Dienstag, 19. Oktober 2010

Neu anfangen


Jemand beginnt zu schreiben,
entschlossen vor Verzweiflung.
Maurice Blanchot




Für Aude Masserann – meine erste Leserin





Einmal, vor Jahren, bevor etwas entzweigerissen ist, muß es ein Gefühl in mir gegeben haben, der Welt anzugehören. Zumindest für eine gewisse Zeit ist das gewiß so gewesen. Dieses Gefühl hat es gegeben. Ich täusche mich nicht. Ich selbst wurde davon überrascht, von dieser Selbstverständlichkeit, mit der ich wieder in der Welt war. Es geschah nicht mit einem Mal, sondern nach und nach. Und doch begann es unvermittelt, während einer Zugfahrt, in einem Zweite-Klasse-Wagen. Ich stellte fest, daß ich an Land zurückgehrt war.

Dazu muß ich sagen, daß ich Jahre vorher einen Unfall hatte. Er passierte unvorhergesehen, wie die meisten Unfälle. Ein Psychologe sagte damals zu mir, ich sei wohl auf Grund gelaufen. Ich erinnere mich nicht, was ich darauf erwiderte. Nur an eine gewisse Gehässigkeit oder Schadenfreude bei ihm, die ich nicht verstehen, die ich nicht mit-denken konnte. Ich glaube, ich habe gar nichts darauf erwidert, sondern eher geschwiegen. Ich denke auch nicht, das mir das einleuchte, was er sagte. Ich war nicht auf Grund gelaufen. Vielmehr glaube ich, daß der Grund mich die ganze Zeit beobachtet hat. In den Jahren, den Jahrzehnten, um es genau zu sagen, in denen ich das Überleben nach meiner Kindheit nur im Ausweichen durchgehalten hatte, ließ mich der Grund nicht aus den Augen. Man kann wohl sagen, daß ich von ihm beschattet wurde. Genau genommen war es ein ständiges Herannahen. Und dann hat mich der Grund schließlich ereilt. Zwar sah ich die ganze Zeit das Land vor mir, aber ich konnte es nicht mehr erreichen. Ich war weder ganz an Land, noch ganz im Meer, was für mich gespenstisch und beängstigend war und mich einschüchterte.

Und mit einem Mal, während dieser Zugfahrt, vollzog sich eine andere Bewegung: die einer Entscheidung. Ich entschied mich, an Land zu gehen. Ich ging an Land. Schlagartig fühlte ich mich mir gegenüber nicht mehr fremd. Ich war ein Mann Anfang Vierzig, der im Zug saß und zu seiner Freundin fuhr.

Bei allem, was ich hier noch sagen werde, will ich nicht unerwähnt lassen, daß ich sie wegen dieser Zugfahrt mehr als alles auf der Welt geliebt habe. Im Hinblick auf dieses Ereignis, das nur geschehen konnte, weil ich wegen ihr die Unmöglichkeit auf die Probe stellte.

Jedenfalls gefiel mir plötzlich die Welt, ungeachtet ihres Unberechenbaren, das mir mit jeder Bewegung, mit der ich mich von der Grenze entfernte und auf der anderen Seite ankam, deutlich wurde. Mir gefielen die Helligkeit an den Tagen, das Dunkel der Nacht, die Jahreszeiten, die Musik von Damien Rice, Fine Frenzy, Sophie Zelmani, Eskobar, Ray Lamontagne. Und Snow Patrol… »We’ll do it all/ Everything/ On our own/ We don’t need/ Anything/ Or anyone… If lay here/ If just le here/ Would you lie with me an just forget the world.« Wir haben uns zu diesen Worten geliebt. Waren in der Stadt und haben das Lied laut gesungen und uns dabei umarmt und geküßt. Bis die Leute uns anschauten, als wären wir verrückt geworden. Oder wie sie übermütige Kinder manchmal anschauten: kopfschüttelnd. Bis wir lachen mußten, über die Leute und über uns. Über etwas, das sich gut und richtig anfühlte und das vielleicht Verliebtheit war. Ich kann es nicht mehr sagen. Es gab andere Situationen, in denen sie mit allem auf uns losging, was ihr zur Verfügung stand. In denen sie schroff und zurückweisend war und ich in der Öffentlichkeit nicht meinen Arm um sie legen durfte. Wo sie mich mit den Augen ihrer Mutter ansah und sich schämte, daß die Leute sie mit mir sahen. Wegen ihrer Gefühle, die dann nicht sein durften. Weil sie jung war und ich alt. Wegen dem, was die Nachbarn denken könnten. Wegen ihrer Mutter, die sich niemals ein Gefühl erlaubte. Und ihrer Tochter schon gar nicht.

Mir gefielen die Filme, die ich damals sah: Lovesong für Bobby Long, Billy Elliot, High Art, Betty Blue, Lawn Dogs, Somersault und Winter Pasing. Es war die Zeit, in der ich Pferde stehlen von Per Petterson las und Wo der Fluß die Richtung wechselt von Mark Spragg. Der Schatten des Windes wurde veröffentlicht, das erste Buch von Carlos Ruiz Zafón, und man sah überall Menschen, die es lasen. Ich gehörte zu ihnen. Zuzeiten hatte ich ein kindliches Aussehen.

Es gab so etwas wie einen roten Faden, der mich mit der Welt verband. Einen komfortablen Platz, der nicht der eines Haustiers war. Es gab ein vertrautes Wesen, in diesem Fall jene junge Frau, für die die Dinge so radikal anders waren, daß wir keine gemeinsame Sprache fanden. Ein Ja war für sie kein Ja, ein Nein kein Nein. Sie konnte mich am Morgen herbeisehnen, begehren bis zum Schwindligwerden, und wenn ich am Abend dann bei ihr war, verachten und auf das Heftigste abwehren. Ein Versprechen war für sie etwas, das dem Moment gehörte und das keine Option auf die Zukunft darstellte. Man verspricht halt etwas, aber jeder weiß doch, daß das nichts bedeutet, daß man das nur so sagt, weil es in einem bestimmten Moment eben paßt… Mit ihren Worten bürgte sie für Empathie und Mitgefühl, die sie niemals in dem Maße aufbrachte, wie sie darüber sprach. Ihre Gefühle änderten sich im Viertelstundentakt, aber sie folgte jedem einzelnen mit der Ernsthaftigkeit einer Irren. Zeitweise waren da eine große Angst und Unsicherheit bei ihr zu spüren, die in krassem Gegensatz zu dem standen, was sie sagte. Und ich war mit Blindheit geschlagen, und mit Wünschen. Es gab Schwächen, auf meiner Seite. Diese Schwächen rührten von fehlenden Werkzeugen. Hatten zu tun mit Dingen, die ich nicht wußte. Mit dem Makel des Überlebens. Mit all den Beeinträchtigungen und Hemmnissen, die damit einhergingen. Die Schattenseiten meiner Wünsche sozusagen. Ich vertraute darauf, was sie sagte, mehr als meinen Gefühlen. Ich glaubte ihr. Ich glaubte! Was naheliegend war. Denn ich kannte es nicht anders. Als mißhandeltes und mißbrauchtes Kind glaubst du nie deinen Gefühlen. Du hast nur die Wahl, den Worten zu glauben, oder gar nicht. Du glaubst den Worten, immer wieder. Immer wieder glaubst du. Du glaubst, daß deine Eltern ehrlich sind und wahrhaftig und daß sie dich lieben und daß die Dinge sich zum Besseren wenden. Daß dein Vater nicht wieder zu dir kommt in der Nacht. Daß der schwarze Gummiknüppel nicht abermals deine Haut zum Platzen bringen wird. Daß dein Vater dich liebt. Weil deine Mutter sagt, daß es so ist. Du glaubst das, weil ihre Worte ehrlich und wahrhaftig klingen. Weil ihre Worte ausdrücken, daß sich alles zum Besseren wenden wird. Du glaubst das. Du glaubst und glaubst und glaubst! Auch später noch, wenn du kein Kind mehr bist, aber noch immer zehn, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Du kannst nämlich niemals älter werden, wenn du mißbraucht wurdest. Du glaubst, daß die Frau, die du liebst, so schön ist, wie sie sagt, daß sie es ist. Daß sie schöner ist, als sie es ist. Und daß du es nur noch nicht sehen kannst. Daß sie dich liebt. Daß sie niemals dein Herz brechen wird. Du glaubst, wie der Junge, der du damals warst. Wegen dieser Not, die in dir kein Ende nimmt. Denn wäre diese Not nicht gewesen, hätte ich viel früher gesehen, was ich bereits gesehen hatte.

Als Schriftsteller vertraue ich darauf, daß die Worte, wenn man sie mir sagt oder schreibt, genau das bedeuten, was sie aussagen. Ich werde niemals dein Herz brechen,… Das ist ein Versprechen. Der, dem ich es gebe, verläßt sich darauf, daß es mir ernst damit ist und keine Eintagsfliege. Daß ich mir der Verantwortung bewußt bin, wenn ich es gebe. Und für den Fall, daß ich wegen verschiedener Dinge, die sich in meinem Leben ereignen, dieses niemals aufgeben will, ich den Anderen um Verzeihung bitten muß. Denn falls ich das verpasse oder es mißlingt mir, habe ich sein Herz gebrochen.

Ihr vollständiger Satz lautete übrigens: Ich werde niemals dein Herz brechen, dafür ist es viel zu schön. Als sie es dann doch brach, tat es ihr nicht leid. Das konnte es auch nicht. Als sie Kind war, hatte es nie jemand zu ihr gesagt. Sie kannte es nicht besser. Die schrecklichen Dinge, die ihr zugestoßen waren. Und dann gab es niemanden außer mir, dem das leid tat. Sie kannte es nur von mir. Ich hatte es ihr gesagt. Aber das war nicht genug. Denn sie konnte es nicht annehmen. Sie wußte nicht, wie das geht. Und auch mit meinem schönen Herzen konnte sie nichts anfangen. Sie mußte es zerstören, nachdem sie es erkannte. Aber davor konnte sie etwas Schönes erkennen und sich für eine Weile daran erfreuen. Immerhin.

Es gab, vor ihren Versprechen, ihrem Verrat und ihren Ausreden, dem vorhersehbaren, unvorhersehbaren Riß, dem heute Phantomhaften ihrer Existenz, mit dem ich fertigzuwerden versuche, ihre Liebe, vielleicht. Und wenn schon nicht Liebe, so doch wenigstens eine Art von Zuneigung oder Sympathie, die von Liebe zeugt. Etwas das ganze Leben Zurückgehaltenes, das sie an ihrem Sterbebett irgend jemandem gestehen wird, der gerade da ist. Und das dann Liebe gewesen wäre. Etwas außerhalb ihrer uneingestandenen – und meiner eingestandenen – Bedürftigkeit und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, daß wir für eine gewisse Zeit zusammenblieben.

Ihre unsichere, warme Hand auf meinem Körper, auf meinem Geschlecht. Ihre geschlossenen Augen, die jede meiner Bewegungen beobachtete, wachsam, voller Begehren und Angst, während sie mich machen ließ, während ich ihre Beine auseinanderschob, sie streichelte, in sie eindrang. Und nachdem sich unsere Körper geliebt hatten, konnte sie mich nicht anschauen. Als wäre sie ein Kind, das mich gerne hinausgeschickt hätte. Oder das darauf wartete, daß ich von selbst ging. Weil dies etwas war, daß sie von irgendwoher kannte. Etwas, daß sie sich schon einmal gewünscht hatte. Früher, als sie ein Kind war.

Die Musik, über die ich oben spreche, ich hörte sie in der Zeit mit ihr. Ich hörte sie mit ihr. Die Bücher, wir lasen sie zusammen. Die Filme, wir sahen sie gemeinsam. Das, was es noch gab, neben der Musik, den Filmen und Büchern, das zwischen ihr und mir, der Glanz des Gemeinsamen. Auch wenn es mir heute schwer fällt, daran zu glauben, daß es das gab, dieses Gemeinsame. Daß es etwas anderes war als schwindelerregend. Daß es jemals wahr war. Jedoch nichts, an dem sich eine sichere Orientierung festmachen ließ. Vielmehr die aus der Kindheit stammende, unüberwindbare Verzweiflung, die wir miteinander teilten. Eine Verzweiflung, die uns daran hinderte, eine andere Geschichte zu leben als jene verworrene, die wir miteinander gelebt haben. Als wären wir zu jener Zeit andere gewesen als die, die wir hätten sein können. Als wären bestimmte Worte niemals über unsere Lippen gekommen. Als wären wir noch jene Kinder, mit ihren immer frischen Wunden, die sich damals nicht auf die Schienen gelegt hatten. Damals, als wir noch Opfer einer rohen und kaltblütigen, exklusiven und erschreckenden Brutalität waren. Als wir diese Brutalität noch nicht überlebt hatten, als eine völlig andere Schöpfung. Jene traurige und unnahbare, desolate und verachtete Schöpfung, die durch den Mißbrauchs geschaffen wird.

Diese fremde Schöpfung erscheint einem selbst übrigens nie fremd. Man durchschaut sie lange nicht. Oft durchschaut man sie nie. Auch Andere sehen nicht, was mit einem los ist. Auch nicht, wie sehr alles von dieser Schöpfung durchdrungen und erschüttert ist. So sehr, daß, wenn zwei solche Geschöpfe sich begegnen, sie sich sofort wiedererkennen. Es ist unerklärlich und hängt vielleicht mit den Wunden zusammen, mit ihrer Ähnlichkeit. Durch das, was in der Kindheit geschah des Rechtes beraubt, sich berühren zu lassen, erkennt man im Anderen das Eigenste: die Verletzung. Da ist jemand, der die Gabe hat, einen zu erfassen, mit einem einzigen Blick. Den man lieben und umarmen, mit dem man sein Begehrern entdecken und ausleben kann. Jemand, der einem ähnlich ist.

Auf beinahe unwiderstehliche Weise wird etwas in Gang gesetzt, das nur in einer Tragödie enden kann, weil jeder im Anderen etwas wiederfinden will, statt ihn zu finden. Ihn, diesen Anderen, zu entdecken, ihn zu erschließen, als wäre er ein fremder Kontinent. Beide müssen also arbeiten. Weil die Liebe, nach der man sich sehnt, der Kontrast zum Wiederfinden ist. Die Liebe ist also nur über den Preis von Arbeit zu haben. Man muß an den Wunden arbeiten. Beide müssen es. Um diese Liebe leben zu können, um sich frei fühlen zu können, muß man sich frei kämpfen von dem, was man im Anderen wiederfinden will. Man muß sich frei arbeiten, um sich für alle Gefühle frei fühlen zu können. Auch für die negativen, die sich hinter den Wunden und Narben der Kindheit verbergen und die sich oft in den Wünschen ausdrücken. Man muß die Arbeit an diesen Wunden und Narben mindestens so sehr lieben wie den Anderen. Man muß aufhören, sich und dem Anderen Geschichten über sich und seine Liebe zu erzählen, um ihn lieben zu können. Um auf eine Weise lieben zu können, die von den Worten, die über diese Liebe gemacht werden, nicht erfaßt wird. Einer Liebe die sich hinter den Worten, der Sprache verbirgt.

Als sie begriff, daß sie mich gar nicht zu lieben vermochte. Oder daß sie mich liebte, ohne die Voraussetzungen dafür zu erfüllen, nämlich für diese Liebe zu arbeiten. Daß sie wegen jener Ohnmacht, die aus ihrer Kindheit rührte, es nie vermocht hatte, jemanden zu lieben, zu keiner Zeit, weil sie nichts für das, was sie Liebe nannte, zu tun bereit war. Als sie glaubte, daß sie, weil sie ihre schlechten Gefühle ignoriert hatte, sich die guten Gefühle nur eingebildet hatte. Als sie deshalb in sich keinen Beweis dafür fand, daß sie liebte und glaubte, alles erfunden zu haben, für mich und für sich selbst. Als sie entdeckte, wie viele ihrer Worte, die sie mir gesagt hatte über ihre Gefühle für mich und das, was sie dachte über uns, lediglich der Tatsache geschuldet waren, daß sie mich brauchte, um nicht mehr so sehr unter ihrer Kindheit zu leiden. Bis auf einige Zärtlichkeiten im Dunkeln, für die sie nichts konnte, die über sie kamen, aus irgendeinem Schweigen in ihr. Zusammenhanglose Akkorde des Genießens, die keiner von uns fähig war, zu einer Symphonie zusammenzustellen, so unterschiedlich waren die Quellen, aus denen sie sich speisten.

Wie oft fühlte sie sich befriedigt und – zugleich beschämt, daß nur ich es war, der neben ihr lag, und keiner der schönen jungen Männer in ihrem Alter, mit denen sie tanzte und in die sich ständig verliebte. Bei denen sie womöglich das Gefühl hatte, sich dem Verpflichtenden der Nähe besser entziehen zu können. Denn Nähe hatte für sie etwas Bedrohliches. Dieses Bedrohliche korrespondierte mit ihrer Kindheit, es sprach Tag und Nacht. Es berichtete permanent, wie sie als Kind Nähe erfahren hatte: grenzverletzend, beraubend, also in Übergriffen. Sobald ich mich ihr näherte, erinnerte sich ihr Körper, daß er geopfert worden war. Sie konnte Nähe zwar zulassen, sie auch mehr oder weniger intensiv genießen. Aber nur wenn eine Tür in der Nähe war. Und diese Tür mußte geöffnet sein. Jemanden richtig zu lieben, sie wäre daran gestorben. Das muß für sie naheliegend gewesen sein. Denn sie war ja bereits einmal daran gestorben, an diesem Verwirrenden der Nähe. Daran, daß eine Tür verschlossen gewesen war. Das alles blieb undurchschaubar für sie.

Hinzu kam, daß es mir ähnlich erging. Nähe war – und ist – für mich mit Behinderungen und Widerständen, mit Empfindlichkeiten und enormen Hemmungen und Ängsten verbunden. Nur, im Gegensatz zu ihr, arbeitete ich daran. Wovon sie sich zusätzlich bedroht fühlte. Meine wachsende Verbindlichkeit schüchterte sie vollends ein. Ich habe noch im Ohr, wie oft sie sagte, daß sie sich klein fühle. Daß ich mit dem Einfluß, den ich auf sie hätte, Macht ausübte. Das war natürlich bloß dummes Gerede. Mein Einfluß ist keine Macht, die ich jemandem aufzwinge.

Als sie dies also begriff und sich klarmachte, daß sie mit alldem nicht fertigwerden konnte. Daß die Liebe etwas anderes war als die Worte, die sie darüber machte. Daß sie andere Antworten finden mußte, um andere Voraussetzungen für die Liebe zu schaffen. Was bedeutete, andere Fragen zu stellen, sich die eigenen Wunden anzusehen, statt ihnen sofort wieder zu entfliehen, sobald der Schmerz zu stark wurde. Als unleugbar wurde, daß das Bisherige nicht ausreichte, ging sie weg. Als wäre ich nicht mehr für sie als ein Versuch, irgend etwas Provisorisches. Immerhin wartete sie schon lange, wie ich heute weiß. Lag auf der Lauer. Wie ein Jäger im Wald. All diese jungen Männer, die ich bereits erwähnte. Ihre Verliebtheiten. Sie liebte mich womöglich, hoffte aber jeden Augenblick auf einen Anderen. Doch dieser nicht kam nicht. Oder sie konnte sich für keinen von ihnen entscheiden. Weil sie sich an mich gebunden fühlte. Oder weil sie Angst hatte, mich zu verlieren. Weil es ihr gefiel, daß ich sie so über alle Maßen begehrte. Es fiel ihr vermutlich schwer, dem Reiz des Begehrtwerdens zu entkommen. Selbst wenn der, der sie begehrte, nicht der war, von dem sie wünschte, begehrt zu werden. Und den sie dann, mehr oder weniger, gewähren ließ. Jedenfalls war eine Entscheidung notwendig geworden. Vielleicht wäre es richtig gewesen, etwas für ihre Liebe zu tun, von der sie beteuerte, daß sie sie für mich empfand. Den eigenen Schmerz auszuhalten. Stehenzubleiben. Aufzuhören, ihre Beziehung mit mir als etwas Vorläufiges und Behelfsmäßiges zu sehen. Mit ihren Verliebtheiten aufzuhören. Sich verantwortlich fühlen. Aber diese Entscheidung traf sie nicht. Statt dessen entschied sie, mich nicht mehr zu lieben. Eine Entscheidung, die sie vermutlich nicht leichten Herzens traf. Vielleicht mußte sie sie erbrechen. Keinen Freund mehr zu haben, keinen Liebhaber. Niemanden mehr, den sie mitten in der Nacht anrufen konnte, wenn sie traurig war bis in ihr innerstes Herz, um sich eine Geschichte vorlesen zu lassen. Keinen Partner mehr, der ihr in allen Dingen ihres Lebens zur Seite stand. Der bei ihr blieb, ganz gleich, mit was sie ankam oder wie sie sich aufführte. Nur noch aus Sehnsucht, geplatzten Wünschen und Angst zu bestehen. Aufzugeben weiterzugraben, nachzusehen, was da war, so unerträglich, so quälend: ein kleines, zehn Jahre altes Mädchen, daß nie von ihr abfiel, so erwachsen sie auch wurde.

Sie fühlte sich von mir in die Enge getrieben. Allein durch die Unerbittlichkeit, mit der ich auf die eigenen Wunden blickte. Wegen der Entschiedenheit, mit der ich über meinen benutzten und durch den Dreck gezogenen Kinderkörper sprach, den ich wie eine Schubkarre mit zersprengten Fleischresten vor mir hertrieb. Wort für Wort. Die Worte, die ich benutzte, um den Kinderkörper abzuwischen. Um ihn von alldem Schmutz zu reinigen. Um ihn wieder rein zu machen. Ihn heilig zu sprechen. Manchmal setzte ich bestimmte Wörter in mir in Klammern oder sparte sie ganz aus, so sehr fürchtete ich mich vor dem, was diese Wörter auslösen, wohin sie mich führen würden. Und dann schrieb ich sie doch. Als wollte ich die Welt mit ihnen auslöschen. Als wollte ich das ganz und gar Unmögliche erreichen: für mich einen Platz im Leben finden. Ich war hartnäckig. Ich bin es noch, trotz meiner großen Müdigkeit. Der Gedanken, das zurückgelassene Kind könnte doch wie eine Katze sein und sieben Leben haben. Ich will diesen Gedanken nicht vorschnell aufgeben. Ich weiß, ich werde enttäuscht werden. Aber erst, wenn ich enttäuscht wurde, wird es keine Hoffnung mehr geben. Erst dann werde ich ungetröstet sein.

Nein, sie hätte niemals darüber hinwegkommen können. Darüber, daß es geschah, als sie ein Kind war. Und darüber, daß alle geschlafen oder weggesehen haben, als es geschah. Daß man sie dort zurückgelassen hatte, in diesem Käfig voller Rasiermesser. Wie in einem schlecht zusammengeschnittenen Film, wo nichts einen richtigen Sinn ergibt. Doch genau dorthin hätte sie zurückkehren müssen. Zu ihrem reglosen, zurückgelassenen Körper. Zu diesem Maß an Schande, daß man weder rächen, noch vergeben konnte. Dorthin, wo sich ihre Geschichte vollzog. Statt zu ihrer nie endenden Bewegung, mit der sie den Schmerz unterdrückte. Während sie ein Leben lebte, das sie für ihres hielt. Eine Stimme hörte, die wie ihre eigene klang. Sich Geschichten erzählte, die von Leichtigkeit und vom Glück handelten. Davon, daß die Dinge in Ordnung waren, weil sie sich sagte, daß sie in Ordnung waren. Daß sie nicht ihr Körper sei, während ihr Körper nicht aufhörte, nach ihr zu brüllen. Weil sie in einer Welt lebte, in der es Engel gab die sie beschützten. Schutzgeister, zu denen sie betete. Affirmationen, die sie sich hundertfach am Tag vorsagte. Einen liebenden Gott, an den sie Verantwortung für sich abgeben konnte. Das ganze Zeug. Während es da genau vor ihr war, sie packte und beinahe zerbrach. Und sie immer schneller war als es.

Ich kann nicht sagen, worauf sich das stützt, was ich hier sage. Jedenfalls traf sie eine Entscheidung: sie ging weg. Sie tat dies mehrmals. Zuletzt am 20. Juni 2008, einem Freitag. An diesem Tag entschied sie, daß sie mich nicht mehr liebte. Daß zwischen ihr und mir keine Liebe mehr bestand. Übrigens ein herrlicher Sommertag. Ich trug Shorts, was mir heute unpassend vorkommt. Niemand sollte Shorts tragen, wenn er gerade getrennt wird. Der Körper sollte verhüllt sein. Das Gesicht maskiert. Das Herz gesichert, während es gebrochen wird. Man sollte ein dickes Buch vor sich auf dem Tisch liegen haben, um den Anderen damit aus der Wohnung zu prügeln. Vielleicht die Gesammelten Werke von Cioran: Nichts vermag unser Leben zu verändern, es sei denn das zunehmende Eindringen von Kräften, die es aufheben.

Als sie an jenem Freitag das letzte Mal ging, gab es einen Moment, wo ich sie töten wollte. Wegen dem, was sie sagte und dem, was schmerzhaft fehlte in dem, was sie sagte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich von dem Gefühl, sie töten zu wollen, überwältigt. Auch später noch, nachdem sie fort war, sobald ich an sie dachte, wenn der Schmerz stark genug war, glaubte ich, ich hätte sie unbedingt töten sollen. Auch wegen dem, was sie gesagt hatte. Wegen dieser Ungeheuerlichkeit, über die nicht sprechen will. Zwei Jahre lang ertrug ich den Gedanken nicht, ohne sie weiterzuleben. Allerdings ertrug ich den Gedanken, ich hätte sie töten sollen, ebensowenig.

Ich verstehe heute, daß es da etwas in ihrem Leben gab, das sie nicht sehen konnte, weil es ihr wegen eines inneren Verbotes nicht freistand, es zu sehen. Und was sie doch ständig sah, wenn sie mich anblickte. Das, was nicht sein durfte.

Ich habe sie danach nie wiedergesehen. Wir haben ein halbes Jahr später noch einmal miteinander telefoniert. Davor hatten wir uns einige Emails geschrieben. Der Grund waren Fristen in einer juristischen Angelegenheit, in der ich ihr seit dem Jahr 2004 aushalf. Ich war es, der sie anrief, den Kontakt wiederherstellte. Aus heutiger Sicht meinerseits ein Akt der Anständigkeit. Der Notwendigkeit geschuldet, ein Strafverfahren gegen sie zu verhindern. Jedenfalls etwas ohne Hintergedanken. Ich hatte nach dem Gespräch am Telefon durchaus den Eindruck, daß der Kontakt zwischen uns wiederbelebt werden könnte. Wir kannten uns seit zehn Jahren, waren lange befreundet gewesen und einige Jahre lang ein Paar. Auf meine Frage, wie sie das Gespräch erlebt habe, kamen solche Worte wie gut und positiv. An einem der nächsten Tag erhielt ich eine Email von ihr. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir schrieb. Nur, daß sie sich nach unserem Telefonat schlecht gefühlt hatte. Daß sie sich mir nicht gewachsen fühlte und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.

Im darauffolgenden Sommer, nachdem ich die juristische Angelegenheit in ihrem Sinne abgewickelt hatte, bat ich meine Freundin Tine, ihr ihre Briefe und Fotografien zurückzuschicken. Ich ließ ihr ausrichten, daß ich keine weitere Verbindung wünschte.

Letztendlich hat sie das, worin wir übereingekommen waren, unsere gemeinsamen Glaubenssätze und Regeln, all das, was wir durch Ausprobieren in guten und schlechten Tagen für uns als richtig und wahr erkannt hatten, unsere gemeinsame moralische Geschichte, wenn man so will, ausgerenkt wie ein Schläger einen Arm oder ein Bein ausrenkt. Sie hat den Vertrag, den wir für unser Leben beschlossen hatten, vor meinen Augen zerfetzt, weil sich, wie sie sagte, ihr Gefühl geändert hätte.

Was ich hier sage, muß angezweifelt werden. Denn ich weiß nicht, ob es wirklich unsere gemeinsamen Glaubenssätze und Regeln waren, ob es de facto etwas gab, indem wir übereingekommen waren. Den Vertrag, den sie geschlossen hatte, er hatte vielleicht nur für ihr eigenes Leben gegolten. Womöglich hatte er mit mir und mit meinem Leben gar nichts zu tun. Nur so läßt sich erklären, daß sie sich wenige Wochen bevor sich ihr Gefühl geändert hatte, dahingehend äußerte, daß ich der wichtigste Mensch in ihrem Leben sei und sie unbedingt mit mir befreundet bleiben wollte. Übrigens etwas, das sie drei Tage, bevor sie sich trennte, als wir telefonierten, wiederholte.

Tatsache war wohl, daß sich ihr Gefühl schon lange vorher geändert hatte. Daß sie mir schon lange etwas vormachte. Wobei es ihr gegenüber nicht konziliant ist, sondern nur konsequent, wenn ich sage, daß sie sich selbst etwas vormachte. Mag sein, sie wollte mich nicht verlieren, oder mir nicht wehtun. Wenn ich gute Tage habe, glaube ich, daß es so war, auch wenn ich ihre Motive nicht durchschaue. An den anderen Tagen bevorzuge ich die eher schlichte Erklärung meiner guten Freundin Dodo, die meint: daß manche Leute eben einfach Scheiße sind.

Ich dachte einmal, sie würde mein Leben retten. Wie jemand, der plötzlich im Leben auftaucht und der eine Laterne trägt und die bestehende Dunkelheit ausleuchtet. Das auftauchende Licht bedeutete, daß jemand von Außen kam. Daß es also ein Außen gab, ein Außerhalb der Höhle. Da brachte jemand Licht. Das konnte nur der Retter sein. Der Junge liebte seinen Retter. Das war nur natürlich. Ein kleiner Junge denkt so. Vor allem, wenn er in einer Höhle sitzt und nichts vom Licht weiß oder von einem Außen. Ich fühlte mich mit ihr verbunden. Ich zeigte ihr ein paar Dinge, die ich gut konnte. Die ich besser konnte als sie, weil ich deutlich älter war als sie und länger überlebt hatte. Weil ich Bücher schrieb und deshalb die Wahrheit erfinden konnte. Weil ich mich als den Menschen betrachtete, den Georges Bataille als eine Fliege hinter einer Scheibe beschrieb, und die Zeit, die er damit zubringt, gegen die Scheibe anzurennen, die menschlichste, weil aufständischste ist.

Manchmal sieht man die Dinge erst, nachdem sich das Licht geändert hat. So kann ich erst jetzt sehen, daß auch sie in einer Höhle lebte. Daß sie nur zufällig mit ihrer Laterne bei mir vorbeigekommen war. Auf der Suche nach Licht. Dann war ich mit ihr in ihre Höhle gegangen. Es war hell dort. Wegen der Laterne, die sie hatte. Aber es war nur eine weitere Höhle. Irgendwann wußte ich es wohl. So wie man etwas weiß, ohne es zu wissen. Ich spürte, daß wir gemeinsam ein Licht finden mußten, das nicht von einer Laterne stammte. Aber sie wußte es noch nicht. Sie hielt das Licht ihrer Laterne für das Licht. Sie richtete ihre Höhle immer wieder neu ein. Sagte, daß sie frei sein, sich frei fühlen wollte. Allerdings ohne sich innerlich zu verpflichten, ihre eigene Geschichte zu erkennen und zu erhellen. Ich redete oft auf sie ein. Es kam zu Verstimmungen, Streitereien, den gewöhnlichen Machtspielen, mit ihren primitiven Versöhnungen. Mehrmals betrachtete sie ihre Laterne und weinte. Danach war sie jedesmal entschlossen, es anders zu machen, besser, richtig. Mir weiter zu vertrauen. Einen Psychologen aufzusuchen. Etwa um herauszufinden, weshalb sie nicht sagte, daß wir uns geliebt oder daß wir zusammen geschlafen hatten, sondern: als du dich in mir befriedigt hast. Nicht so eine Frau zu werden wie ihre Mutter, die mit einer ähnlichen Laterne in einer der Nachbarhöhlen lebte. Aber dann wollte sie doch nicht von dort weg. Zumindest nicht mit mir.

Als sie von mir fortging, hat sie ihre Höhle schließlich verlassen. Das war unvermeidlich. Sie hat mich dort zurückgelassen. Man kann es vielleicht so sagen: sie kam mit einer Laterne vorbei, die ich für das Licht hielt. Sie lockte mich in ihre Höhle, ohne zu wissen, was sie tat. Ohne die Folgen abzusehen. Sie stellte fest, daß es sich gut anfühlte, nicht mehr allein zu sein. Ihre Höhle mit mir einzurichten. Da ich in meiner Höhle lange allein gewesen war, fand ich ihre Gesellschaft angenehm. Ich gab mich ihr hin. Ich begann, nach und nach, meine innere Höhlenexistenz abzustreifen und menschlicher zu werden. Begann, mich wohl zu fühlen. Begann, sie zu lieben. Vielleicht deshalb, weil ich mich wohlfühlte. Weil ich ein kleiner Junge war, der sich nicht mehr schutzlos wähnte. Als läge er mit einem Mädchen vor einem Kaminfeuer, während draußen der eisige Nordwind den Schnee gegen die Fenster peitschte. Doch da war immer noch das Licht ihrer Laterne, das nicht das Licht war. Und ihre Höhle, die nicht das Außen war.

Wenn ich sie ansah, sah ich immer zuerst das Kind, über das sie nicht hinwegkam. Ich sah, was mit diesem Kind los war und was man ihm angetan hatte. Im Gegensatz zu ihr, die nicht wissen durfte, wußte ich immer alles. Wie es gelitten hatte und was es durchmachen mußte und daß es ganz allein war, als es um sein Leben kämpfte. Auch deshalb bin ich geblieben. Dieses Kind war so besonders, daß man nur bleiben konnte. Man mußte es einfach beschützen, ihm beistehen und es lieben. So sehr war es verwundet. Die meisten dieser Wunden kannte ich von mir. Von meiner Arbeit an ihnen. Ich hatte sie bewußt wiedererlebt. Doch längst nicht alle habe ich aufgelöst.

Die Erfahrung der Liebe für den kleinen Jungen in mir ist fragmentarisch. Ich würde ihn gerne so zu lieben vermögen, wie ich das Kind in ihr geliebt habe. Jenes unfaßlich schöne Kind, über das ich eine Geschichte schrieb und ihr den Titel: Das fliegende Kind gab.

Vielleicht ist sie in ihre Höhle zurückgekehrt. Ich jedenfalls bin nicht mehr dort. Ich bin nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Ich bin auch nicht in meine alte Höhle zurückgekrochen. Obwohl ich eingestehe, daß ich verzweifelt nach ihr gesucht habe. Nach diesem Platz, den ich kannte. Aber ich bin auch nicht an dem Ort, wo das Licht ist. Momentan bin ich ohne ein Zuhause. Und es gibt niemanden mit einer Laterne. Doch der Winter ist vorüber. Obwohl ich das Licht nie gesehen habe, weiß ich nun, daß es nicht das Licht einer Laterne ist. Und ich weiß von den anderen Höhlen. Von den Anderen darin. Ich habe ein anderes Bewußtsein meiner Stärken und Einschränkungen. So ist mir drastisch klar geworden, daß ich mich, genau wegen dieser Stärken und Einschränkungen, in sehr große Gefahr begebe, sobald ich eine Liebesbeziehung eingehe. Ich denke, daß es vielen Menschen, die als Kind mißbraucht und mißhandelt wurden, ähnlich geht. Man darf sich hier keiner Täuschung hingeben: dieser äußerste Schmerz von damals wird von der Zeit nicht verändert. Wir können leicht wieder Opfer werden. Selbst wenn wir nur Opfer einer Trennung werden, die wir überleben müssen. Jedes Mal, wenn wir lieben, gelangen wir dorthin. Zu lieben, das ist für uns eine Sache auf Leben und Tod.

In einer früheren Fassung dieses Textes schrieb ich an dieser Stelle, daß ich ihr verziehen hätte. Das war eine törichte Behauptung. Sie ließe sich nur aufrechterhalten, wenn ich meine Wut und meine Empörung unterdrückte. Ich habe ihr nicht verziehen, daß sie unsere Beziehung nicht geschützt hat. Ihre Unaufrichtigkeit und den Vertrauensmißbrauch. Ihre scheußliche Maskerade, hinter der sich ohne mein Wissen eine völlig andere, eine geheime Geschichte abspielte. Davon abgesehen, daß ich mich nicht entscheiden könnte, ob ich ihr verzeihen soll oder ihr die Sachen, um die es hier geht, steht der Widerstand, ihr verzeihen zu wollen, an erster Stelle. Ich weigere mich, ihr zu verzeihen. Überhaupt weigere ich mich, mich mit der Idee des Verzeihens zu arrangieren. Verzeihen ist etwas, das mir schon als Kind nicht guttat. Damals tat ich es, weil man es von mir erwartete. Um nicht die Illusion der Liebe zu verlieren. Noch einmal zu versuchen, etwas Unverzeihliches zu verzeihen. Diese Anstrengung wäre zuviel für mich.

Ich sehe uns beide zwei Jahre zuvor auf einer Brücke stehen. Es ist Nacht. Der Fluß unter uns schimmert im Mondlicht. Ich zerreiße die Aufzeichnungen, die ich während einer Trennung von ihr geschrieben habe. Ich führe mir ihre guten Seiten vor Augen. Ich gebe uns eine weitere Chance. Sie sieht mich ernst an. Ich weiß, wie sehr ich dich verletzt habe. Es wird nicht wieder passieren. Wir werden vielleicht nicht immer ein Paar sein. Aber wir werden Freunde bleiben, egal was kommt. Ich verspreche dir, daß ich dich nicht noch einmal verlassen werde. Ich habe mich weiterentwickelt. Auf dieser Brücke glaube ich ihr. Ich glaube ihr, daß sie ihr Versprechen nicht bricht, wenn es ihr unbequem würde. Ich glaubte ihr, obwohl sie es bereits mehr als einmal getan hatte. Ich war gefesselt von ihrem Geschwätz. Von meinem Wunsch, ihr vertrauen zu wollen. Ich war komplett verrückt. Wie damals bei meinem Vater, als er zu mir sagte, daß er mich in Ruhe lassen würde. Alles sprach dagegen.

Daß sie mich verlassen hat, ist letztendlich unerheblich. Sie war nicht mein Leben, auch wenn sie es zum Einsturz brachte. Ich habe ihr alles gegeben, und sie hat alles genommen. Danach ist sie gegangen. Es ist so schrecklich banal, wenn ich das hier in zwei Sätzen sage. Aber es ist die Wahrheit. Das, was bleibt. Es ist so, wie ich es vor Jahren im Hagakure gelesen habe: Was wirklich zählt, ist das Ende der Dinge.

Meine Verzweiflung über die stattgefundene Zerstückelung ist grell, periodisch und schwerverständlich. Sogar für mich selbst. Ich durchschaue nicht wirklich, was gerade mit mir geschieht. Eine Art Entäußerung. Aber authentisch. Ich fühle mich um Jahre gealtert. Als würde mein Dasein mich kränken. Es gibt keine Lösung für diese Erniedrigung, keine andere Vernunft als meine eigene, die ich noch akzeptieren muß. Der Bruch, der entstanden ist, läßt keine Übereinkunft, keine beherzte Versöhnung mehr zu. Wobei mir durchaus klar ist, daß wir ohne einander von keinerlei Bedeutung sind. Dennoch ist jede Komplizenschaft mit ihr ausgeschlossen. Das ist niemals einfach, weil es ein bestimmtes Denken von mir erfordert. Eine Strenge im Denken, die sich jeder Versuchung widersetzt. Das bedeutet auch, daß ich der Versuchung des Hasses und der Verachtung für sie entschlossen gegenübertrete, ohne dabei die durch sie entstandene Verletzung preiszugeben. Diese Verletzung, die durch ihren Vertrauensbruch entstandene Wunde, schmerzt. Sie ist das Schlimmste überhaupt. Auch, weil durch sie eine alte, in der Kindheit entstandene Wunde, die noch nicht richtig verheilt war, neu aufgebrochen ist. Der Wundschmerz nimmt weiter zu, je mehr Zeit vergeht. Und der Schmerz verändert mich. Alle Wege, ihm zu entfliehen, sind versperrt. Ich bin gezwungen, ihm in jedem Moment zu begegnen. Ohne ihm nachzugeben. Ohne auszuweichen. Die Veränderung durch ihn zu akzeptieren.

Mit dem Abstand, den ich heute zu den Dingen einnehme, ist es unwahrscheinlich, daß ich ihr jemals wieder vertrauen werde. Ich will nicht, daß sie mir wieder zu nahe kommt. Daß wir einander noch einmal so vertraut werden, wie wir es waren. Ich achte peinlich darauf, ihr Schweigen nicht zu durchbrechen, die vorhandene, durch sie initiierte Distanz nicht zu vereiteln.

Mit jedem Wort, das ich schreibe, finde ich mich mehr damit ab, daß die Dinge so sind, wie sie es nun einmal sind. Wort für Wort lösche ich aus, was war. Auch, was ich an ihr liebte. Oder die Idee, daß ich ihr Dankbarkeit schulde. Ich weiß, daß es gut war, daß ich sie nicht getötet habe. Ich weiß, daß ich mein Leben rettete, weil ich sie liebte. Und daß ich es ein weiteres Mal rettete, indem ich realisierte, daß mich ihr Verhalten beschädigt und mein Leben beeinträchtigt hat. Als ich mir zugestand, sie aus genau diesem Grund nicht mehr zu lieben. Für beides schulde ich mir Dankbarkeit.

Weil ich liebte, weiß ich, daß ich mich weigern muß, die Dinge anders zu sehen, als sie es sind. Ich muß dies nicht weiter begründen. Was stattgefunden hat, war eine unverzeihliche Kränkung, eine Roheit, die jede, in der Vergangenheit bestandene Vertrautheit zwischen ihr und mir konterkariert. Die Wiederholung der Erfahrung, daß Liebe verletzt. Gewiß könnte ich nachsichtig den Altersunterschied anführen. In diesem Fall betrug er fünfundzwanzig Jahre. Andererseits ist sich mitfühlend und anständig verhalten nicht unter allen Umständen eine Frage des Alters. Selbst Kinder vermögen dies. Sogar wenn die Umstände ihres Lebens bitter sind und ihre Geschichte schrecklich. Was nahelegt, daß eine Frau von sechsundzwanzig Jahren, die ein Psychologiestudium absolviert hat, hierzu imstande sein könnte. Aber vielleicht täusche ich mich auch, was das angeht. Man hat mir von sogenannten blinden Flecken berichtet, Teilen des Ichs oder Selbst, die von der jeweiligen Person nicht wahrgenommen werden. Was wohl identisch ist mit dem Eisbergmodell, über das ich einmal in einem Psychologischen Lehrbuch las. Wenn wir uns unsere Handlungsmotive als Eisberg vorstellen, können wir nur die Spitze dieses Eisbergs erkennen. Das meiste findet also unter Wasser statt. Wobei ich mich schon die ganze Zeit frage, welche Erklärungen es für fehlende Rücksicht und normale Anständigkeit es wohl gab, bevor die Psychologie hierfür Modelle erfand? Hemingway war übrigens der Ansicht, daß es ausreiche, wenn ein Achtel einer Romanfigur über Wasser zu erkennen sei, um sich Klarheit über den Rest zu verschaffen. Aber wer von uns könnte sich selbst wohl so beschreiben, wie Hemingway eine seiner Romanfiguren. Zumal Hemingway jemand war, der auch unter Wasser sehen konnte.

Wenn ich dorthin schaue, an jenen geheimen Ort in mir, sehe ich, daß das Kind in mir gewachsen ist. Ich meine das emotional. Ich konnte seinen Abstand zu dem Erwachsenen, der ich bin, verringern. Die Begegnung mit ihr hat sicher genauso dazu beigetragen wie mein unbewußter Wunsch, diese Synthese herzustellen. Durch die Trennung wurde hier nichts annulliert. Ich wurde nur, insgesamt, in diesem Prozeß angehalten.

Als ob ich etwas in mir Gewicht und Wert gebe, lerne ich allmählich mit dem Schmerz zu denken. Das ist meine Art, Frieden zu schließen. Eine Annäherung an das Leben wiederzufinden. Gewiß wird es neue Einsichten geben. Ausblicke, ein Außen, vielleicht. Die Dinge werden wieder Geschmack bekommen. Ich werde von neuem Freude empfinden. Selbst wenn ich all das erfinden müßte. Bis es soweit ist, beobachte ich das, was mich umgibt. Bewege mich, als wüßte ich nichts. Schreibe. Um nicht zu sterben. Und stelle mir Fragen: Wie fühlen sich ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge, wenn sie sexuell mißbraucht werden? Wie fühlen sich dieses Mädchen und dieser Junge, wenn sie Erwachsene sind? Wenn sie zu lieben versuchen? Mit ihren, in der Kindheit ausgebeuteten Körpern. Mit ihren widersprüchlichen Emotionen. Mit ihrer unauflösbaren Verwirrung. Noch gefangen in der kindlichen Situation. In der Verleugnung der Wahrheit. Mit diesem unstillbaren Verlangen nach Selbstbestimmung und Freiheit.

10. März – 23. März 2010
© RW; Stigmata; März 2010

1 Kommentar:

  1. Werter Vizekonsul,
    lange nicht, noch nie vielleicht, las ich etwas, das mich ohne Umweg im Tiefsten so berührt hat.
    Danke für die Worte, Bilder, die Offenheit.
    Den Schmerz, den geteilten.
    eva

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