diese Frage laut zu stellen. Oder man fühlt sich sicher, daß keine Gruppe wütender Eltern über einen herfällt. Daß man nicht geteert und gefedert und mit schweren Knüppeln aus der Stadt getrieben wird. Gut, erklären wir es also den Pädophilen: Sexualität für Kinder ist nicht schädlich. Solche Sexualität schon. Es ist eine gute Sache, wenn zwei Kinder miteinander ihre Sexualität entdecken. Aber ein fünfzigjähriger Mann, der sich an einer Fünfjährigen oder einem Siebenjährigen zu schaffen macht. Diese Kinder auffordert, seinen Penis zu stimulieren. Daß man überhaupt erklären muß, daß das schädlich ist. Und wie schädlich das ist. Die reine Zerstörung. Das ist hirnverbrannt!

Einer dieser Pädophilen hat übrigens in einem Buch die Stimulierung eines dreieinhalb Jahre alten Mädchen beschrieben. Zur wissenschaftlichen Dokumentation, wie er erklärte. Um die Dunkelfelder unserer Gesellschaft zu erhellen. Was für eine Sau! Als ob die Dunkelfelder unserer Gesellschaft in der Vagina einer Dreieinhalbjährigen liegen. Und selbst wenn sie dort lägen: ließen sie sich erhellen, indem man die Vagina eines Kindes stimuliert? Und dann noch zu behaupten, daß die Pädophilie etwas anderes sei als Inzest und Kindesmißbrauch. Daß die pädophile Sexualform über ein ungewöhnlich differenziertes Konzept gegenüber dem Konsens verfüge. Sicher würden die Leute, die sich in sogenannten Swinger-Clubs vergnügen oder sich gegenseitig voll pissen und ins Maul kacken lassen, ebenfalls behaupten, daß ihre sexuelle Präferenz über ein ungewöhnlich differenziertes Konzept gegenüber dem Konsens verfüge. Frei nach dem Motto: Jede Liebe ist Liebe. Wobei es an dieser Stelle naheliegend ist zu fragen, ob wir alles verschmerzen müssen, nur weil wir die Rede- und Meinungsfreiheit verteidigen? Über den Schriftsteller Salman Rushdie und seine Verleger hat man wegen weit weniger eine Fatwa verhängt.

Jedenfalls haben die Ereignisse ausgereicht, daß jetzt sogar die Politiker über den Mißbrauch sprechen. Nicht nur in den Babbel-Runden des Fernsehens, wo üblicherweise Halb-Debile mit beiden Händen angestrengt ihren Hohlkopf melken, um irgendeinen halbwegs vernünftig klingenden Satz aus ihrem Mund herauszuquetschen. Nein, man redet im Parlament darüber. Man redet darüber, wie man dort immer über Themen redet. Man gibt eine Rolle. Zieht eine Show ab. Niemand krümmt sich vor Schmerz oder Gram wegen des hunderttausendfachen Leids der Kinder. Da ist keiner, der vom Kummer der Überlebenden umgeworfen wird. In dem Paralleluniversum, in dem diese Leute leben, werden sie von derlei nur an den Rändern erreicht. Hinzu kommt, daß alle besoffen sind von ihrer eigenen Wichtigkeit. Die Regierungschefin tritt auf. Sie sagt etwas zum Mißbrauch. Sie tut dies so, wie sie es immer tut. Sie könnte ebensogut über etwas anderes reden. Etwa über Elektroautos oder die Krise in Griechenland. Eine Sache von wenigen Sätzen. So dahingesagt, daß niemand sie anzweifelt. Oder jeder sie anzweifelt. Ohne daß es jemanden interessiert. Als am Nachmittag die Bundesfamilienministerin spricht, ist das Parlament nahezu leer. Das wichtigste Thema, über das im Parlament jemals gesprochen werden wird. Und außer einigen Figuren in der ersten Reihe, die telefonieren, SMS schreiben oder Akten lesen, ist keiner mehr da. Die Kamera fängt kilometerlang die leeren Sitzreihen ein. Es ist gespenstisch. Gelegentlicher Applaus für die sehr junge, sehr unsicher, beinahe schutzlos wirkende Frau am Rednerpult. Ihre Rede und ihre Bewegungen, die Mimik, alles wirkt wie einstudiert. Ein wenig angestrengt. Man möchte zu ihr gehen, den Arm um sie legen. Sie beschützen. Es ist nicht rational. Eher instinktiv. Man wartet darauf, daß sie die Dinge beim Namen nennt. Daß sie sagt, wie Kinder in den zurückliegenden Jahrhunderten behandelt wurden. Daß die Kinder ausgepeitscht wurden, weil sie mit vier Jahren noch nicht lesen konnten. Daß sie nackt in Kellern eingesperrt wurden. Daß man sie Leichen von anderen Kindern betrachten ließ und ihnen drohte, daß auch ihnen dieses Schicksal zuteil werden würde, wenn sie nicht gehorchten. Daß man ihnen häßliche Puppen schenkte, um sie zu erschrecken. Daß man sie ersäufte, weil sie mißgestaltet waren. Sie ermordete, weil sie im Weg waren. Sie verkaufte. Weggab. Wegwarf. Daß man ihnen Opium und Schnaps gab, um sie ruhig zu halten. Ihnen Klistiere verabreichte, um sie sauber zu kriegen. Sie zwölf Stunden am Tag und länger arbeiten ließ. Daß man sie ihren depressiven Vätern zum Beischlaf ins Bett legte, damit es diesen anschließend besser ging. Daß die Kirche und das, was man Christentum nennt, immer mit dabei waren, wenn es darum ging, den Kindern Schmerz und Leid zuzufügen. Daß sie es ausspricht, was man heute den Kindern antut. In den Kinderzimmern. In den Bordellen. In den Kirchen und Vereinen. Dort, wo gesungen und geturnt wird. In den Schulen, Heimen und Internaten. In den Familien! Daß sie sagt, was Männer den Kindern antun. Den eigenen und den fremden. Daß die Kirche wieder mitmacht. Und daß man überlegen muß, ob es nicht besser wäre, das Christentum zu ächten. Die Kirche auf eine Stufe zu stellen mit anderen Sekten, etwa den Scientologen. Daß sie fragt: Warum töten wir diese Männer nicht? Und: Töten wir diese Männer nicht, weil wir ein Recht haben? Weil wir zivilisiert sind? Daß sie sagt: Wir mögen das Recht haben. Aber wir ficken unsere Kinder. Ist das besonders zivilisiert? Daß sie weiter fragt: Was wollen wir mit solchen Männern? Männer, die nicht begreifen, was sie anrichten. Wollen wir wirklich noch länger mit solchen Männern leben? Damit es ein einziges Mal gesagt wäre. Damit man dann sagen könnte: Nein, das tun wir nicht. Wir töten diese Männer nicht. Wir tun, was nötig ist. Wir streiten uns nicht zehn Jahre lang darüber, wie wir verhindern, daß es Kinderpornographie im Internet gibt. Wir haben das Recht. Wir schützen unsere Kinder. Wir schützen jedes einzelne Kind. Wir handeln. Wir haben den absoluten Willen zu handeln. Mit dem Recht, das wir haben, sorgen wir dafür, daß kein einziges Kind mehr solches Leid erfährt. Daß kein Kind mehr in pornographischen Posen im Internet zu finden ist. Und daß jedem Kinderficker das Gehirn gewaschen wird, wie und mit welchen Mitteln auch immer. Wir werden nicht mehr unsere Freiheit oder die Freiheit im Netz zum Ziel haben, ohne gleichzeitig die Freiheit der Kinder zum Ziel zu haben. Doch sie sagt es nicht. Sie sagt das alles nicht. Sie schreit nicht vor Wut. Sie ist nicht außer sich vor Empörung. Sie ist politisch korrekt. Sie sagt, was man sagt, wenn man politisch korrekt ist. Ihre Worte klingen hohl und ausgeleiert. Ich verstehe nicht, wie ihr das gelingt. Darüber zu sprechen, ohne wirklich etwas dazu zu sagen. Daß nichts, von dem, was sie sagt, im Gedächtnis bleibt. Weil nichts von dem, was sie sagt, weh tut. Weil niemand deswegen aufschreckt. Weil sie nicht improvisiert. Sie erfindet keine neue Sprache. Dies gilt übrigens auch für die Medien. Die Kanalratten des Boulevard, aber auch die Journalisten berichten, reden und schreiben darüber, wie sie über alles und jeden berichten, reden und schreiben. Sie reproduzieren endlos den stereotypen Diskurs. Beten den Konsens an. Selbst da, wo sie nicht übereinstimmen. Da ist kein einziger, der in Taumel gerät. Der bereit wäre, alles in Frage zu stellen. Alles abzufackeln. Mit keiner noch so kleinen Subversion bringt man irgend jemanden in Verlegenheit. Der Schein bleibt in allem gewahrt. Auch am sogenannten Runden Tisch, der eingerichtet wurde. Wo sich neuerdings Politiker des Bundes und der Länder mit Vertretern der Kirchen, der Schulen, der Ärzteschaft und einigen Verbänden treffen, um über Hilfe für die Opfer sexueller Gewalt zu reden.

Was am ärgerlichsten ist, daß alle so tun, als wären sie vom Ausmaß von Gewalt und Mißbrauch gegen Kinder überrascht. Einigen von ihnen kann man dabei zusehen, wie es sie bestürzt, wenn sie sich die Folgen bewußt zu machen versuchen. Was es also bedeutet, Gewalt und Mißbrauch überlebt zu haben. Fassungslos und verwirrt betrachten sie in sicherer Entfernung die Überlebenden. Vielleicht sind diese Leute tatsächlich so uninformiert oder unvorbereitet, was die Signifikanz des Mißbrauchs angeht. Daß sie noch nie ein Buch der kürzlich verstorbenen Alice Miller gelesen haben. Daß ihnen die Forschungen von Piaget, Judith Herman, Onno van der Hart, Ellert Nijenhaus, Kathy Steele, Bessel van der Kolk oder Marsha Linehan gänzlich unbekannt sind. Daß sie noch nie etwas von Lloyd deMause gehört haben. Daß sie sich nicht einfühlen können. Nur wenn dem so ist: weshalb verkaufen sie dann nicht Fleischklopse bei McDonalds oder sitzen bei Herrn Schlecker an der Kasse? Sie werden nicht müde zu versichern, am Runden Tisch mit allen über alles reden zu wollen. Aber nicht mit den Opfern. Die, die überlebt haben, die 1000-fach den Leidensweg Christi gegangen sind, haben an ihrem Tisch nichts verloren. Vielleicht weil ihre Wiederauferstehung allen unangenehm ist?

So wie ich das sehe, will niemand, daß das Opfer reden will. Niemand will ertragen, was er da zu hören bekäme. Die ganze dreckige Wahrheit, das ist ihnen allen zuviel. Wer will sich schon so ohnmächtig fühlen? Die eigene Ohnmachtserfahrung. Wer will das aushalten? Wer kann das? Ich meine: außer den Überlebenden, den einstigen Opfern. Die keine andere Wahl haben. Und wenn sie dann alle noch hören müßten, was sie zugelassen haben. Was sie zu verantworten haben. Das würde ihre schönen Lebensgeschichten zertrümmern. Das, worin sie sich so nett eingerichtet haben. Mit einem Mal wäre das verloren. Sie müßten alles neu zusammensetzen. Also machen sie es sich einfach. Sagen sich, daß wir geschändet wurden. Und daß die Schande gefälligst bei uns zu bleiben hat. So bleiben sie zwar auf der Seite der Täter. Aber sie sind wenigstens fein raus.

Machen wir uns nichts vor: es wäre für alle einfacher, wenn wir gestorben wären. Sogar für uns. Daß wir nicht gestorben sind, stellt alle vor ein Problem. Kinder sind meistens lästig. Als Opfer sind sie es doppelt und dreifach. Ihre Not erfordert Aufmerksamkeit, verläßliches Handeln und Hingabe. Vielleicht sogar Liebe. Später, wenn sie erwachsen geworden sind, sind sie lästig, weil sie überlebt haben. Auch nun muß man sich mit ihnen beschäftigen. Und zwar noch nachdrücklicher und tiefer, als dies der Fall gewesen wäre, hätte man diese Aufgabe angenommen, als sie noch Kinder waren. Um einem Kind, das mißbraucht wurde, und später dem überlebenden Erwachsenen gegenüber verläßlich handeln zu können, muß man dem eigenen inneren Kind gegenüber aufmerksam sein. Man muß das aushalten: die eigene Geschichte. Das, was einem angetan wurde. Was man selbst überlebt hat. Den eigenen Schmerz. Mit jemandem zusammensein, der als Kind mißbraucht und mißhandelt wurde, so jemandem überhaupt zu begegnen, ist aufwühlend. Und nicht nur deshalb, weil er wie ein Spiegel wirken könnte. Jemandem zu begegnen, dem man bereits alles angetan hat, das rauht einen auf, innen und außen. Da sitzt jemand, der nicht an dem gestorben ist, was man ihm angetan hat. Der kein Opfer mehr ist. Der überlebt hat. Der durch seine bloße Existenz bezeugt, daß man sich seiner Haut und seines Geschlechts bemächtigt hat. Daß es Menschen gab, die ihn bedenkenlos geplündert, gefoltert und vergewaltigt haben. So jemandem zu begegnen, das ist eine Herausforderung. Mit einem Überlebenden zusammenzutreffen bedeutet, früher oder später mit einem beschädigten Menschen konfrontiert zu werden. Mit seiner unfaßbaren Heftigkeit. Mit seinen Ängsten und Selbstzweifeln. Seinem nur schwer zu ertragenden Mißtrauen. Seiner ganzen, schrecklichen und unvorhersehbaren Wut. Es bedeutet, mit jemandem zusammenzusein, der die Sexualität eines Versehrten hat. Der einem ohne Haut gegenübertritt. Der so nackt ist, daß man sein gepeinigtes Herz vor Aufregung schlagen sehen kann. Der einem buchstäblich unter die Haut geht. Das muß man wollen. Und weil man das nicht will, sitzt auch niemand von uns mit an diesem Runden Tisch.

Was das ist, das Leben eines mißbrauchten Kindes. Wie soll ich Ihnen das erklären, wo ich nun nicht mit an Ihrem Runden Tisch sitze? Wie soll ich Ihnen beibringen, daß das Leben eines mißbrauchten Kindes ein einziger Augenblick ist, wenn nicht als Wunde? Was einem solchen Kind widerfahren ist, untersteht dem Regime dieses Augenblicks, der das ganze Leben andauert. Es ist das ständig unmittelbar Bevorstehende. Wir müssen wachsam sein. Denn wir werden verfolgt, weil wir Kinder sind. Überall gibt es Jagdreviere, in denen man hinter uns her ist. Wo man uns aufspürt. Unsere Situation ist ausweglos. Es ist atemberaubend, wie ausweglos. Genaugenommen befinden wir uns in einem Angriffskrieg. Wir sind die, die angegriffen werden. Die Front ist unser Kinderzimmer. Der Ort, an dem wir sicher sein sollten. Und geschützt. Der Gegner kennt jeden unserer Schritte. Alle Ausweich- und Ablenkungsmanöver haben uns nichts gebracht. Jede Finte war vergeblich. Die Brutalität des Gegners hat unseren Widerstand gebrochen. Dort, wo wir einmal frei waren, hat der Gegner nun ein Lager errichtet. Dort hält er uns gefangen. Dort wird er uns vergewaltigen und foltern. Dort wird er uns töten. Auf die eine oder die andere Art. Selbst wo wir unseren Tod überleben, wird nichts mehr sein wie zuvor.

Hier kommt der Moment, an dem ich wechsle. Ich bin mir im Klaren darüber. Ich habe den Puls eines wilden Tiers. Noch genügend Körper, um zu sagen, was zu sagen ist. Wenn meine Kraft versagt, dann gebe ich auf. Antigone, glaube ich. Ich bin nicht böse. Das sollten Sie über mich wissen. Aber ich stehe in der Nähe des Bösen. Stehe ihm nahe. Die Stimmen in meinem Kopf. Ein unsichtbarer Faden, den Sie finden müssen, um das Folgende zu verstehen. Ich werde Sie nicht schonen. Da sind Spuren, die meine sind. Die nicht nur meine sind. Der dunkle Wald. Die Väter, die Stiefväter, die Onkel, die Brüder, die Vettern und Cousins. Die Freunde der Väter und Stiefväter, der Onkel, der Brüder, der Vettern und Cousins. Fremde Männer. Alle sind hinter uns her. Wir sind die Beute. Tausende von uns hat man bereits ermordet. Ganze Hügelketten gefolterter Kinder, mit durchbogen Rücken. Nackte, geschändete Körper, wie Abfallhaufen aneinandergereiht. Einige sind noch nicht tot, leben noch ein wenig. Rühren sich noch unter all den toten Körpern. Es scheint unerheblich. Kaum einer bemerkt es. Und doch finden wir es bedeutsam, daß wir uns von den Leichenkörpern unterscheiden. Wir sind davongekommen. Entblößt. Unbeweglich. Vom Schmerz aufgerieben. Wir liegen in unserer eigenen Kacke. In unserem eigenen Blut. Das getrocknete Sperma der Männer ist noch auf unserer Haut und in uns. Unsere Körper sind bedeckt von der Gier der Männer. Die Schmiere ihrer enthemmten Berührung klebt an uns wie eine zweite Haut. Und darunter, unter unserer Haut, im Inneren unserer auf ewig verworfenen Körper, ist alles voller Scham und Angst. Wir sind angefüllt mit Schweigen. Wir können nicht mehr schreien. Nicht nach allem, was man mit uns gemacht hat. So überleben wir. So ist es, wenn wir überleben. So ist es ab jetzt für uns. So sind wir am Leben. Mit unseren zuckenden, von der Marter durchbohrten Körpern. Körper, die überwältigt wurden. Überwältigt sind und es bleiben. Wir werden uns nie wieder davon erholen. Wir bleiben im Zustand der Erwartung, daß die Männer zurückkehren. Die Männer haben gemacht, daß sich unsere Augen nicht mehr mit Tränen füllen können. Daß wir nicht mehr weinen. Obwohl wir vom Schmerz abgeschabt sind bis auf die Knochen. Die Männer haben uns der Welt abhanden kommen lassen. Lange bevor wir in ihr ankommen konnten. Die Männer haben uns glauben lassen, daß wir nicht für die Welt bestimmt waren. Sie haben uns in dem Glauben bestärkt, daß wir nur als Opfer für die Welt bestimmt waren. Als Fickloch. Die Männer haben uns zu Objekten gemacht, zu toten Gegenständen, um besser in uns hineinstoßen, hineinschlagen und hineintreten zu können. Alles Wasser reicht nicht aus, um uns von dem zu reinigen, was die Männer mit uns gemacht haben. Unsere ausgehöhlten Körper bleiben schwarz von Schuld. Unser Körper, dort, in der Ecke, ein elender, stinkender Körper, der einmal schön war. Zart. So zart. Verführerisch. So verführerisch. Keiner konnte sich zurückhalten. Einen Verbrechen, diesen Körper nicht in Besitz genommen zu haben. Ein so wundervoller Körper. Wie dafür gemacht, ihn zu entweihen. Einmal, früher, vor langer Zeit, da hatten wir jeder einen Namen. Wir hatten einen Körper, ein Leben. Eine Zukunft. Dann, nachdem die Männer bei uns waren, hatten wir nichts mehr. Heute sind wir niemand mehr. Nur gefickte Kinder, deren gefolterte Körper älter geworden sind. Aus diesen ruinierten Körpern heraus, die immer unsere ersten Feinde bleiben, schreien wir. Wir sind Mädchen und Jungen. Wir sind fünf, sieben, elf und dreizehn Jahre alt. Mädchen und Jungen in zu alten Körpern. Körper, die zu wahr sind, zu traurig, zu abstoßend, zu verletzt, zu zerbrochen, zu unansehnlich, zu häßlich, kalt und unfreundlich, um jemals geliebt zu werden. Körperscherben. Es gibt keinen Halt, keine Form des Lebens, die wir noch ausdrücken könnten. Und doch. Wir sind davongekommen! Wir schreien es heraus: wir hatten einen Namen! Einen Körper! Ein Leben! Wir hatten eine Zukunft! Jetzt sind wir nur noch gefickte Kinder, die in alten, schikanierten Körpern stecken. In Körpern, die schon lange nicht mehr berührt wurden. Demoliert und in Auflösung begriffen. Mit psychiatrischen Brandmalen versehen. So stehen wir vor einer der zahllosen Festungsmauern, die Sie gegen solche wie uns errichtet haben. Um besser mit uns reden zu können. Wegen der nötigen Distanz. Um Mitgefühl zu empfinden, ohne sich erweichen zu lassen von diesen sich schrecklich aufbäumenden Körpern. Diesen im Schmerz eingeschlossenen Körpern. Körper, die ein Zeichen tragen. Die sich allem widersetzen, außer der Raserei ihres Schmerzes. Regelrecht überflutet von dem eigenen schrecklichen, faulenden Fleisch, in dem sich Angst und Schmerz so tief eingegraben haben, daß sie nur noch als ein einziger, fortdauernder Schreikrampf existieren. Diese von sich selbst verlassenen Körper, deren Sterben ewig dauert. In denen etwas brüllt, nachdem es niedergeschlagen wurde. Zerschellt an der sonderbaren Liebe der Männer. Eine verheerende Liebe. Wie eine anhaltende Verwüstung. Schlimmer noch als der Tod in einem dunklen Land. Etwas in uns ist nie von dort zurückgekehrt. Dieses dunkle Land hat uns verschlungen. Wir wurden niedergestreckt von den Verheerungen der Liebe. Unsere Sprache klingt, als wären wir unter die Räder eines Fuhrwerks gekommen. Als wäre jemand mit einem Messer auf jedes einzelne unserer Worte losgegangen und hätte es niedergemetzelt. Hätte wie ein Wahnsinniger in sie hineingestochen. Sie unkenntlich gemacht. Wort für Wort. Und jetzt kehren sie zurück. Ich bringe sie zurück. Blutende Worte, die sich über das Blatt Papier wälzen. Wie eine Feuersbrunst. Der Brand durchdringt die Mauern, die Sie errichtet haben, um sich zu schützen. Das Niederprasseln meiner Worte übertönt Ihr scheußliches Gekeife. Was ich mit ihnen ausdrücke, erscheint Ihnen nicht anwendbar. Sie fühlen sich von meinen Worten attackiert. Sie schreien nach Schutz. Sie sagen, daß Sie sich vor mir schützen müssen. Spätestens jetzt sagen Sie es. Daß es nicht angehen kann, daß einer wie ich Sie mit Worten zusammenschlägt. Sich nicht an die Regeln hält. Doch ich kann das nicht. Mich an Ihre Regeln halten. Keiner von uns kann das. Es gelingt uns nicht mehr. Nicht, nachdem wir von Ihnen geopfert wurden, um Ihre Ungeheuer friedlich zu stimmen. Unsere inneren Landschaften gleichen Landschaften nach einem Sturmangriff. Unsere Sinne sind so wach, daß wir die Bewegung des Anderen erahnen, lange bevor dieser sie ausführt. Wir bemerken die Gefahr, noch bevor das Auge uns gegenüber aufblitzt. Wir vertrauen mit letzter Kraft, wie wir mit ganzer Kraft verzweifeln. Längst sehen wir nur noch die Formungen durch die Beschädigung. Den langen Augenblick der vergangenen Qual, die keine Vergangenheit hat. Hämmernde Fausthiebe und Tritte. Papa kommt jede Nacht zu uns. Schwarze Gummiknüppel bringen unsere Haut zum Zerplatzen. Wir liegen noch hier. Zusammengekrümmt. Gebrandmarkt. Entehrt. Verschrien. Zurückgelassen. Besudelt von innen und außen. Immer im Zustand der Befürchtung. Von einem ständig wachen Vorgefühl überflutet. Etwas existiert, das sich erneut an uns heften, das uns besetzen, das sich abermals ausdehnen wird, um uns zu fesseln, unsere Gesichter in die Kissen zu pressen, uns von hinten zu stoßen, in uns hineinzustoßen, uns zu quetschen und zu strangulieren, uns herumzuwerfen, um in unsere Augen zu sehen und sich an unserer Angst zu erbauen. Um abermals alles niederzureißen. Um hinterher auf unsere abgewetzte Nacktheit zu weinen. Abscheuliche Tränen der Reue, die auf unseren wunden, noch ans Bett genagelten Körpern wie Säure brennen. Niemand hat je etwas gesehen und gehört. Dabei kann es nicht unbemerkt geblieben sein, als man unser Inneres nach Außen stülpte wie die Ärmel einer Jacke. Als man jede Stelle unseres Körpers zum Schreien brachte. Als man nacheinander einen Mittelfinger, ein Lineal, eine ungeschälte Banane in unsere Vagina hineinrammte, den Schwanz in unseren Anus stieß. Als unsere Stimme keine Worte mehr formte. Als nur noch Töne aus unseren geschundenen Leibern herausfuhren, die einen hinabrissen in die Hölle, sobald man sie hörte. Unmöglich, daß so etwas unbemerkt bleibt. Es sei denn, man will, daß so etwas unbemerkt bleibt. Alles andere war Ihnen wichtiger. Die wöchentliche Hausordnung. Das Kehren der Straße vor Ihrem Haus. Die Sauberkeit im Inneren Ihres Hauses. Diese frisch gefegte Straße bedeutete Ihnen alles. Alles andere bedeutete Ihnen mehr als unsere Vernichtung. In Ihren Alltagsverrichtungen waren Sie zu Stein geworden. In dem täglichen Gerümpel, den Sie Ihr Leben nennen, hat der Stein über Sie triumphiert. Damit haben Sie alles möglich gemacht. Die Vernichtung unserer Zartheit. Den unendlichen Schrecken. Für eine sauber gekehrte Straße. Für ein geputztes Haus. Ihr Verhalten macht uns überhaupt erst verdächtig. Jederzeit antastbar von Glaubwürdigkeitsgutachten. Von Staatsanwälten und Richtern, die lieber sterben würden als zu glauben, was wir ihnen erzählen. Die sich ums Verrecken nicht vorstellen können und wollen, daß das, was wir erzählen, von Ihnen unbemerkt geblieben ist. Dabei sollen wir es ihnen ausführlich erzählen. Mit unseren eigenen Worten. Die wir nicht mehr haben. Selbst wenn wir unsere eigenen Worte noch hätten. Wie sollten wir das erzählen können? Das von dem Lineal und der Banane in unserer Vagina. Das von dem Schwanz in unserem Anus. Wie sollten wir erzählen, daß wir fotografiert und gefilmt worden? Mit aufgerissener Vagina. Unsere kleine Hand, die einen aufgerichteten Schwanz reibt. Während unsere Lippen und unsere Zunge den Kopf dieses Teils küssen und lecken. Von der Schande unserer Körper. Wie sollten wir davon sprechen können, nachdem alles zerschlagen ist? In Stücke gerissen. Nachdem die Männer über alles triumphiert haben, was wir einmal waren. Nachdem wir die Lust an der Bestialität in unseren eigenen Körpern gespürt haben. Wir stürzen in einem endlosen Fall, ohne auch nur das kleinste Stück von uns retten zu können. Die Beraubung ist vollständig. Wir sind das bevorzugte Geschlecht der Männer. Die Männer ziehen uns ihren Frauen vor. Dies könnte uns mit Stolz erfüllen. Wären wir nicht zurückgekehrt aus diesem Krieg, den wir verloren haben. Und hätte uns dieser Krieg nicht versehrt bis ans Ende unseres Lebens.

Jene, die uns verfolgen und die anderen, die sich unserer Verfolgung nicht entgegenstellen, sie durch Verschweigen und Wegschauen begünstigen, sind der Ansicht, daß man nicht von Verfolgung reden kann. Volks- und Religionsgruppen werden verfolgt. Ganze Völker. Robben und Tiger, Wale und Delphine. Aber doch keine Kinder. Die Welt ist so, wie Sie sie sehen wollen, sagt man mir. Unsere Welt ist eine andere. Besser als Sie sie beschreiben. So furchtbar, wie Sie sagen, sind wir nicht. Die Welt existiert nur durch Ihre Wahrnehmung! Das wird man sich merken müssen.

Die Nacht ist zu ende, ohne daß ich geschlafen hätte. Gefangen in der Müdigkeit, frage ich mich, was noch geht? Wovon ich lebe? Wen oder was ich noch liebe? Ich kann sehen, daß ich vorzeitig kaputtgegangen bin. Es wäre zum Davonlaufen, wenn ich allein kaputtgegangen wäre. Aber das bin ich nicht. Und mir ist ein gewisses Talent verblieben. Daß ich noch etwas vollbringen kann. Sei es auch nur, daß ich Worte mache. Daß ich sie mir aneigne. Dies ist etwas, das mir zuteil wird. Und das ist mit Vorsicht zu behandeln. Das verträgt keine Zugeständnisse. Das ist gewissermaßen eine Gnade. Trotz des Schmerzes, den das Worte machen verursacht. Trotz des Wissens, in welcher Wüste ich spreche. Und wie wenig ein Kinderleben Wert hat für Leute wie Sie. Es ist fünf Minuten vor Sechs und ich schreibe: Sehen Sie nur, da oben am Himmel, die großen gelben Sterne. Das sind Sabrina, Julia, Birte, Susann, Alice, Timo, Daniel, Marie, Helena, Kristina, Danny, Liane, Eric, Nicole, Biggy, Claudie, Anna, Lisa, Patricia, Richard und all die anderen. Wer von ihnen hat wohl am längsten zum Sterben gebraucht? Diese großen gelben Sterne zeigen uns, daß das Humane noch immer nicht mehr ist als eine Zierde der Barbarei. Da können Sie noch so sehr darauf beharren, daß es anders sei. Es wird nichts ändern. Das Nein, das ich für Sie habe, ist ehrlich gemeint. Die Verachtung, die ich empfinde, kommt von Herzen. Sie können sich bedenkenlos darauf verlassen. Sie müssen mit mir rechnen. Meine Revanche ist, daß ich am Leben bleibe.



© RW; aus: Stigmata, Mai 2010