Sonntag, 26. August 2012

Marie und der Mann vom Strand


Eines Morgens, ich war früh aufgestanden, sind Sie mir begegnet. Als die Sonne aufging, war ich bereits am Strand und hielt dort nach Ihnen Ausschau. Es war noch kühl. Und ich war glücklich. Und der Himmel war weit, weiter als alles.

Ich sehe Sie. Sie stehen auf und gehen einige Schritte aufs Meer zu. Dort betrachten Sie aufmerksam die Wellen. Und dann, für einen Moment, wirken Sie konzentriert und überhaupt nicht mehr betrunken.
Und ich sehe: Sie warten noch, Sie wissen nicht worauf. Und dann betreten Sie das Meer wie einen Raum und laufen lange hinein. Eine große Welle kommt, nimmt Sie, wirbelt Sie nach oben und läßt Ihren Körper kurz in der Luft tanzen. Es sieht aus, als versuchten Sie die Welle hinaufzuklettern. Und dann schlägt Ihr Körper schwer auf das Wasser. Unbeeindruckt davon, gehen Sie weiter ins Meer hinein. Und dann gehen Sie noch ein Stück weiter. Dabei bewegen Sie Ihren Körper, als gehörte er einem anderen. Und schließlich verläßt diesen zwar zu Ihnen gehörenden, aber Ihnen doch völlig fremd vorkommenden Körper die Kraft. Und dann lassen Sie sich widerstandslos zurücktreiben. Danach sitzen Sie am Rand des Wassers, ein einziger schwarzer Schatten, inmitten dieser Lichtfülle.
Ich sehe, daß Sie angestrengt auf Ihren Körper hören, als ob Sie versuchten, eine Liste der Schmerzen aufzustellen, unter denen er leiden müßte, nachdem das Meer ihn an den Strand zurückgeworfen hat. Doch Ihr Körper bleibt weiter stumm. Und nach einer Weile kriechen Sie auf allen Vieren über den Strand in Richtung der Whiskyflaschen, die Sie dort liegengelassen haben. Als Sie sie erreichen, zeigt sich so etwas wie Freude in Ihrem verwüsteten Gesicht. Und ich sehe: Sie sind erleichtert. Mehr noch, durch das Wiederfinden der Whiskyflaschen stellt sich ein großes Glücksgefühl bei Ihnen ein. Ihre Augen beginnen zu glänzen. Überhaupt steht der Ausdruck Ihres Gesichts, in dem Moment, als Sie die Flaschen wiederfinden, in einem ergreifenden Gegensatz zu Ihrem Körper, der unentwegt zittert. Dann, während Sie die eine Flasche in großen Schlucken leeren, zeigt Ihr Körper, der abwechselnd über den Stand kriecht und taumelt, längst das ganze Ausmaß seiner Zerstörung.
Mit einer bemerkenswerten Ausdauer trinken Sie sich in Richtung auf ein wie auch immer beschaffenes Ende. Womöglich wissen Sie das längst. Denkbar ist auch, daß Sie sich gleichzeitig diesem Ende entgegenstellen. Wenn man Sie genau beobachtet, bemerkt man, daß Sie keine Mühen scheuen, dieses Ende unentwegt hinauszuzögern. Sie werden sich wahrscheinlich fragen, wann Ihr Körper endlich aufgibt, die anhaltenden Bilder von etwas beherbergen zu wollen, über das keiner etwas Genaues weiß, auch wenn alle darüber sprechen: Bilder von einem großen Unglück vielleicht.
Dann beginnen Sie laut zu reden, mit niemandem. Ich kann nicht verstehen, was Sie sagen. Ich nähere mich Ihnen noch weiter. Sie bemerken mich nicht. Sie bemerken gar nichts. Ich könnte mich unmittelbar neben Ihnen aufhalten, ohne daß es Ihnen auffiele.
Erneut sagen Sie etwas, Sie sagen es in den Sand. Sie treten nach dem Gesagten, wie man nach einem Hund tritt. Dann lachen Sie kurz auf. Ihr Lachen hört sich an, als ob ein Tier schreit. Und dann beginnen Sie zu weinen. Unter Tränen begraben Sie die andere Whiskyflasche im Sand.
Danach stehen Sie langsam auf und entfernen sich rückwärtsgehend vom Meer. Und Sie weinen noch immer. Und gelegentlich zögern Sie. Und dann bleiben Sie stehen. Vielleicht wollen Sie sich gar nicht vom Meer entfernen, wegen seiner Schönheit. Oder weil Sie es zu sehr lieben. Vielleicht wollen Sie immer in seiner Nähe bleiben, um dort zu trinken. Und doch entfernen Sie sich heute, als ob Sie sich nur so daran hindern könnten, am Meer zu trinken.
Und an diesem Nachmittag scheitern Sie. Denn wenig später sehe ich Sie bereits zurückkehren. Sie graben die Whiskyflasche aus. Sie trinken hastig. Sie lachen laut. Und Sie sprechen. Sie sagen etwas, zu niemandem. Und Sie lachen erneut. Und dann bringt Sie Ihr eigenes Lachen so sehr aus der Fassung, daß Sie laut aufschreien. Danach lassen Sie sich in den Sand fallen. Und dann starren Sie auf das Meer. Und Sie trinken weiter.
Später, als die ersten Menschen zurückkommen, sitzen Sie noch am Strand, ganz nah am Meer, mit Blick auf die weite Ebene des Wassers.
Dann sehe ich die Kinder. Ich sehe, wie die Kinder Sie betrachten, mit dieser sonderbaren Ungeduld, die ihnen eigen ist.
Sie sind ein Ereignis für diese Kinder, so einen wie Sie haben sie noch niemals zuvor gesehen. Mit angehaltener Spannung nähern sie sich Ihnen, einige wagen sich so weit vor, daß sie Sie berühren könnten. Doch die Erwachsenen sind zu sehen, ihre Leute, die Mütter und Väter, Verwandte, die die Kinder beaufsichtigen und sie von Ihnen zurückrufen, während sie selbst sich absichtlich von Ihnen abwenden. Von alldem bleiben Sie unberührt.
Ich sehe Sie dort sitzen, in der Nähe des Meeres. Sie trinken, das ist alles, was man sagen kann. Sie trinken, bis die Flasche leer ist. Und danach sitzen Sie immer noch reglos vorm Meer.
Noch bei Einbruch der Dämmerung sitzen Sie dort, in derselben Körperhaltung wie am Mittag, völlig unbeweglich. Sie starren aufs Meer, auf den sich verändernden Himmel. Sie schauen. Sie warten. Und als sich im Vorübergehen für einen Moment unsere Blicke begegnen, spüre ich Ihren Schmerz so stark, daß mir schwindlig davon wird.
In dieser Nacht träume ich von Ihnen wie von einem Verschwundenen.

Seit ich Sie im Amerikanischen Hospital, wo ich meine Mutter besuchte, zum ersten Mal gesehen habe, war ich jeden Morgen am Strand, um Sie zu beobachten. Niemals sprachen Sie mit jemandem. Sie sind wie ich: Sie sprechen mit keinem.
Schon vom ersten Tag an redet man über Sie. Denn es ist wahr: Sie sind ein Mann, der auffällt. Man kennt Sie, man kennt den Fotografen. Man kennt Ihre Bilder. Vor allem erinnert man sich an die letzten Serien Ihrer Bilder, die aus Laand, diese schrecklichen Bilder, die plötzlich in ihrer aller Leben waren. Auch, daß man erstaunt darüber war, fassungslos, wie erstarrt, als man bemerkte, wie sehr sich diese Bilder verändert hatten, als wären Sie beim Fotografieren in einen Abgrund gestürzt. Etwas, das sich bereits in früheren Fotografien angekündigt hatte, ließ sich nicht länger verbergen, es hatte sich in den Vordergrund gedrängt und die Verhältnisse von Schwarz und Weiß verschoben. Unablässig erzählte es von einer bitteren Nacht, in der ein unbegrenzter Blick durch den Tod regelrecht erzwungen worden war. Es gab kein Darüberhinaus mehr, um diese Maßlosigkeit zum Verschwinden zu bringen. Die Zeitungen waren voll mit Ihren Bildern dieses Abgrunds. Ihre Bilder des Krieges in Laand erregten Aufsehen. Sicher sprach man auf der ganzen Welt von nichts anderem mehr. Diese Bilder könnten an nichts mehr gemessen werden, was man kenne, sie würden alles überschreiten, sagte man. Sogar die Bilder aus den Nazilagern wurden als Vergleich herangezogen. Schließlich zeigte man Ihre Bilder im Fernsehen, auf allen Kanälen sprach man stundenlang davon. Man sagte, es würde sich um Bilder handeln, die vor nichts mehr haltmachten, Bilder, die aus einer Welt stammten, die vor nichts mehr haltmachte. Man versuchte auch, diese Bilder abzuwehren, sie zu begrenzen. Instinktiv weigerte man sich zu glauben, daß die auf Ihren Fotografien abgebildete Welt mit der eigenen Welt in Verbindung stand. Gleichzeitig wußte man, daß man rein gar nichts hatte, um die einzigartige Wahrheit dieser Bilder zurückzuweisen. Als sicher galt irgendwann nur dies: man würde diese Bilder nie wieder loswerden. Und so sehr man auch unausgesetzt nach passenden Worten für Ihre Bilder suchte, entweder um ihnen einen Platz in der eigenen Welt zu verschaffen, oder ihnen diesen Einlaß zu verwehren, fand man nichts mehr. Denn es war so, daß die Worte, die man kannte, nicht mehr zu den Bildern paßten, die man sah. Und am Ende einigte man sich darauf, keine Worte zu haben für Ihre Bilder. Auch nicht für das, was von Ihnen fotografiert worden war. Auch nicht für Sie.
Und dann sagte es jemand: daß Sie gestorben sein müßten, um solche Bilder machen zu können.
Seitdem haben die Leute eine gewisse Vorstellung davon, was es bedeutet, außer sich zu sein und den Vorrang der Person aufzugeben für etwas Ähnliches. Und daß es möglich ist, sich von sich selbst zu lösen, ohne sich dabei vollends zu verlieren. Sie haben es ihnen vorgeführt, zuerst mit Ihren Bildern. Und dann mit Ihrer Ankunft.
Und die Leute sagen:
– Der Mann vom Strand.
– Daß er einer von uns ist, das ist kaum vorstellbar.
– Daß er einmal ein normales Leben geführt hat wie Sie und ich, nicht auszudenken.
– Und jetzt ist er aus dem Leben herausgefallen, keiner weiß warum.
– Schauen Sie ihn sich an, ein verdammtes Wrack.
– Vielleicht ist es von einem zum anderen Tag geschehen, ohne jeden Grund.
– Oder es war nichts, bestenfalls eine Kleinigkeit, die dazu führte, etwas ganz und gar Unbedeutendes.
– Warum hat er sich dafür entschieden, hierher zu kommen, dieser Mann.
– Die Küste ist lang, warum ist er nicht in die nächste Stadt gegangen.
Was mit Ihnen geschehen ist, die Leute interessieren sich dafür. Man erkundigt sich, stellt Fragen. Und schon vermuten die Leute Verschiedenes. Etwa, daß etwas Ihr altes Leben ausgelöscht habe. Und daß Sie den Ort, an dem Ihr altes Leben stattgefunden hätte, zerstört haben, um nicht mehr dorthin zurückkehren zu müssen. Anschließend könnten Sie nach Talassa gekommen sein, um zu vergessen. Dennoch: es wäre Ihnen nicht gelungen, sich zu entkommen. Immerhin sei das Gedächtnis kein Spiegel, auf dem sich die Dinge verflüchtigen, sobald man sich abwende. Die Welt der Erinnerungen sei dauerhaft, egal, ob und was Sie versucht hätten zurückzulassen. Sie seien einer, der sich davongemacht habe, vielleicht nach einem Verbrechen oder nach einem Unglück, etwas, das von Ihnen selbst verschuldet worden sei. Der Schmerz halte Sie noch in der Welt, sonst halte Sie nichts mehr in der Welt.
Und die Leute sagen:
– Niemals wird er diesen Schmerz aufgeben, so einen unerhörten, grauenhaften Schmerz über etwas abschließend Schreckliches.
Einer nennt dieses Schreckliche dann beim Namen.
– Der Mord an einem Kind und der Selbstmord einer Frau.
Es habe in den Zeitungen gestanden, im vergangenen Jahr, um die Weihnachtszeit.
Man müsse sich noch daran erinnern können, an diese Geschichte.
Die Frau habe zuerst das Kind und dann sich selbst umgebracht.
– Eine abscheuliche Sache, sein Kind zu töten.
– Wie groß die Not dieser Frau gewesen sein muß, unvorstellbar groß.
– Manche Frauen in Laand töten ihre Kinder, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen.
– Trotzdem, das eigene Kind zu töten, es bleibt eine abscheuliche Sache.
Einige nennen Sie bereits den toten Mann vom Strand.
– Ein Mann in Ketten, am Ort des Todes.
Andere finden durchaus, daß Sie dem Fremdenverkehr schaden werden.
– Zuerst der Krieg und jetzt dieser Mann.
Ein paar Leute gibt es, die sich um Sie sorgen, wenn Sie mitten am Tag betrunken durch die Straßen der Stadt irren.
Und die Leute sagen:
– Er verliert öfter das Bewußtsein und liegt dann leblos am Strand.
– Manchmal ist es so, als ob er in sich zusammenfällt, dann sitzt er am Strand, mit einem starr auf das Meer gerichteten Blick.
– Und am nächsten Tag redet er ohne Unterbrechung, atemlos, wirres Zeug, mit einer Stimme, die seltsam leiert.
– Dann spricht er wildfremde Leute an, vor allem Kinder.
– Wir müssen die Kinder vor ihm schützen.
– Nein, die Kinder haben keine Angst vor ihm.
– Für die Kinder ist er eine Sensation, ein solcher Mann.
– Manche haben auch Mitleid mit ihm.
Und andere haben Vorahnungen. Etwa die, Sie könnten einen Unfall erleiden, indem Sie von den Kais betrunken ins Meer stürzen. Auch, daß Sie ins Meer gehen könnten, absichtlich. Jemand sagt es: Selbstmord.
Die Dinge in Ihnen erregen Aufsehen, während sie sich vollbringen, das ist immer alles, was man weiß. Und keiner, auch Sie selbst nicht, können das Ausmaß dessen, was sich in Ihnen hervorbringt, auch nur im Entferntesten ermessen. Ihre Wirkung auf die Leute hier ist mindestens so aufsehenerregend wie Sie selbst.
Sie hingegen können nicht anders, als außer acht zu lassen, was die Leute über Sie denken und reden. Wenn Sie sich stundenlang am Strand aufhalten, um mit Ihren Blicken das Meer nach etwas abzusuchen, von dem allein Sie eine genaue Kenntnis haben, und dabei weinen, schreien oder laut mit sich selbst sprechen, erfordert das Ihre gesamte Aufmerksamkeit. Und dann ist es Ihnen egal, wie man über Sie spricht, oder daß Ihre Schreie durch die Straßen von Talassa ziehen und alle erschrecken. Würde man Sie in der Stadt darauf ansprechen, wüßten Sie wahrscheinlich nicht, was man von Ihnen wollte. Sie würden abwehrend den Kopf schütteln und sich abwenden und erneut den Weg zum Strand einschlagen. Und dabei gäbe es gewiß noch etwas in Ihnen, das sich zur selben Zeit wünscht, Sie wären angesehen bei den Leuten. Etwas, das zumindest das Mitgefühl der Leute und vielleicht ihre Nachsicht erhofft. Doch Sie haben jede Kenntnis davon verloren. Und so ist es Ihnen gleichgültig, ob die Leute Mitgefühl für Sie aufbringen oder nachsichtig mit Ihnen sind, oder ob sie Sie verstehen oder nicht, das alles ist für Sie kaum noch von Interesse. Gleichsam würden Sie darauf bestehen, daß die Dinge, von denen Sie befallen sind, das unbedingte Recht hätten, sich auszuwirken.
– Er ist ein Verlorener, er ist für uns verloren, lassen wir ihn, sagt jemand über Sie.
Doch ich will nicht, daß Sie für uns verloren sind. Und wenn Sie für uns nicht verloren sein sollen, muß jemand Sie sehen und schön finden. Warum nicht ich?

Am Morgen sind nur wenige Menschen am Strand unterwegs. Einige führen ihre Hunde aus. Andere laufen ihre tägliche Strecke ab. Und das Licht ist wie manchmal um diese Tageszeit. Aus der Entfernung sehe ich Sie. Sie wirken wie jemand, der etwas verloren hat und angestrengt danach sucht. Gleich darauf, als ich näherkomme, bemerke ich, daß Sie lediglich große Steine einsammeln und sie in Ihrem Rucksack verstauen. Ihre Bewegungen sind auffallend langsam. Ihr Gesicht ist verzerrt, Schmerz und Anspannung sind darin zu erkennen. Mehrere Male unterbrechen Sie sich, Sie schütteln den Kopf und schlagen die Hände vor Ihr Gesicht. Und nach einer Weile lassen Sie Ihre Hände wieder fallen, stehen da, schauen aufs Meer, bis es sich wiederholt, bis nichts mehr geschieht, außer daß die Zeit vergeht und Sie aufs Meer blicken und versuchen zu vergessen.
Dann, nachdem weiter Zeit vergeht, beginnen Sie aufgeregt zu gehen. Sie bewegen die Arme, ähnlich einem Seiltänzer, der sich in großer Höhe im Gleichgewicht hält. Schon laufen Sie los, zuerst langsam, dann schneller. Sie schauen sich mehrere Male um, heben abwehrend die Hände nach oben, laufen noch schneller und entfernen sich rasch, bis ich Sie kaum noch sehen kann. Und schon kommen Sie wieder zurück und laufen in die entgegengesetzte Richtung und steigern das Tempo Ihrer Schritte noch. Erneut schauen Sie sich um, heben Ihre Hände, um etwas zurückzuschlagen, das sich Ihnen nähert. Es muß sich um etwas sehr Großes handeln, das Sie über den Strand hetzt, etwas Außerordentliches, Mächtiges, das allein Sie sehen können. Und nachdem Sie einige Male so von der einen in die andere Richtung gelaufen und wieder zurückgekehrt sind, halten Sie unerwartet an und scheinen nun mit dem, was Sie verfolgt hat, zu sprechen. Sie strecken die Hände nach ihm aus, und Ihr Gesicht nimmt einen wilden Ausdruck an. Sie reden eindringlich auf dieses Etwas ein, das Ihnen da erscheint, schreien regelrecht auf es ein, und zuletzt greifen Sie mit beiden Händen nach ihm. Plötzlich scheint es verschwunden zu sein, sogar für Sie. Es hat sich davongemacht, gerade als Sie bereit waren, sich ihm zu stellen. Und die Enttäuschung darüber steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch Sie geben noch nicht auf. Denn Sie folgen diesem geheimnisvollen Etwas noch immer, reden dabei unentwegt auf es ein und versuchen, es zum Einhalten zu bewegen. Bis Sie anhalten, mitten in einer Bewegung, resigniert, erschöpft, den Kopf zur Seite geneigt, während wieder Zeit vergeht, in der Sie sich langsam, in einer unnachahmlichen Bewegung dem Meer zuwenden und erneut warten, bevor Sie sich auf Ihren Rucksack zu bewegen, ihn entschlossen schultern und völlig ruhig und mit großen Schritten ins Meer gehen, ohne jede Eile. Sehr schnell zerren die ersten Wellen an Ihnen, werfen Sie herum, lassen Sie stürzen. Doch Sie stehen wieder auf, gehen weiter, unbeirrt. Und Sie gehen weit, sehr weit ins Meer. Sie gehen ins Meer, bis Sie verschwunden sind.
Erneut vergeht Zeit, lange geschieht nichts. Dann werden Sie von einer Welle an die Oberfläche geworfen und an den Strand gespült. Sie liegen mit dem Gesicht im Sand, Sie bewegen sich nicht mehr. Und Sie haben Ihren Rucksack im Meer verloren.
Nach einer Weile stehen Sie auf. Sie schreien das Meer an. Sie strecken dem Meer Ihre Faust entgegen. Dabei ist in Ihren Blicken und Bewegungen eine furchtbare Unruhe zu erkennen, die Sie vollständig ausfüllt. Und dann sehe ich, wie der Tod darauf wartet, daß der Schmerz aufhört, Sie an das Leben zu binden.
Nach und nach hat der Tag die Nacht beiseite geschoben, und dann ist es richtig hell geworden. Im Licht des beginnenden Tages sitzen Sie am Strand, als wäre Ihr Körper in der Mitte gebrochen. Sie starren auf das Wasser, auf die endlose Weite des Meeres. Dabei wirken Sie leblos, wie in atemloser Spannung zwischen Furcht, Schmerz und Hoffnung. Es hat Ihren Körper nicht gewollt, das Meer, es hat ihm diese eine Last abgenommen, die der Steine. Wie die Tage zuvor, hat das Meer Ihnen auch heute Ihren Tod gestohlen. Als das Meer Sie diesmal zurückbringt, beschließe ich, Sie für immer zu lieben.
(…)

Es ist so: Mit dreizehneinhalb habe ich Sie schon gekannt. Nachdem Sie mich angesehen haben, durch Ihre Bilder, und mir so Ihre Geschichte erzählt haben, habe ich den Wunsch, Ihnen zu begegnen. Ich will Ihnen von mir erzählen, vielleicht alles. Ich will, daß Sie lesen, was ich schreibe. Und ich denke, ich werde es lieben, daß Sie dies tun, schon mit dreizehneinhalb dachte ich das.
Schon mit dreizehneinhalb habe ich mich entschieden, Ihnen zu schreiben. Ich habe Ihnen keine Briefe geschrieben, sondern in blaue Hefte, wie ich es für gewöhnlich tue. Und darin, in meinen blauen Heften, habe ich Ihnen meine Geschichte erzählt. Ich habe zu Ihnen gesprochen wie zu einem kranken Kind, das nicht einschlafen kann. Dann, während ich mich erinnerte, an die Geschichte, die ich Ihnen von mir erzählen wollte, war da wie immer die atemlose schwarze Nacht, die Nacht der Buchstaben, der Wörter, unterbrochen von der reglosen Schwärze des Wassers, auf die mein Blick heute wieder trifft, wenn ich aufsehe von dem weißen Blatt und hinaus aufs Meer schaue.
Einmal, beim Betrachten Ihrer Fotografien, zuerst im Château Casalas, dann, später, in den Büchern, sah ich, daß Sie viele Dinge gesehen hatten. Da gab es alle möglichen Tode von Kindern, Frauen und Männern, furchtbare Tode, die einen den Blick neigen ließen und es einem schwer machten, irgend etwas wiederzuerkennen. Und die zerstörten Städte, in denen nichts mehr wiedergefunden werden konnte, keine Spur der Verbrechen, die dort stattgefunden hatten. Nur Asche. Und Dämmerung. Und dann die Nacht. Und dann der nächste Tag. Und danach, am nächsten Tag, kein Wiederfinden und gar nichts, was über Nacht zurückgekehrt war. Und die Asche, wie am Tag zuvor, die ganze Asche, wie die Gischt des Meeres. Und blutgetränkte Landschaften, die ihr eigenes Licht erzeugten, das sich dem Licht des Himmels entgegenstreckte, und die einen vor Angst ersticken ließen. Und tausendmal Gerüche und Geräusche, die aus den Stätten der Verbrechen hervorquollen und sich im Zittern ihrer Bewohner verirrten. Und Träume von Menschen, in denen die Kinder wieder schliefen und die Frauen zurückkehrten, aus den Lagern, am Rande der Wälder. Und tausendmal Blicke auf eine riesige Sonne, die den gesamten Horizont ausfüllte, dort, über der Weite des Meeres. Und tausendmal Leere, in der nichts geschah, in der man wartete und der Leere zuhörte, ohne darüber traurig zu sein, ohne verstehen zu können. Und dann die Berührungen. Und die Schreie. Und die Stimmen. Und dann das Vergessen von allem. Und schwindende und wieder aufkommende Schmerzen, die machten, daß man das Leben vergaß. Und die Küsse. Und die Liebe. Und die Schönheit der schlafenden Körper der Kinder. Und dann noch die Schönheit der Frauen, die Magie ihrer Körper. Und die Herrlichkeit ihrer Gesichter. Und der Geruch ihres Haares. Und auch die Gezeiten der Lust, der ganze Wahnsinn des Begehrens. Und die Schreie des Verlangens auf den Oberflächen der Körper, die sich jederzeit daran erinnerten. Und dann wieder die Liebe, ihre Orte, die unmöglichen Orte der Liebe. Und dann ein erneutes Vergessen. Und tausendmal alles, auf jede Weise.
Sie, Sie mußten dies alles vergessen, sogar vergessen, daß Sie es vergessen haben. Denn wie hätten Sie sonst weiterleben können.
Beim Betrachten Ihrer Bilder in Ihren Büchern entdeckte ich später ein immer gleiches Licht, das Sie sehr früh geprägt haben muß und das Sie überallhin mitnahmen. Dieses besondere Licht, mit dem es Ihnen gelungen war, unverwechselbare Bilder zu machen und eine universelle Sprache zu erfinden. Von Ihren Bildern aus sprachen die Menschen, die Sie fotografiert hatten, als wären sie lebendig. Es war so, als würden sie unmittelbar vor einem stehen und ihre Geschichte erzählen. Noch in den dunkelsten Schatten aus Trauer, Schmerz und Einsamkeit, die diese Kriege wie Netze in die Welt warfen, war in jeder dieser Fotografien etwas wiederzufinden, ein Geheimnis, etwas schlechthin Entscheidendes, das dem Vergessen angehörte. Keiner vermochte zu sagen, worum es dabei ging, oder um was genau es sich handelte. Dennoch war dieses Rätsel stark genug, um einen zum Schweigen zu bringen. Seither denke ich, daß Ihre Fotografien ohne jeden Hintergedanken waren, sie waren vergleichbar mit der geschriebenen Schrift. Gerade deshalb werden diese frühen Bilder unvergeßlich bleiben.
Dann, eines Tages, als ich nach dem Schwimmen im Meer zurückkam und auf dem Einband eines Ihrer Bücher eher unbeabsichtigt Ihren Namen geschrieben sah, der nichts preisgab als sich selbst, umgeben von den ganzen Fotografien, die ihn einschlossen und nahezu erstarren ließen, enthüllte sich mir Ihr Name. Danach begann ich, ohne daß ich damit aufhören konnte, diesen Namen zu denken und ihm dadurch Dauer zu verleihen. Und dann begann dieser Name, mich fortwährend zu rufen. Und damit begann ich, Ihren Namen zu lieben.
Während ich Ihnen geschrieben habe, in einem meiner blauen Hefte, konnte ich sehen, daß Sie das Grauen kannten. Sie haben immer davon gewußt, Ihre Kenntnis war präzise. Zuerst haben Sie von seiner Ausdauer gewußt. Auch, daß man das Grauen weder vor sich sehen, noch es hinter sich lassen kann. Ebenso lange schon haben Sie seine Gegenden gekannt. Solche Gegenden, in denen es jede Bleibe zerstörte. Und jeden Ort. Und die Menschen. Und alles. Auch, daß man die danach entstandene Leere mit nichts füllen konnte, weder mit Buchstaben, noch durch Fotografien. Auf diese Weise waren Sie jener anerkannte Fotograf geworden, von allen verehrt und hofiert, auch wenn Sie das nicht sonderlich interessiert hat. Denn Sie haben fotografiert, um der zeitweisen Ausdehnung des Grauens gegenüberzutreten, um zu versuchen, das Grauen zu besänftigen. Und noch während Sie versucht haben, das Grauen zu sich kommen zu lassen und diesen tiefen Abgrund, der das Grauen ist und gleichzeitig in einem verursacht, in einem gewissen Gleichgewicht zu halten, es vielleicht sogar zu überwinden, waren Sie ständig in großer Gefahr gewesen, zu jemandem zu werden, den das Grauen nun seinerseits kannte und wiedererkannte, und von ihm verschlungen zu werden. Mit einem Mal habe ich begonnen zu sehen, daß Sie schon lange am Rand einer wie auch immer gearteten Nacht gelebt haben. Und ein Unglück, etwas, das größer war als Sie selbst, hat Sie über den Rand hinaus in das Meer dieser äußersten Nacht getrieben. Und dort haben Sie dann eine gewisse Zeit verbracht, auf einem Floß sitzend und die fluoreszierenden Zeiger einer in der Dunkelheit dieser Nacht unsichtbaren Uhr betrachtend.
Ich erinnere mich an eine Serie von Fotografien, die Sie von Massengräbern im Winter gemacht haben, bei denen es Ihnen gelungen war, das Unsichtbare des Lebens einzufangen. Jede dieser noch gut erhaltenen Leichen hatte plötzlich wieder eine Geschichte, die Sie ihnen zurückgegeben haben. Diese Ermordeten, mit ihrer Geschichte, wurden zu einer Erinnerung, die man um jeden Preis bewahren wollte, das Gedächtnis der Welt. Und in dieser langen Meditation über das Leben und den Tod glaubten Sie vielleicht, das allen gemeinsame Schicksal verstanden zu haben, Sie nahmen an, daß das Unglück unteilbar ist.
Ich sehe: Sie sind ein Mann, dem ein großes Unglück widerfahren ist, einer, der alles verloren hat. Ein Mann, in der Mitte seines Lebens, der versucht, das Verlorene zu vergessen. Dabei angefüllt mit einem furchtbaren Schmerz, daß Sie kaum noch etwas außerhalb Ihrer selbst wahrnehmen. Dieser Schmerz muß es sein, der es Ihnen unmöglich macht zu vergessen. Doch Ihre Erstarrung ist nicht in einen Schlaf übergegangen. Sie haben nicht das Glück gehabt, in eine Art von Wahnsinn zu verfallen, in dem ein Schrecken leise bleibt und einen nicht mehr weckt. Noch immer bringen Sie diese ungeheure Kraft auf, die man von Ihren Fotografien kennt, die, hinzusehen. Sie werden nichts verbergen, vor niemandem.
(…)

Ich bin Marie Grinberg. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich spreche nicht mehr. Ich schreibe in blaue Hefte.
Ich bin Marie Grinberg. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Und ich schreibe.
Das Mädchen, das nicht spricht, nennt man mich. Die Kleine, die mit ihrer verrückten Mutter in Talassa Bay lebt. Die sogar einmal für sie sterben wollte. Das Mädchen, das zu alt ist für sein Alter. Das Mädchen mit den blauen Heften. Das Mädchen, das in den Dünen schreibt. Das schreibende Mädchen der Dünen.
Schon lange bin ich nicht wie andere Mädchen in meinem Alter. Manchmal scheint es so, als wäre ich gar nicht da. Doch ich bin da, ganz nah, auch wenn ich nicht spreche. Denn ich schreibe. Und schreibend erfinde ich mein Leben.
Ich gehe in die Schule, aufs Gymnasium. In der Schule sagt man über mich, ich sei die Klassenbeste, in allen Fächern. Obwohl ich nicht spreche, soll das so sein. Die das behaupten, die Lehrer, der Rektor, einige Mitschüler, ich glaube, was sie sagen, trifft zu. Doch die Klassenbeste zu sein, das interessiert mich nicht, das bedeutet mir gar nichts. Ich bin nicht empfänglich für die eigenartige Liebenswürdigkeit mancher Lehrer, was meine Begabung angeht. Es ist mir unangenehm, daß einige von ihnen ständig versuchen, mich gegen meine Mitschüler auszuspielen. Man solle sich doch ein Beispiel an mir nehmen, sagen diese Lehrer, wobei sie nicht müde werden, mich mit den anderen zu vergleichen und der gesamten Klasse meine schulischen Leistungen vorzureden. Ich verstehe nicht, warum man sich an mir ein Beispiel nehmen soll, ausgerechnet an mir. Dem Mädchen, das nicht spricht. Der Kleinen aus Talassa Bay. Dieser kleinen Fremden, die nackt im Meer schwimmt, sogar bei klirrender Kälte. Der mit der verrückten Mutter.
Während meine Mitschüler miteinander geredet haben, habe ich geschwiegen. Während sie abends mit ihren Eltern und Geschwistern beim Essen gesessen und anschließend etwas zusammen gespielt oder gemeinsam ferngesehen haben, habe ich gelesen. Später, als sie angefangen haben, sich zu verabreden, habe ich noch immer gelesen. Und ich habe geschrieben. Es ist doch nur natürlich, daß ich intelligent bin. Jemand, der nicht spricht, muß diese Hemmung auf irgendeine Weise ausgleichen. Das ist alles.
Es ist auch nicht so, wie manche Leute behaupten, daß die anderen mir unsympathisch sind, aber sie haben andere Interessen. Und obwohl ich mich mit anderen Dingen beschäftige, höre ich ihnen aufmerksam zu. Man hat in diesem Alter offenbar viel zu erzählen. Ich bin erstaunt, worüber sie reden, was ihnen wichtig ist. Modische Kleider, Musik, aktuelle Serien im Fernsehen, Kinofilme, das Aussehen eines jungen Referendars, die erste Liebe, wohin man in die Ferien verreist, Streitigkeiten mit den Eltern, Schwierigkeiten mit Lehrern, von alldem verstehe ich nichts. Selbst wenn ich reden würde, wüßte ich nicht, worüber ich mit ihnen reden sollte. Und die anderen, die älter sind, die mich interessieren könnten, zögern, ich weiß nicht warum. Vielleicht ist es zu schwierig für sie, mich anzusprechen.
Ich treffe mich auch nicht mit den Jungen am Strand, um mich von ihnen anfassen zu lassen. Und obwohl sie sich mir gegenüber mit anzüglichen Bemerkungen darüber zurückhalten, merke ich an ihren Blicken, daß sie etwas von mir wollen. Doch da sie dabei nicht unfreundlich sind, stört es mich nicht. Sie fordern mich auf, mit ihnen auszugehen, zum Tanzen, in die Eisdiele, ins Kino. Und einige bitten mich, sie in den großen Ferien zu besuchen, auf dem Land, bei ihren Großeltern. Man wäre dort nahezu allein und hätte das ganze Haus für sich. Dabei behaupten sie, daß ich ihnen gefiele, ich wäre sehr hübsch. Und es machte ihnen nichts aus, daß ich nicht sprechen würde. Doch ich glaube ihnen nicht, nichts davon. Denn wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich ein blondes Mädchen mit blauen Augen. Dieses Mädchen ist groß und schlank und hat kleine feste Brüste. Weil dieses Mädchen im Spiegel viel am Strand geht und durch die Gärten, weil es im Meer schwimmt, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit, ist es robust. Jeder Muskel seines Körpers ist ausgebildet. Seine Haut ist die eines Mädchens, das sich viel am Strand aufhält. Das ist alles, was sie sehen. Und alles, was sie wollen, ist dieser Körper, den Körper der Klassenbesten, um das mit ihm zu machen, was sie in diesem Alter mit anderen Körpern für gewöhnlich tun. Sie wollen ihn berühren, diesen Körper, ihn streicheln, ihn penetrieren. Sie wollen sich diese kleine Fremde unterwerfen, sie aufsaugen und sie sich einverleiben. Den Körper dieser Kleinen wollen sie in Besitz nehmen, ohne sich dem Fremden in ihm annähern zu müssen, diesem Fremden, das macht, daß aus diesem Körper kein Wort nach außen dringt, das sie meint, oder das ihrem Begehren gilt. Es ist ihre Zeit, die Zeit dieser Jungen. Es ist die Zeit der Wetten, die Zeit eines unzweideutigen Begehrens, das einhergeht mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit, mit der sie versuchen, Körper in Besitz zu nehmen. Das geschieht nach genau festgelegten Regeln, wie bei einem Ritual, mit einer gleichzeitigen Unbeholfenheit, die seltsam wirkt, die aber mit ihrem Alter zu tun hat. Doch hinter dieser scheinbaren Unbeholfenheit ist bereits etwas Grausames aufzuspüren. Es ist, als ob sie eine Maske tragen, eine Maske, die notdürftig verdeckt, daß es die Bereitschaft gibt, Wunden in die Welt zu schlagen. Sieht man jedoch genau hin, ist bei den Jungen ein großes Zärtlichkeitsbedürfnis auszumachen, mit dem sie sich wünschen, in den Schlaf gewiegt zu werden, und das vor der nackten Begierde zurückweicht wie vor einer verschlossenen Tür.
Auch die Mädchen begehren, auch sie wollen genau das, was die Jungen wollen. Sie wollen es anders, nicht so ungestüm, aber doch ist es Leidenschaft, die sie wollen. Sie wollen nicht heimgesucht werden von der Angst vor einer Verletzung, der sie bis in ihr Innerstes ausgesetzt sind, vor Orten ohne Umgebung, in denen man sie begehrt und schön findet, um sich danach, nach dem Erreichen der Lust, von ihnen zurückzuziehen. Sie wollen nicht ohne Antwort bleiben und hören, daß man sie liebt, weil man sie liebt, daß sie jemanden Fest sind. Sie wollen nichts, was die Liebe entwertet, keine Einsamkeit, außer dieser einen, die unaufhörlich redet. Und gleichzeitig wollen sie etwas, eine Häufung von Liebeskümmernissen vielleicht, wie sie in den Fernsehserien, über die sie sprechen, zu einem guten Ende gebracht werden. Und doch überholen sie sich manchmal und stellen das Sexuelle an die Stelle des Gefühlsmäßigen. Dann gehen sie zur alten alte Mole, wo sie sich mit erwachsenen Männern verabreden. Dort spielen sie ein grausames Spiel, in dem sie erliegen und zugrunde gehen und zu einer Wunde eines Abgrunds ihrer Lust werden.
Ich bin Marie Grinberg. Ich spreche nicht mehr. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich schreibe in blaue Hefte. Die blauen Hefte sind das Fährtenbuch zu meinem Leben. Und die Schrift ist meine wehrhafte Haut. Schreiben ist ganz natürlich für mich, es ist wie Ein- und Ausatmen.
Da ich die meiste Zeit über in die Hefte schreibe, bin ich oft allein. Ich weiß nicht, ob es noch ein anderes Leben gibt. Manchmal glaube ich, daß es das gibt. Dann glaube ich es wieder nicht. Die meiste Zeit über glaube ich, daß es außerhalb des Schreibens gar nichts gibt. Dabei weiß ich nicht einmal, was das Schreiben ist. Während ich schreibe und das Niedergeschriebene in die Welt schaffe, bemerke ich, wie ich es gleichzeitig beseitige, indem ich nicht aufhöre, damit fortzufahren, weiterzuschreiben. Immer löscht sich die Schrift, sobald sie niedergeschrieben wird, im selben Augenblick, immer beginne ich von neuem. Und gleichzeitig gibt es etwas neben dem, was ich in die blauen Hefte schreibe, das ich nicht in sie schreibe. Ich weiß nicht, was es ist, denn bei dem, was ich schreibe, gelange ich immer zu spät zu dem, was ich schreiben könnte, hätte ich nicht bereits das geschrieben, was ich geschrieben habe, oder würde das schreiben, was ich gerade schreibe.
Ich beobachte viel, oft betrachte ich lange das Meer, auch nachts. Wenn ich das Meer betrachte, fühle ich weder Furcht noch Hoffnung. Und manchmal, in den Nächten, vergeht auf diese Weise die Zeit nicht, sie bleibt einfach stehen. Nachts, am Strand, sehe ich die Schiffe in der Dunkelheit, ihre Lichter. Ich höre auf die Geräusche, auf die Stimmen, die der Wind mir zutreibt. Ich fächere die Geräusche, parzelliere die Stimmen, löse die Stimme des Windes aus ihnen, bis ich nur noch eine Stimme höre, eine einzige Stimme, die Stimme eines Menschen, der schreit. Ein Schrei, der von weit her, der über das Meer kommt, anfangs noch von Wind durchströmt, dann ganz klar: Jemand in Laand schreit, leise, sehr leise höre ich seinen Schrei. Sein Schrei kommt über das Meer, über seine Weite, über diese ganze unermeßliche Weite. Sein Schrei, sehr, sehr leise, aber doch noch zu hören, über das ganze Meer. Und ich bin nicht allein.
Ich bin niemals allein, zu keiner Zeit. Es ist immer ein Körper in meiner Nähe. Und in dieser Nacht ist es ein Körper in Laand. Ein unbekannter Körper, der schreit. Ein namenloser Schrei, den ich einschließe in meinen Körper, in dem ich das Leben murmeln höre. Ich bin fünfzehn Jahre alt, ich schreibe, ich bin so alt wie die Welt. Ich war bereits vor der Welt, so alt bin ich.
Mich vergewissern: Das ist Marie Grinberg. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Sie ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie spricht nicht mehr. Sie schreibt in blaue Hefte. Sie schreibt, wie andere atmen.
Marie Grinberg. Fünfzehn Jahre alt. Die kleine Fremde, die nackt im Meer schwimmt. Die kleine robuste Fremde, mit der Haut einer Strandgängerin. Die Klassenbeste. Das schweigende Kind. Die ohne Vater. Die mit der verrückten Mutter.
Marie Grinberg. Fünfzehn Jahre alt. Die mit den Wörtern lebt. Die nicht spricht, nicht wie andere. Die spricht, wie man überhaupt nur sprechen kann, auf die einzig denkbare Weise: indem man schreibt. Die schreibt, daß die Wörter schon immer da waren, wie die Luft, sogar schon vor der Luft, daß die Wörter ihre Familie sind, daß diese Familie in eigenen Räumen lebt, denen des Schreibens, und daß sie so gelegentlich über die Dinge hinausgelangt, die sie festhalten. Die jeden Tag eine neue Reise beginnt, mit jedem Wort, mit jeder Seite, die sie vollschreibt. Die so lebt, unter Ausschluß jedes anderen Lebens. Die von sich sagt: Ich bin so alt wie die Welt. Ich war bereits vor der Welt, so alt bin ich. Das schreibt sie. Das liest sie.
Marie Grinberg. Die Kleine vom Strand. Sie ruft Beobachtungen in sich hervor und bewahrt sie auf. Sie hört niemals auf damit, selbst wenn sie damit aufhört. Jedes noch so kleine Geräusch wird in der sie umgebenden Stille unfaßbar laut. Jedes Bild, das ihren Blick einfängt, kommt ihr so nah, daß sie es bis in seine Nuancen erkennen kann. Sobald ein Sandkorn ihre Haut berührt, hinterläßt es einen tiefen Riß. Sie hat eine eigene Sonne, dort wo sie ist, ihr eigenes Licht. Und wegen der Wörter, die es dort gibt, ist diese Wüste in ihr niemals still.
Manchmal steht sie allein vor dem großen Ankleidespiegel in ihrem Zimmer und ruft ihren Namen, um den Klang ihrer Stimme nicht zu verlieren. Aber weder kann sie den Klang hören noch ihren Ruf nach ihm. Sie schreibt ihren Namen auf den Spiegel, um ihn zu sehen. Und dann ist ihr Name da, denn sie kann ihn lesen. Denn es gibt ihren Namen, weil sie ihn lesen kann, aber sie kann ihn nur lesen, wenn er geschrieben ist. Überhaupt gibt es die Dinge nur, wenn sie gelesen werden können. Und sie können nur gelesen werden, wenn sie zuvor geschrieben wurden.
(…)

Seit Jahren schreibe ich jede Nacht Wörter und Sätze auf das weiße Papier. Und während ich schreibe, lebe ich in dieser besonderen Nacht. Ich kann sagen, daß ich schon immer geschrieben habe. Ich habe nie etwas anderes getan. Davor habe ich gelesen. Zuerst habe ich die Tageszeitungen gelesen. Dann Zeitschriften. Ich las alle Zeitungen und Zeitschriften, die ich bekommen konnte. Und dann las ich die Bücher. Es waren Bücher aus der Bibliothek. Zuerst habe ich einige Bücher geholt. Ich las sie am Strand, im Laufe eines Nachmittags. Am nächsten Tag holte ich mir weitere Bücher, die ich noch am selben Tag las und am Tag darauf wieder zurückbrachte. Und dann nahm ich mir wieder andere Bücher mit. Ich las oft am Strand, bei gutem Wetter, die übrige Zeit las ich in meinem Zimmer. Ich las abends. Und nachts, in meinem Bett. Ich las, bevor ich in die Schule ging, schon beim Frühstück. Und später las ich in der Schule, in den Pausen. Ich war nie ohne ein Buch. Zuletzt habe ich die Bücher mit dem Handkarren aus der Bibliothek geholt. Man hat darüber viel gelacht, über meine Begeisterung für Bücher.
Sehr früh schon habe ich sehr gut lesen können. Lesen, ich konnte es schon immer, es war ganz natürlich. Ich habe es nie lernen müssen, ich konnte es von Geburt an, glaube ich. Das Lesen, es war immer da, in mir. Ich mußte es nur finden. Und eines Tages fing ich damit an.
Dann, mit dem Lesen, kam das Schreiben, wie selbstverständlich. Als ob die Wörter in den Büchern etwas in mir Vergrabenes angestoßen hätten, das ich erst noch erfinden müßte, indem ich darüber schriebe. Die ersten Buchstaben habe ich am Strand in den Sand geschrieben. Ich schrieb meinen Namen und war verwundert über die Stille meines Namens, wenn er nicht gerufen wurde, sondern geschrieben war. Und dann lag alles Vergangene und Zukünftige in meinem Namen verborgen, die ganze Welt. Denn ich konnte sie lesen, in meinem Namen, der in den Sand geschrieben war.
Bereits mit fünf Jahren lese und schreibe ich. Niemand hat es mir beigebracht. Als ich in die Schule komme, ist man darüber erstaunt.
Der Direktor kommt mit anderen Lehren ins Klassenzimmer und bittet mich, allen etwas vorzulesen. Ich lese die Geschichte von Ernesto, der nach dem ersten Schultag nicht wieder in die Schule gehen will, weil er findet, daß es sich nicht lohne, Dinge zu lernen, die er noch nicht weiß. Die Lehrer sagen, diese Kleine, schaut sie euch an, sie kann schon lesen. Und seht nur, die Kinder, wie aufmerksam sie ihr zuhören. Und dann sagen sie, ich solle ihnen das erklären. Worum geht es bei dem, was du uns vorgelesen hast, fragt der Direktor. Und ich sage ihnen, was ich weiß. Und dann fordern sie mich auf, an die Tafel zu gehen und etwas zu schreiben. Und ich schreibe etwas von Ernesto, etwas von dem, was ich gelesen habe und was mir gerade einfällt. Und die anderen Kinder klatschen begeistert in die Hände. Ein Kind sagt: Sie kann schreiben, sie kann lesen, was macht sie hier? Und ein anderes Kind sagt: Sie ist vielleicht nicht von dieser Welt, vielleicht ist sie ja ein Engel. Und das erste Kind entgegnet: Und wo sind dann ihre Flügel?
Mein Vater bekommt einen Brief, der Direktor bittet ihn darin um ein Treffen.
– Ob er sich das erklären kann, dieses Wunder, sagt der Direktor.
Daß der Direktor von einem Wunder spricht, bereitet meinem Vater Vergnügen.
Mein Vater findet, es gebe überhaupt kein Wunder.
– Lesen und Schreiben gehören zusammen, sagt er.
Das Lesen ziehe einen zum Schreiben, das Schreiben ziehe einen zum Lesen.
– Lesen und Schreiben ist übrigens das einzige, was man allein tun muß, sagt er.
Man müsse es eigenhändig tun.
– Es ist wie Sterben, sagt er.
Nur das Leben werde von anderen bestimmt.
– Und man muß lesen, um das zu begreifen, sagt er.
Das erste blaue Heft habe ich von meinem Vater bekommen, kurz bevor er verschwand. Ein Mensch, der schreibt, es gibt nichts Größeres, sagte mein Vater einmal.
(…)

Eines Tages, ich war ein Kind, ich war acht Jahre alt. Mein Vater ging nach Laand, in den Krieg. Sehr früh an einem Morgen, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als mein Vater fortging, begann für mich der Krieg.
Zwei Tage zuvor war ein Bote aus Laand gekommen, er hatte einen Brief für meinen Vater mitgebracht. Danach war mein Vater verändert. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie er in dem Haus mit den roten Ziegeln umherlief. Er wirkte angespannt und unruhig. Plötzlich hatten wir nur noch wenig Zeit, bevor er fortging. Ein Abend und die ganze Nacht, das war die Zeit, die uns blieb, für alles, wofür wir unter anderen Umständen, ohne den Krieg in Laand, ein ganzes Leben Zeit gehabt hätten.
Als mein Vater fortging, war ich ein Kind. Ich war ein Kind von acht Jahren, als mein Vater fortging. Mein Vater sagt mir, daß er mich liebt, daß er bald zurückkehrt. Er verspricht es mir. In unserer letzten Nacht, die wir gemeinsam am Strand verbringen, erklärt er mir, daß in seiner Heimat vor einigen Monaten ein Krieg ausgebrochen sei.
Zuerst sieht er mich lange an. Dabei hält er meine Hand. Und nach einer Weile berührt er sanft meinen Hals. Dann berührt er mich mit seinen Lippen am Hals, an derselben Stelle, wo seine Hände mich berührt haben. Und dann nimmt er mein Gesicht in seine Hände. Und dann berühren mich seine Lippen auf meinen Lippen, was mit einer unglaublichen Zärtlichkeit geschieht. Und danach sind wir ein Liebespaar. Wir sind aus dem Sichtbaren herausgefallen, in eine anderen Zeit, die nicht möglich ist.
Er sagt, daß Thio Kie Manson damit begonnen habe, alle großen Bibliotheken zu zerstören, viele Jahrhunderte alte Werke aus Wissenschaft und Kultur seien bereits in Flammen aufgegangen, vieles unauffindbar und verloren. Man habe ebenfalls damit angefangen, die Lehrer und Intellektuellen zu ermorden, um so zu verhindern, daß die die Pogrome überlebenden Kinder ihre Sprache und alles, was damit zu tun habe, lernen werden.
Die Geräusche eines ruhigen Meeres. Mein Vater starrt nun auf das Wasser, er rührt sich nicht. Dann sieht er mich wieder an. Vom Hafen hört man die Rufe der Schiffe. Man hört Sirenen aus der Stadt, die jäh von der Nacht verschluckt werden. Ich befeuchte meine Fingerspitzen. Dann fahre ich mit ihnen über seine Lippen. Er schließt seine Augen. So vergeht Zeit.
Er sagt, daß Thio Kie Manson Frauen und Kinder kreuz und quer durch das Land jagen lasse. Er lasse sie in die Berge und in die Wälder treiben, bis sie am Ende nicht mehr ein noch aus wüßten vor Hunger und Durst. Bis sie auf allen Vieren lebten, nackt, mit verkrusteten Körpern, zwischen Erde, Felsen, Blut und Schlamm. Bis ihr Gedächtnis, in der Starre ihrer Angst, in dem Wehklagen um ihre Kinder, über deren vor Erschöpfung sterbenden Körpern sie wachen, inmitten der Felsen und der weiten Ebenen ohne Schutz, löcherig geworden sei. Bis ihr Gedächtnis völlig zerfressen sei, ein Schwamm, ein Wort ohne Sinn.
Die Geräusche, die das Meer macht. Ich spüre das Leid, in das diese Geschichte meinen Vater stürzt. Am Strand ruft jemand nach seinem Hund. Erneut die Sirenen, die erneut abbrechen. Ich beuge mich vor und küsse seine Lippen. Dann seine geschlossenen Augen. Dann erneut seine Lippen. Wieder vergeht Zeit.
Er sagt, daß Thio Kie Manson mit jedem mehr, den er vertreiben und ermorden lasse, nach und nach das Gedächtnis eines ganzen Volkes auslösche, bis man für die Wiedererinnerung keinen Ausgangspunkt mehr fände, von dem aus man noch beginnen könnte, sich wieder zu erinnern. Bis alle Orte, an denen die Bilder, an die man sich erinnern wollte, ausgelöscht seien. Bis es keinen mehr gäbe, der sich an die Existenz dieser Orte und der dort in einer bestimmten Ordnung aufbewahrten Bilder erinnern könne. Und eines Tages würde es das, was es einmal gegeben hätte, nicht mehr geben, weil es keine Zeugen mehr gebe, keine Dokumente, keine Beweise. Und dann hätte es auch die Vernichtung nicht gegeben.
Die vergehende Zeit am Strand, nun mit Blick auf das Meer, das ruhig ist, als wäre es nie anders. Dann der abwesende Blick meines Vaters, auf mich gerichtet, ohne mich wiederzuerkennen. Dieser Blick, auf nichts gerichtet, alles verlassend, bis auf Laand. Und dann sieht dieser Blick mich plötzlich, erkennt mich wieder. Und mein Vater sieht mich an, als ob er mich liebt.
Er sagt, daß man ihn gebeten habe, nach Laand zu kommen. Er solle helfen, die Bücher zu retten, die Vernichtung zu dokumentieren. Er solle mithelfen, zu verhindern, daß die Opfer unauffindbar werden, daß es ein ganzes Volk nicht gegeben haben wird.
Ich sehe meinen Vater an, während erneut Zeit vergeht. Die Sätze meines Vaters durchqueren mich wie ein richtungsloses Lastschiff einen Fluß und türmen sich an einer Stelle, wo sie sich allmählich auflösen. Dann sage ich ihm, daß ich nicht alles verstanden hätte, was er gesagt habe. Aber ich hätte verstanden, daß man ihn gerufen habe. Und es sei wohl so, daß er keine Wahl habe.
Ich sage: So weit, weiter noch als das Meer, weiter als alles, noch vor der Erfindung des Wortes, noch davor, noch vor allem und nach allem, und noch danach, immer, die ganze Zeit über und durch die ganze Zeit hindurch werde ich dich lieben, liebe ich dich.
Jäh entsteht Stille. Die Geräusche der Stadt und die des Meeres entfernen sich, werden unsichtbar, unhörbar. Die entstandene Stille ist wie eine Grenze, ohne Berührungspunkte. Sie kann nicht überwunden werden. Vielleicht durch den Tod.
Am Morgen begleite ich meinen Vater zur Fähre und schaue ihr nach, wie sie mit ihm über das Meer fährt. Und danach, während ich lange über das Meer schaute, der Fähre hinterher, war da diese fortdauernde Spanne von Verlassenheit, die die künftige Zeit machte. Zuerst klammerte sie sie ein. Dann ließ sie sie nach und nach verschwinden. Und dann ersetzte sie sie durch diesen einen Augenblick, der sie endgültig zum Stillstand brachte.
In der folgenden Nacht bin ich allein im Haus. Ich bin in meinem Zimmer, wo ich weine und schreie, bis ich keine Tränen mehr habe, bis ich heiser bin. Ich zittere am ganzen Körper, ich verliere das Gleichgewicht und stürze. Ich hämmere mit dem Kopf gegen die Wand, bis meine Stirn davon blutet, bis ich mich übergeben muß.
Meine Mutter ist nicht da. Sie ist irgendwohin gegangen, um sich zu betrinken. Daß mein Vater fortgegangen ist, darüber ist sie außer sich.
Am nächsten Morgen laufe ich zur Fährstation. Und dann jeden Tag. Doch mein Vater kommt nicht zurück. Da weiß ich es noch nicht. Ich sehe ihn nie wieder.

Was ich immer sehe, ist dies: Ein Mann und ein Kind am Strand. Ihre letzte gemeinsame Nacht. Der Mann hält die Hand des Kindes, während er spricht. Der Mann spricht mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Das Kind ist sich dessen bewußt. Es hört zu, mit großem Ernst. Später nimmt der Mann das Gesicht des Kindes in beide Hände und berührt dessen Lippen mit seinem Mund. Einmal berührt das Kind mit seiner Hand das Gesicht des Mannes, um seine Tränen von dort wegzuwischen. Ein anderes Mal befeuchtet es seine Finger und fährt damit über seine Lippen. Ein weiteres Mal küßt es ihn auf seinen Mund. Dies geschieht mit einer so schmerzhaften Zärtlichkeit, daß mich dieses Bild heute manchmal noch zum Weinen bringt.
(…)

Als Kind war ich häufig mit meinem Vater auf den Hügeln. Von Mont d’or aus hat man einen guten Blick auf Talassa und seine Terrassenlandschaft, auf die kilometerlange Küste mit ihren Sandstränden und Felsen, die Buchten, Grotten und die kleinen Inseln. Es ist so, daß die ganze Stadt ihren Blick auf das Meer richtet, ausschließlich, als ob sie sich von allem anderen abwendet.
Auf der anderen Seite des Meeres liegt Laand. Dort ist das Tier vollends aus dem Winterschlaf erwacht und verursacht einen großen, dunklen und nicht enden wollenden Schmerz, der selbst uns erreicht hat, auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen. Je mehr der Schinder Thio Kie Manson die Richtung verloren hat, um so mehr beschleunigt er das Tempo. Dabei hat er jeden Lebensgrund derart verheert, daß nicht einmal der Tod noch einen Sinn hat. Und überall in Laand geschehen diese Dinge. Seltsame Dinge, die so grauenvoll sind, daß kaum einer sie aussprechen kann, ohne auf der Stelle daran zu verzweifeln.
Da es niemand gesagt hat, sage ich es, damit es gesagt ist: Heute ist der menschliche Körper nicht mehr als ein Stück zuckendes Fleisch, das man vertreiben, mißhandeln, vergewaltigen oder sonstwie schänden kann, bevor man es ermordet und in einem Massengrab verscharrt.
Und auch dies: Eine furchtbare Besessenheit hat Besitz ergriffen von den Menschen, sie alle befinden sich in einem Zustand entsetzlichsten Tobens.
Und dann, eines Morgens, geschieht es.
Eines Morgens, in aller Frühe, noch vor Tagesanbruch, ich sehe es ganz klar, rast dieses grauenvolle Toben über Laand hinweg wie ein schrecklicher Sturm, der vor nichts mehr haltmacht und alles unter sich begräbt. Nun dauert es nicht mehr lange, bis sogar Freunde und Nachbarn übereinander herfallen, um sich gegenseitig zu erschlagen, oder um die Frauen und Töchter ihrer Mitbewohner zu vergewaltigen und sie anschließend an die Wände ihrer Häuser zu nageln. Und da nun alles der Zeit enthoben ist, ist alles möglich geworden, sogar das ganz und gar Undenkbare. Bereits nach dem ersten Tag, bei Anbruch der Nacht, erscheint jeder Augenblick wie ein unbewohnter, von jedem Mitleid und aller Gnade befreiter Ort. Ein unmöglicher Ort, an dem alle Grenzen zertrümmert sind, an dem alle Ordnungen zu entgleiten drohen, wo die Überlebenden gezeichnet sind von einer sie völlig durchstoßenden, die Augenblicke der Folter überdauernden Wirkung, die jeden weiteren Augenblick ihres Lebens anhalten wird, vielleicht wie ein Fehler oder eine Narbe, wie etwas ganz und gar Entstellendes, das sich von außen an sie befestigt und sich von innen an sie geheftet hat, etwas, das sie fortan bestimmen und ihr Inneres nach und nach kolonialisieren wird, bis es sie ganz und gar eingeebnet hat, bis nichts mehr wiederzuerkennen ist. Eine Wirkung von solchen Ausmaßen, daß sie alles andere versiegeln wird, für lange, sehr lange, für eine sehr, sehr lange Zeit, für alle Zeit, ohne jedes Vergessen, ohne jede Ruhe. Und diejenigen, die heimfinden, werden in einer Schattenwelt existieren, die sie zurückkehren läßt, ohne daß sie zurückkehren können, ohne dazu noch fähig zu sein, weil das, was geschehen ist, unauslöschlich bestehenbleibt, in jeder beliebigen Zukunft, unvergessen: Dieses unvorstellbare Grauen in Laand, diese Bündel von Menschen, unrettbar verloren, zusammengepfercht in den Lagern, im Osten. Dieses ganze geschundene Fleisch der Körper, das Angstatmen und Angstweinen in diesen Körpern, das Angstschwitzen, das Angstbluten, das Angstpissen und Angstscheißen, das ganze Angstschweigen, die lauten und leisen und die stummen Schreie der Angst, die unaufhaltsam vorrücken und einen tiefen Riß verursachen. Ein so umfassender Riß, daß er die Ordnungen der Welt von der Welt trennt, sie wie mit einem Rasiermesser nach und nach zerschneidet, bis ihre einzelnen Teile durch die Zeit treiben, die sie vollständig zerstört. Auch in Talassa, wo dieses Grauen die Menschen unbemerkt durchstößt, in sie eindringt und sie im Verborgenen, unter ihren Oberflächen, in einem noch kaum vorstellbaren Ausmaß erschüttert.
Und dann, nachdem es gesagt war, schon ab den folgenden Tagen, kann man die Stimmen der Ermordeten, der wehrlos in Laand Zurückgelassenen, der Kinder über das Meer kommen hören. Und ihre gräßlichen Schreie erfüllen die Luft in einer unendlichen Dauer bohrender, hämmernder, zuckender und auseinanderreißender Martern, einem Gebilde aus bestialischen Schmerzen, zerstochenen und zerstoßenen Körpern, verbranntem Fleisch und einer unauflösbaren Vergehensangst, das den Himmel überquert wie eine dichte Wolkenformation, die so undurchdringlich ist, daß es nichts mehr jenseits von ihr gibt. Damit, mit diesen gewaltigen Wolken, die durch nichts bezwungen werden können und die von einem Töten und Leiden erzählen, das sich der Sprache entzieht und vielleicht jenseits von ihr liegt, kommen, von starken Winden erfaßt, mächtige Sandwolken mit den Luftmassen über weite Strecken von überall her und reiben sich an einer besonders rauhen Stelle, an der ich sitze und schreibe, für meinen Vater, der in Laand ist. Am Frachthafen legen die ersten Schiffe an, um beladen oder gelöscht zu werden. Und mein Vater ist wie ein besonders schöner Brunnen, dessen Wasser ich nicht trinken kann, obwohl ich sehr großen Durst habe. Ich warte. Ich weiß nicht worauf. Vielleicht warte ich auf Sie. Und ich schreibe.
(…)

Eines Tages, nachdem die Internationale Staatengemeinschaft Teile von Laand befreit hat, sieht man in den Nachrichten, in den gekühlten Tunneln von P. in Laand, auf hohen Regalen aus Holz, die weißen Plastiksäcke mit den Leichen der Männer aus einem Dutzend von Massengräbern zur Identifizierung liegen. Soweit die Menschen noch in Laand leben, kommen sie von überall her nach P. Die, die vertrieben wurden, oder die anderen, die zuerst gequält, gefoltert und vergewaltigt und anschließend vertrieben wurden und die nun als Flüchtlinge in der ganzen Welt verteilt leben, kommen nicht zurück nach Laand.
Zuvor waren Spezialisten der Gerichtsmedizin aus der ganzen Welt, Männer und Frauen, nach P. gereist. Sie hatten ihre jeweiligen Institute und Universitäten verlassen, wo sie arbeiteten und lehrten, hatten ihre Frauen, Männer und Kinder zurückgelassen, um ihren Teil an der Aufklärung der Verbrechen in Laand zu leisten. Denn in Laand seien der Geschichte der menschlichen Bestialität neue Kapitel hinzugefügt worden, sagte der Sprecher der Ärzte. Aber man werde jeden Schlag und jede Mißhandlung beweisen, jede Art der Folter, man werde das alles rekonstruieren. Man werde sämtliche Todesarten erfassen und sie detailliert beschreiben und so herausfinden, was schließlich zum Tod jedes einzelnen geführt habe. Wie es geschehen sei, an welchem Tag, zu welcher Stunde, man werde das lückenlos dokumentieren. Man werde jedes Opfer identifizieren, ganz gleich, wieviel Zeit dies in Anspruch nehme, ganz egal, was es koste. Letztendlich werde man die Täter überführen, jedem einzelnen von ihnen werde man anhand der Opfer seine Verbrechen nachweisen. Es werde Gerechtigkeit geben, keiner der Täter komme ungeschoren davon. Der Sprecher der Ärzte ist sich absolut sicher. Außerdem werde man eine Liste der Qualen aufstellen, die die Opfer zu erdulden gehabt hätten, bevor sie ermordet und in ein Massengrab geworfen worden seien. Dieses Mal werde man nicht allein den direkten Angehörigen alles sagen, sondern mit Hilfe des Fernsehens die ganze Welt zu Beteiligten machen. Man habe sich dazu entschieden, gerade mit Blick auf das letzte Jahrhundert, das ein Jahrhundert der aneinandergereihten Gruben gewesen sei, daß die Menschen begreifen müssen, daß sie einander keine Fremden seien, sondern miteinander verwandt. Auch, daß Verwandtschaft nicht mit der eigenen Familie aufhöre, sondern daß sie weiterreiche, weiter als man es sich bisher vorstellen wolle. Ein Mann, der in Vancouver lebe, erfahre, daß man einen anderen Mann, der in Laand gelebt habe, gefoltert, vergewaltigt, ermordet und dann in einem Massengrab entsorgt habe wie Müll, das müsse ihn betreffen, als ob sein eigener Bruder gestorben sei. Auch sei das, was man aufdecken werde, zu groß und zu furchtbar, als daß einzelne es tragen können, die Familie aller Menschen müsse hier zusammenstehen.
Einige Kinder sind in P., man sieht diese Kinder im Fernsehen. Es ist beunruhigend, diese Kinder im Fernsehen zu sehen. Man weiß nicht, wo genau sie herkommen. Man weiß nichts von diesen Kindern. Sie sitzen ganz still neben den Plastiksäcken mit den Leichen. Schweigend halten sie dort Totenwache bei ihren Vätern, Großvätern und älteren Brüdern. Man weiß nicht, ob diese Kinder noch Mütter haben, keiner kann sagen, warum ihre Mütter nicht hier sind, bei ihnen, in einem solchen Augenblick. Und wenn diese Kinder noch Mütter haben, ob sie zuletzt überhaupt bei ihnen gelebt haben. Und wenn sie nicht bei ihnen gelebt haben, wo sie dann gelebt haben. Oder ob ihre Mütter nicht schon lange in den Konzentrationslagern sind, im Osten Laands, wo die Männer Thio Kie Mansons damit begonnen haben, ihre durch die Folter umgekommenen Gefangenen in Containern zu verbrennen. Vielleicht hatte man ihre Mütter dort zuvor in die Frauenräume gesperrt, um sie an den Abenden bequemer abholen und ganze Nächte lang vergewaltigen zu können. Möglicherweise sind ihre Mütter noch auf der Flucht in den Wäldern oder den Bergen Laands. Man kann nicht das geringste sagen über die Mütter. Weder kann man etwas über die Mütter sagen, noch über die Kinder. Keiner weiß etwas. Nur dies: Sie waren plötzlich da, schweigend, eine beträchtliche Anzahl verstummter, sprachloser Kinder, die kleine Zettel in ihren Händen hielten, auf denen die Identifikationsnummern ihrer Angehörigen standen. Einige Kinder hielten mehrere Zettel in ihren Händen. Doch merkwürdigerweise weinten sie nicht, keines der Kinder weinte oder schrie seinen Schmerz heraus. Sogar ihre Bewegungen und der Ausdruck ihrer Gesichter wirkten so, als läge jeder mögliche Ausdruck von Schmerz und Trauer bereits hinter ihnen. So als ob diese ernsthaften Kindergesichter, in ihrem Schweigen, umgeben von den Plastiksäcken, in denen sich die Leichen ihrer Angehörigen befanden, in ihrem gesamten Ausdruck bereits ihre letztmögliche Gestalt angenommen haben. Jeder Versuch, sie von den Plastiksäcken wegzuholen, scheiterte, denn kaum hatte man sie weggebracht, waren sie schon wieder da. Sie waren völlig unbeirrt, diese Kinder, keiner konnte wirklich etwas tun. Zu sehen ist nur, daß diese Kinder allein sind. Und sie sind allein in P., bei ihren toten Angehörigen. Und sie wachen dort. Und sie schweigen, ein schwerwiegendes Schweigen, dem man kaum entkommen kann. Und man sieht sie im Fernsehen. Und das ist alles, was man sagen kann.
Seit Wochen zeigen sie diese Leichen im Fernsehen. Bevor sie die Leichen vorzeigen, sagen sie, daß die Internationale Staatengemeinschaft die Kosten für die Überführung und Bestattung komplett übernehmen werde. Dann, wenn die Leute, die die Leichen im Fernsehen sehen, glauben, daß sie einen Verwandten, einen Freund oder einen Nachbarn wiedererkannt haben, können sie dort anrufen. Sie nennen die Nummer des identifizierten Leichnams, den Namen des Verwandten, des Freundes oder Nachbarn und den Ort, wohin er überführt werden soll. Viele von denen, die dort anrufen, wurden vertrieben. Sie haben keinen Ort mehr, wohin sie ihre Verwandten überführen könnten. Andere werden nie mehr in P. anrufen können, weil sie tot sind, ermordet. Weil Thio Kie Manson die Orte und jeden und alles, was es in ihnen gegeben hat, restlos ausradiert hat. Die Leichen, für die sich keine Angehörigen finden ließen, würden anonym beigesetzt. Diese Massen von Leichen, überall in Laand, es sei anders nicht zu schaffen.
Sie haben den Leichen Nummern gegeben. Sie sagen, wo genau sie die Leichen gefunden haben, in welchem Massengrab. Im Fernsehen nennen sie die Namen der Dörfer und Städte, in deren Nähe die Massengräber liegen. Auch Namen von Dörfern und Städten, die es nicht mehr gibt. Die Dörfer und Städte, die von Thio Kie Manson ausgelöscht wurden. Auf ihren Karten deuten sie auf jene Punkte, die für die Dörfer und Städte stehen. Dörfer und Städte, an die sich keiner mehr erinnern kann, weil alle, die sich daran erinnern könnten, ermordet wurden. Gäbe es diese Karten nicht und die Punkte auf ihnen, man wüßte nichts davon, daß diese Orte je existiert haben. Und dann sind es noch die Leichen, in den Tunneln von P., die darauf hinweisen, daß diese Karten keine Fiktion sind, sondern daß tatsächlich Menschen an diesen Orten gelebt haben.
Man hat mir seinen Leichnam im Fernsehen gezeigt. Er lag in einem weißen Plastiksack. Ich glaube, ich wußte es schon vorher. Ja, ich bin mir sicher, ich wußte es bereits. Als sie damit anfingen, im Fernsehen die Leichen aus den Massengräbern zu zeigen, um die Leute schneller identifizieren zu können, da wußte ich es. Gleich zu Beginn dieses sonderbaren Spektakels, als ich dachte, daß wir nach zwei Weltkriegen, nach Auschwitz, nach Hiroshima und Nagasaki, nach den Massakern an den Armeniern, nach der Auslöschung von Millionen ukrainischer Bauern durch Verhungern, nach Stalins Gulags, nach Vietnam und Nanking, nach Ruanda, Burundi und Tschetschenien, daß wir nach all diesem Grauen nirgendwo angelangt waren außer in Laand, da wußte ich es. Ich wußte es, weil dieses ganze Morden, diese Millionen Ermordeter nicht etwa zu einem lebendigeren Gewissen oder zu einer höheren Moral geführt haben, sondern geradewegs nach Laand, von wo aus nun über Tage und Wochen Leichen aus Massengräbern im Fernsehen gezeigt wurden. Auch, daß ich ihn wiedersehen würde, ich wußte es schon lange. Und dann, nachdem ich sechs Tage im Fernsehen die Leichen gesehen hatte, sah ich ihn am siebten Tag.
Am siebten Tag sah ich ihn. Zwei Männer, die helle Schutzanzüge, durchsichtige Gesichtshelme und schwarze Gummihandschuhe trugen, öffneten geschickt den weißen Plastiksack. Sie verständigten sich durch Handzeichen und über die Mikrophone, die in ihren Gesichtshelmen angebracht waren. Routiniert näherte sich die Kamera dem Leichnam.
Dann sehe ich ihn. Seine Augen sind weit aufgerissen. Von dem Blau seiner Augen ist nichts wiederzuerkennen. In den Augenhöhlen und in seinem Mund ist Erde. Einer der Maskierten nennt die Todesursache: Genickschuß. Die Handwerker des Todes haben ihn in den Schlaf versetzt. Mit einem Schuß in sein Genick haben sie das ganze Universum ausgelöscht, das er war. Seine Kleider sind gut erhalten. Ich hätte ihn anhand seiner Kleider trotzdem nicht wiedererkannt. Es sind fremde Kleider. Ich kenne sie nicht. Auch sein Körper befindet sich in einem guten Zustand. An seinem Körper erkenne ich ihn sofort wieder. Sein Gesicht und seine Hände sind nahezu unverändert.
Der maskierte Rechtsmediziner erklärt in die Kamera, daß der gute äußere Körperzustand nichts Ungewöhnliches sei. Immerhin seien die Leichen tief vergraben gewesen. Er spricht von der Temperatur und von einem außergewöhnlich langen und kalten Winter. Ich weiß, daß das, was er sagt, richtig ist. Ich habe einmal etwas darüber gelesen.
Dann sagt der Arzt, daß sie ihn gefoltert haben. Sie haben dazu Säure, Strom und eine Säge benutzt. Dann erklärt er, an welchen Stellen des Körpers Säure, Strom und die Säge benutzt worden sind. Zuerst vergesse ich es bereits, während ich es höre. Dann weigere ich mich, es zu vergessen. Dann schweigt der Arzt. Danach sagt er, daß sie ihn vergewaltigt haben. Vermutlich mit dem Stiel einer Axt. Was das angehe, habe man charakteristische Verletzungen gefunden, die keinen anderen Schluß zuließen. Ebenso Splitter einer typischen Holzart, die bei der maschinellen Herstellung von Axtstielen verwendet werde, daneben Spuren eines bestimmten Lacks. Seine Hand, über die der Gummihandschuh gestreift ist, hält ein goldenes Medaillon in die Kamera. Es ist bereits geöffnet. Die Fotografie eines Kindes ist zu sehen. Das Kind ist vielleicht acht Jahre alt, ein Mädchen.
Ich konnte ihn mir tot nicht vorstellen, obwohl ich es schon lange gewußt habe. Daß sein Körper tot sein würde, es war unvorstellbar für mich. Ich habe nie daran gedacht, daß mein Vater tot sein könnte. Das Vorauswissen, das ich von seinem Tod hatte, ändert daran nichts. Der Mann, der nach Laand gegangen war, um etwas zu schaffen, von dem aus man beginnen konnte, sich wieder zu erinnern, später einmal, wenn der Krieg vorbei war. Der verhindern wollte, daß es Thio Kie Manson gelang, nicht nur ein ganzes Volk, sondern jede Erinnerung an es, sein gesamtes Gedächtnis auszulöschen. Der aufgebrochen war, um die Bücher zu retten. Jener Mann, der das Gesicht seines Kindes in beide Hände genommen und mit seinen Lippen den Mund des Kindes berührt hat, in ihrer letzten gemeinsamen Nacht, in der es ihm seine Tränen aus dem Gesicht wischte und ihn auf den Mund küßte: Aleksander Grinberg, der Philosoph, der Dichter, der Lehrer, der Mann, der mich zum Schweigen gebracht hat, zum Schreiben, mein Vater, tot, ermordet, in einem Massengrab verscharrt, wie ein Hund. Und dann, am Ende des Winters, aus diesem Massengrab geholt, in einen Plastiksack gestopft und im Fernsehen gezeigt, damit jemand ihn identifizieren kann.

Vater, ich schreibe dir am Meer, damit du dich an mich erinnerst, wenn du zurückkehrst. Ich habe Worte für dich, Worte, die ich in blaue Hefte schreibe. Und ich habe mein Schweigen, damit kein Wort an dich verlorengeht. Und die Erinnerung von deinen Lippen auf meinem Mund, am Strand, in jener Nacht, in der ich noch einen Vater hatte. Vater, ich schreibe dir am Meer, damit du dich an mich erinnerst, wenn du nicht zurückkehrst. Ich schreibe dir am Meer, daß ich nun weiß, daß du nicht zurückkehren wirst.

In der Nacht nach dem siebten Tag gehe ich an den Strand. Nach dem siebten Tag bleibe ich die Nacht über am Strand und versuche zu weinen.
Am nächsten Tag gehe ich zu Kane in die Praxis. Das Wartezimmer ist voller Leute, die darauf warten, an die Reihe zu kommen. Auch Sie sitzen dort, ich sehe Sie sofort. In Kanes Sprechzimmer sitzt ein Patient auf der Liege. Auf dem Stuhl neben ihm liegen seine Kleider. Ich nehme seine Kleider und werfe sie ihm zu. Ich deute Richtung Tür. Der Patient ist überrascht. Er sieht Kane an. Ich trete energisch mit dem Fuß auf den Boden. Ich deute immer noch Richtung Tür. Kane fordert den Mann mit einer Geste auf, kurz hinauszugehen, er werde sich gleich weiter um ihn kümmern. Als der Mann gegangen ist, kommt Kane mir vorsichtig entgegen. Ich weiche vor ihm zurück. Dann gehe ich durch das Zimmer und setze mich hinter seinen Schreibtisch. Er tritt hinter mich. Er liest, während ich schreibe.
Er ist tot, schreibe ich.
Mein Vater ist tot.
Ich war die Nacht über am Strand und habe versucht zu weinen.
Ich wollte darüber weinen.
Ich wollte über seinen Tod weinen.
Über die Umstände seines Todes wollte ich weinen.
Aber ich konnte es nicht.
Ich kann über seinen Tod nicht weinen.
Auch nicht über die Umstände seines Todes.
Nicht einmal das.
Wenn ich schon nicht über seinen Tod weinen kann, müßte ich über die Umstände seines Todes weinen können.
Die Umstände seines Todes sind entsetzlich.
Ich müßte darüber weinen können.
Ich kann es nicht.
Ich kann nicht darüber weinen.
Ich habe es die ganze Nacht über versucht.
Über seinen Tod zu weinen, über die Umstände, die zu seinem Tod geführt haben.
Zu seiner Ermordung.
Ich kann darüber nicht weinen.
Sie haben ihn gefoltert.
Das sind die Umstände.
Die seines Todes.
Seiner Ermordung.
Mit Strom, Sägen und Säure.
So haben sie ihn gefoltert.
Dann haben sie ihm ins Genick geschossen.
Zuvor haben sie ihn vergewaltigt.
Mit dem Stiel einer Axt.
So haben sie es getan.
Mit dem Stiel einer Axt.
Ich kann nicht darüber weinen.
Ich weiß nicht warum.
Vergewaltigt, mit dem Stiel einer Axt.
Wieso kann ich darüber nicht weinen.
Sie haben ihn aus einem Massengrab geholt.
Sie haben gesagt, in der Nähe der Stadt Z.
Dort haben sie ihn gefunden, nahe der Stadt Z.
In einem Massengrab.
Mit einhundertfünfzig anderen.
Alles Männer.
Mein Vater.
In einem Massengrab.
Vergewaltigt.
Ins Genick geschossen.
Davor gefoltert.
Davor vergewaltigt.
Oder zuerst vergewaltigt.
Und anschließend gefoltert.
Oder abwechselnd.
Gefoltert und vergewaltigt.
Vergewaltigt und gefoltert.
Mein Vater.
Gefoltert.
Mit Strom.
Mit einer Säge.
Mit Säure.
Vergewaltigt.
Mit dem Stiel einer Axt.
Dann ins Genick geschossen.
Danach in ein Massengrab geworfen.
Mein Vater.
Gefoltert.
Mit Strom.
Mit einer Säge.
Mit Säure.
Vergewaltigt.
Mit dem Stiel einer Axt.
Strom.
Säge.
Säure.
Axt.
Stiel.
Diese Wörter sind geschändet.
Die Männer von Thio Kie Manson haben sie besudelt.
Mit dem Blut meines Vaters.
Damit haben sie die Wörter deformiert und sie abstoßend gemacht.
Mit seinem Blut.
Für alle Zeit klebt sein Blut an diesen Worten.
Für alle Zeit kann man diese Wörter nicht mehr benutzen.
Immer.
Es ist vorbei mit diesen Wörtern.
Für alle Zeit.
Strom.
Säge.
Säure.
Axt.
Stiel.
Mit dem Blut meines Vaters.
Diese Umstände.
Die seines Todes.
Ich kann nicht darüber weinen.
Über diese Umstände.
Auch nicht über seinen Tod.
Ich kann nicht weinen.
Ich kann es nicht.
Man hat mir seinen Leichnam im Fernsehen gezeigt.
Er lag in einem weißen Plastiksack verpackt.
So haben sie ihn mir gezeigt.
Meinen Vater.
Seinen Körper.
In einem Plastiksack.
Im Fernsehen.
Sein Körper hat die Nummer Z. 149.
Sein Körper war gut erhalten.
Ich habe ihn wiedererkannt.
An seinem Körper habe ich ihn wiedererkennen können.
Das war möglich.
Seine Hände, sein Gesicht.
Es war ganz einfach, ihn wiederzuerkennen.
Seine Augen waren weit aufgerissen.
Von dem Blau seiner Augen war nichts mehr zu erkennen.
In seinen Augenhöhlen war Erde.
Auch in seinem Mund.
Sie haben das Medaillon in die Kamera gehalten.
Meine Mutter hat es ihm zu seinem Geburtstag geschenkt.
Das war kurz vor seiner Abreise.
Sie wußte noch nicht, daß er abreisen würde, nach seinem Geburtstag.
Da war ich acht Jahre alt.
Dann haben sie die Fotografie aus dem Medaillon geholt und sie in die Kamera gehalten.
Das Bild eines Kindes.
Ein Mädchen, acht Jahre alt.
Dieses Mädchen auf der Fotographie, ich habe mich gleich wiedererkannt, als sie sie in die Kamera hielten.
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem meine Mutter mich fotografierte.
Um meinem Vater eine Freude zu machen.
Es war am Strand.
Und dann ist es im Fernsehen zu sehen.
Nachdem man es aus einem Massengrab geholt hat, ist es im Fernsehen.
Zuvor lag es dort, in der Nähe der Stadt Z., den Winter über.
Wie mein Vater.
Und es ist gut erhalten.
Wie der tote Körper meines Vaters.
Ich wußte es schon vorher.
Ich sah Leichen, tagelang, im Fernsehen.
Ich hörte, was man mit ihnen gemacht hat.
Es gibt Worte für das, was man mit ihnen gemacht hat, als es noch keine Leichen waren, sondern Körper.
Die Körper von Menschen.
Worte, die zu nichts anderem mehr zu gebrauchen sind, wenn man einmal damit angefangen hat, das zu beschreiben, was man mit ihnen gemacht hat.
Nutzlose Worte für alles andere.
Ich wartete darauf, daß man mir seinen Leichnam zeigen würde, vor dem Fernseher wartete ich.
Ich wußte es bereits.
Er lag in einem Massengrab, den ganzen Winter hindurch, in der Nähe der Stadt Z.
Ich wußte es die ganze Zeit.
Den ganzen Winter hindurch.
In einem Massengrab.
Doch, ich wußte es.
Sein Körper hat sich so gut erhalten, damit ihn jemand wiedererkennen kann.
Er hat sich kurz vor Ausbruch des Winters töten lassen, damit ich seinen Körper wiedererkennen würde.
Ich wußte das alles längst.
Von dem einstigen Blau seiner Augen war nichts mehr zu erkennen, obwohl sie weit aufgerissen waren.
Erde in seinen Augenhöhlen.
Erde in seinem Mund.
Die Erde Laands.
Seine Lippen auf meinem Mund, am Strand, in jener Nacht, der des Abschieds.
Und meine Lippen auf seinem Mund.
In jener Nacht, in der er weinte.
In jener letzten Nacht, der nun nichts mehr folgen wird.
Nichts mehr, gar nichts mehr, es ist vorbei.
Mein Vater ist tot.
Dann zittere ich. Und dann kann ich nicht mehr weiterschreiben. Ich zerbreche den Füller. Die Tinte läuft über das Papier. Und ich möchte schreien, aber ich kann nicht schreien. Was aus meinem Mund dringt, klingt mehr wie ein Röcheln, ein entsetzliches Würgen.
Kane nimmt mich von hinten in die Arme, zieht mich vom Stuhl, hebt mich hoch und trägt mich zu der Liege.
Mein ganzer Körper zittert, zuerst in seinen Armen, dann auf der Liege.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, holt er eine Decke und wickelt mich darin ein.
Dann zieht er eine Spritze auf.
Ich schüttele den Kopf.
– Es ist dafür, daß du etwas ruhiger wirst, sagt er.
Mein Körper hört nicht auf zu zittern.
Ich schüttele erneut den Kopf.
Unter der Decke schlage ich mit der flachen Hand auf die Liege.
Kane holt den Block und einen Stift vom Schreibtisch.
Das Schreiben fällt mir schwer, weil ich so zittere.
– Sie haben meinen Vater ermordet, ich will darüber nicht ruhig sein.
Kane sieht mich unsicher an.
Er fragt, ob er etwas für mich tun kann.
Ich schreibe, daß Sie im Wartezimmer sind.
Kane ist erstaunt.
– Du willst, daß ich ihn hole, sagt er.
Während ich zittere, versuche ich zu nicken.
Kane geht hinaus und kommt wenig später zurück.
Sie sind bei ihm.
Darüber bin ich erleichtert. Ich kann nicht sagen warum.
Er erzählt Ihnen, was geschehen ist.
Es ist Ihnen nicht anzumerken, ob Sie ihm überhaupt zuhören.
Sie sehen mich lange an. Sie warten, Sie sind völlig unbewegt.
Mein Körper zittert noch immer.
Sie stellen die Whiskylasche neben sich auf den Boden.
Sie stehen dort. Sie beobachten mich.
Sie versuchen dahinterzukommen, was mit mir nicht stimmt.
Dann kommen Sie langsam näher. Sie treten an mich heran.
Sie nehmen mir die Decke ab.
Sie nehmen vorsichtig meine Hände und ziehen mich mit einem festen Ruck nach oben, bis ich auf der Liege sitze.
Das Zittern meines Körpers ist so stark, daß ich beinahe von der Liege falle.
Dann, ohne Vorankündigung, schlagen Sie mir zwei Male hart ins Gesicht.
Das Zittern hört augenblicklich auf.
Der Schmerz ist so heftig, daß ich weinen muß.
Blut läuft aus meiner Nase und tropft auf mein Kleid.
Sie nehmen mein Gesicht in Ihre beiden Hände. Sie sagen noch immer nichts.
Sie sind auf eine Weise anwesend, daß Sie sehen, was kein anderer sieht.
Und dann nimmt Ihr Blick mich auf der Stelle gefangen.
Sofort haben Sie meine gesamte Aufmerksamkeit.
Sie hören mir mit Ihrem ganzen Körper zu.
Sie sind in mich eingetreten wie durch eine geöffnete Tür, mit derselben Leichtigkeit.
Ich spüre Sie in mir.
Jäh erfassen Sie alles, was mit mir nicht stimmt, mit einem einzigen Blick.
Das Blut aus meiner Nase tropft auf Ihre Hände.
Und dann weine ich lange, ich kann nichts dagegen tun.
Sie sagen nichts, kein Wort. Sie schweigen die ganze Zeit über.
Während dieser ganzen Zeit habe ich Ihre vollkommene Aufmerksamkeit.
Sie können das, was ich durchmache, am eigenen Leibe spüren. Niemand sonst kann das. Ich bin mir ganz sicher. Auch, daß Sie Ihr heftiges, grausames Schweigen allein aus diesem Grund nicht durchbrechen, um Ihre Aufmerksamkeit nicht von mir fernzuhalten.
Das Blut aus meiner Nase vermischt sich mit meinen Tränen auf Ihren Händen.
Dann ist es vorüber.
Sie nehmen Ihre Hände von meinem Gesicht, das noch von Ihren Schlägen brennt, von der Wärme Ihrer Hände.
Sie gehen zurück an die Stelle, wo Sie die Flasche abgestellt haben.
Sie trinken einige Schlucke. Sie schütten Whisky auf ein Taschentuch.
Dann kommen Sie noch einmal zu mir zurück und wischen mir das Blut und die Tränen aus dem Gesicht.
Meine Nase blutet noch immer.
Und dann bleiben Sie, so, in meiner Nähe, mit dem Taschentuch.
Sie bleiben, bis es aufhört zu bluten. Bis es nicht mehr weh tut.
Sie bleiben lange.
Sie streichen über mein Haar.
Sie nehmen meine Hände.
Sie legen Ihre Arme um mich.
Sie halten mich.
Sie sagen kein Wort.
Und danach gehen Sie.
Sie gehen, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Noch nie zuvor in meinem Leben war ein anderer Mensch so in meiner Nähe wie Sie, so gegenwärtig.

Nach dem Tod meines Vaters verhänge ich im Haus alle Spiegel. Ich trage zehn Tage lang keine Schuhe und Strümpfe. Ich zerreiße meine Kleider. Ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Ich gehe nicht in die Schule. Ich gehe nicht an den Strand. Ich schreibe nicht in meine blauen Hefte. Ich versperre die Eingangstür. Ich verdecke die Fenster. Ich sitze im Dunkeln auf dem Boden.
Mein Vater ist tot, tagelang ist das Leben keine Lösung mehr. Ich spüre es nicht mehr, das Leben. Ich spüre überhaupt nichts mehr. Die Trauer über seinen Tod lähmt mich.
Einmal höre ich es klopfen. Ich höre die Stimme von Kane. Ich will ihm nicht öffnen. Ein anderes Mal ist es Ihre Stimme, die ich höre. Ihnen möchte ich öffnen, denn ich verspüre ein tiefes Verlangen, mich irgendwo anzuklammern. Dann möchte ich mich einem Gott vor die Füße werfen, damit er über mich verfügen kann, denn ich möchte gerettet werden. Dann möchte ich Ruhe finden. Ich möchte mich fortbewegen, eine Entfernung zwischen mich und diese lärmende Stille bringen, die mich umhüllt, diese unwirkliche Stille, zu der ich selbst nach und nach werde. Dann habe ich keine Wünsche mehr, weder den Wunsch zu leben, noch den zu sterben. Die Möglichkeiten, das eine oder andere zu tun oder zu wollen, sind aufgebraucht, alle Möglichkeiten sind aufgebraucht. Dann geht es vorüber.
Später frage ich mich, ob sein Vater die Kammern nur deshalb überlebt hat, damit sein Sohn in Laand endet. Gefoltert. Vergewaltigt. Ermordet. In ein Massengrab geworfen. Verscharrt wie ein Hund. Wieder ausgegraben. In einen weißen Plastiksack gestopft. Und im Fernsehen gezeigt.
aus: Marie und der Mann vom Strand
© RW; 2003, Wiesenburg Verlag
ISBN 3-932497-94-5

Lisa, Elisa, Anabelle


Was einem sofort auffiel, wenn man Yorck Berliner ansah, war sein Gesicht. Das war nicht das Gesicht eines Mannes in seinem Alter. Man selbst kannte niemanden, der Ende Vierzig war und ein solches Gesicht hatte. Es war ein gegeißeltes Gesicht, weil es Leid und Schwäche nicht mehr verhüllte. Überraschenderweise traf einen aus diesem zerstörten Gesicht ein kraftvoller Blick, der etwas Zerschmetterndes hatte und dem man auswich, weil man glaubte, ihn nicht ertragen zu können.
Dieser Mann blickte tausendfach konzentriert auf eine Welt, die ihn zurückgewiesen hatte und weiter zurückwies, vor der er aber gleichwohl nicht zurückwich. Die Anspannung, unter der er deswegen stand, war ihm anzumerken, mitunter konnte man sie körperlich spüren.
Leute, die ihn kannten, sprachen nach Anabelles Tod den Medien gegenüber von seiner beängstigenden Grobheit, von einer alles verschlingenden Kraft.
Greta bezeichnete ihn in einer Talkshow als ein wildes Tier, mit der Begabung, einen anderen bis in sein Innerstes hinein zu sehen.
Sie sagte, daß man das, was er sei, nie vollständig erfassen könne, weil er hinter allem, was er zeige, gleichzeitig immer alles verberge.
Nach Anabelles Tod wurde auch der Text wieder aus den Archiven hervorgeholt, mit dem Yorck Berliner Jahre vorher auf den Artikel eines bekannten Journalisten reagiert hatte und der als die Affäre Daniela B. in die Zeitungsgeschichte eingegangen war.
In einem Artikel mit der Überschrift Der gefährliche Mann behauptete dieser Journalist damals, daß Yorck Berliner auch außerhalb seiner Bücher zu allem imstande wäre. Er beschrieb Yorck Berliner als unbarmherzig, hinterhältig und egozentrisch, ohne jedes Mitgefühl. Dessen ewiges Herumreiten auf dem Thema des sexuellen Mißbrauchs nannte er erbärmlich und unappetitlich. Er beklagte, daß es sich bei Yorck Berliner so anhörte, als ob jedes Kind mißbraucht würde, wo man doch bestenfalls von Einzelfällen sprechen könnte.
An einer Stelle schrieb er auch über die Täter, bezeichnete sie als bedauernswerte Kreaturen, als Schwerstkranke, die gerade deshalb Verständnis, Milde und Nachsicht verdienten.
In einem unbegreiflichen Furor erklärte er Yorck Berliner zu einem heimlichen Täter, der, statt sich selbst über Kinder herzumachen, mit seinen Büchern über eine ganze Gesellschaft herfiel und diese schlimmer mißbrauchte, als jeder andere Täter dies jemals mit einem Kind tun könnte. Gewiß wäre es kein großer Verlust, wenn irgend jemand ihn abknallte wie einen tollwütigen Hund.
Yorck Berliner hat dem Journalisten damals geantwortet. Obwohl der Artikel weniger als achthundert Worte umfaßt, ist er jedem, der ihn gelesen hat, unvergeßlich geblieben.
Am Beispiel der fünf Jahre alten Tochter des Journalisten beschreibt Yorck Berliner ausführlich den sexuellen Mißbrauch und begibt sich dabei ohne erkennbare Abgrenzung in die Rolle des Täters. Am Ende des Textes fordert er den Journalisten auf, ihm nunmehr mit Verständnis, Milde und Nachsicht zu begegnen.
Wenige Tage nach der Veröffentlichung lauerte der Journalist Yorck Berliner in Trouville auf und schlug ihn krankenhausreif.
Daraufhin kam es zu einem Prozeß, bei dem das Gericht den Journalisten wegen Körperverletzung zu einer beachtlichen Bewährungsstrafe verurteilte. Zudem mußte er vier Wochen später in seiner Zeitung über die bekannten Statistiken zum sexuellen Mißbrauch informieren und sich im Fernsehen öffentlich dazu erklären.
Noch vor dem Gerichtsgebäude beklagte der Journalist den bereitstehenden Kollegen und Kameras gegenüber, Yorck Berliner nicht getötet zu haben. Jemand wie er habe mit jedem Wort, das er schreibe, sein Recht auf Leben verwirkt. Woraufhin Yorck Berliner mit bewegungsloser Miene erklärte, daß er es nicht bedauerte, die Tochter des Journalisten nicht mißbraucht zu haben. Nur im Gegensatz zu diesem, wüßte er wenigstens, wovon er redete.
Eine bekannte französische Psychoanalytikerin, die in dem Film von Jacques Winter zu der Affäre Daniela B. und zu seinen Kriegsbüchern gefragt wurde, war der Ansicht, daß nichts mehr darüber hinwegtäuschte, daß Yorck Berliner abgrundtief einsam war, fast blind vor Schmerz und Wut, mit einer vom Umherirren und Sehen im Dunklen gesteigerten Empfindsamkeit.
Sie sagte, daß Yorck Berliner niemand sei, der ein Schwert brauche oder eine andere Waffe. Er habe seine Sprache, und er mache mit ihr, daß sie einem widerfahre.
Sie glaubte, daß er sich nacheinander seine mit Schrecken tätowierten Hautschichten abzog und sie ausrollte wie Wandteppiche, um sie mit beiden Händen an die Stirn der Welt zu nageln.
Sie sagte, daß das, was die Menschen an diesem Mann alarmiere, weder seine Bücher, noch dieser beunruhigende Mann selbst seien.
Womöglich sei man an einem Punkt angekommen, wo einem gar nichts anderes übrigbleibe als angesichts dieser Kinderwunden, die er einem vorführe, aufzustöhnen.

Was ich zuerst an Yorck Berliner geliebt habe, war sein brennendes Verlangen nach jemandem, der ihn in seiner tiefen Einsamkeit berührte. Sein Verlangen war wie eine Anrufung, ein Flehen, das um so heftiger war, je mehr er es verbarg.
Erst danach liebte ich seinen Mut, seine große Intelligenz, seine Zartheit, seine Schönheit, die Weite seines Blicks, seine Großzügigkeit und eine so reine Empfindungsfähigkeit, daß es mich jedesmal überwältigte, wenn ich ihrer gewahr wurde.
Er war wachsam und aufmerksam und kam nie aufdringlich daher. Manchmal nahm ich sein Begehren kaum wahr, so leise und zögernd enthüllte es sich. Seine Zärtlichkeit war schmerzlich, als müßte er sie zuvor erst wiederfinden, um sie hervortreten zu lassen. Doch wenn er mich berührte und seine Hände an meinen Armen, Schultern, Schenkeln, meinem Bauch und Rücken entlangstrichen, hatten diese Berührungen etwas Unumschränktes. Seine Hände, sein Mund und seine Zunge ließen keine Stelle und keinen Winkel meines Körpers aus. Dabei waren seine Berührungen wie ein helles Licht, mit dem er in mich hineinleuchtete und machte, daß das Leben mich nicht wieder verließ.
Es ergriff und erschütterte mich wie bei keinem anderen Mann.
Ich erinnere mich an seinen schlanken, geschmeidigen Körper, der auffallend empfindlich war und an dessen Oberflächen es keine Spuren von Zerstörung gab, nur diese überall gegenwärtige Zerbrechlichkeit, die mich verwirrte und beunruhigte wie kaum etwas anderes in meinem Leben.
Als ich ihn das erste Mal berührte, dachte ich an eine hauchdünne Hülle, die bei einer falschen Berührung zerplatzen würde. Seine Haut war noch erfüllt von zarten Spuren einstiger Liebkosungen und Berührungen, die vielleicht von Lisa oder Elisa stammten und die jene unsichtbaren und unhörbaren Zeichen der erfahrenen Mißhandlungen allmählich zurückzudrängen begannen. Sein Körper erschien mir schön und voller Kraft und Ausdauer durch die Widerstände, durch die er hindurchmußte.
Und dann, in manchen Nächten, wenn ich nach der Liebe im Bett meinen Kopf auf seine Brust legte, konnte ich dieses Kind schreien hören. Das Kind, das er einst war und dessen Körper er in seinen Kriegsbüchern wie eine Leinwand ausgebreitet hatte, um darauf die schrecklichen Dinge auszustellen, die ihm widerfahren waren.
Seit Yorck Berliner verschwunden ist, habe ich viel über ihn nachgedacht. Auch darüber, wie es möglich war, daß er Dinge sagte, die sich kein anderer zu sagen getraut hätte.
Ich denke, es war wegen dieses Kindes, das er ständig in sich aufspürte, etwa wenn er, wie in einem seiner Kriegsbücher, die Not und Grausamkeit in den Kinderzimmern von heute mit dem Leid und dem Schrecken in Bergen-Belsen in Verbindung brachte.
Er sprach von den neuen Lagern, wie er die Kinderzimmer nannte. Er skandierte den Tod der Kinder mitten im Leben, er nannte sie Menschenopfer. Überlebende, deren Kinderzimmer man zu Vernichtungslagern gemacht habe und ihre Kinderbetten zu Folterorten. Er sprach von dem Gift, das sie ausströmten, das Gift ihres Überlebens.
Ein solcher Gestank, wie er sagte, daß man sich abwenden müsse, weil man nicht ertrage, was man angerichtet habe.
Kein anderer hat sich derart aufs Spiel gesetzt. Ich glaube, daß auch niemand sonst die Ungeheuerlichkeit des Mißbrauchs eindringlicher geschildert hat.
Wie sehr ein Kind durch jede Art von Mißbrauch seiner Menschlichkeit entkleidet wird, dafür fand er Beschreibungen, die so maßlos waren, daß sie über jede bekannte Vorstellung hinausgingen. Darin war er unversöhnlich bis zum äußersten.
In einer Art wilder Entschlossenheit hatte er all diese Dinge gesagt, die die vorhandenen Wunden noch vertieften. Dabei konnte man ihm immer ansehen, daß er wußte, worüber er sprach.
Ich weiß nicht, ob er glaubte, auf diese Weise das Wesen der Gewalt enthüllen zu können. Ob er dachte, so eine Erklärung finden zu können für den, wie er sagte, massenhaften Mißbrauch von Kindern.
In der bedrängten und bedrängenden Präsenz seiner ganzen Erscheinung in ihrem gefühlten, wirklichen Schmerz erschien er einem wie eine Naturgewalt, die jäh und mit unglaublicher Heftigkeit über einen hereinbrach und der man kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Keiner hätte mehr sagen können, was seine ganze Gegenwart ausmachte. Waren es die Verletzungen, die er überlebt hatte, oder vielmehr, in Folge davon, die langen Jahre der Extraterritorialität, sein Leben an den Rändern, zuerst in der Verleugnung seiner Wunden, dann in der ungebändigten Begegnung und Auseinandersetzung mit ihnen.
Keiner hätte das noch aufzuklären vermocht. Es war so, daß er ein Wissen über die Gewalt hatte wie kein anderer. Und dies nur aus dem Grund: weil sie ihm zugestoßen war und er überlebt hatte.
Auf einer Veranstaltung des Kirchentags, wo Yorck Berliner als Redner eingeladen war und über die Folgen des sexuellen Mißbrauchs sprach, bestand er darauf, daß es um alles ging, um das ganze Grauen, um das ganze Leben, um die äußerste Schwelle zwischen Menschlichem und Unmenschlichem, und daß, wo Tausende betroffen waren, es immer um die ganze Menschheit ging.
Wie auch in seinen Büchern sprach er von den durch diese bestialische Überwältigung entehrten Körpern der Kinder, von ihren Verwundungen bis in die Sprache hinein. Er charakterisierte die Körper dieser Kinder als frevelhaft, ausgehöhlt, schwarz von Schuld, demoliert, zerbrochen, unansehnlich, häßlich, kalt und unfreundlich, als Körperscherben und Reste von etwas, das einmal schön war.
Die Körper von Kindern, wie er sagte, zart und voller Anmut. Und so verführerisch, daß keiner sich zurückhalten konnte, wie er schneidend hinzufügte: ein Verbrechen, diesen Körper nicht in Besitz genommen zu haben, ein so wundervoller Körper sei doch wie dafür gemacht, ihn zu entweihen.
Er nannte die Kinder das Spielzeug der Männer, das diese kaputtmachten und wegwarfen, wenn es älter wurde und keinen Spaß mehr mit ihm machte.
Diese abscheulichen Männer, wie er sagte. Männer, die es fertigbringen, daß sich die Augen der Kinder nicht mehr mit Tränen füllen können. Daß die Kinder nicht mehr weinen, obwohl sie vom Schmerz abgeschabt sind bis auf die Knochen.
Und dann rief er: Seht nur hin, so machen sie es, die Kerle, so lassen sie die Kinder der Welt abhanden kommen, noch bevor sie richtig in ihr ankommen können.
Mit einer Geste, einem Blick, den geballten Fäusten, einem übersteigerten und gleichzeitig herablassenden Mienenspiel oder einem wie tollwütig wirkenden Blick war er imstande, einen Schmerz, eine Agonie, eine ungeheure Trauer oder das Vibrieren eines geschändeten Kinderkörpers vor einem entstehen zu lassen, daß es einem bis in den eigenen Körper hinein weh tat.
Nachdem man ihm einmal begegnet war, war einem klar, daß ihm alles zuzutrauen war. Man wußte, daß er bereit war, jedem anderen die Haut abzuziehen, damit derjenige einmal fühlte wie er oder eines dieser Kinder, von denen er unablässig sprach.
Er war ohne jede Nachsicht, weder sich selbst, noch anderen gegenüber. Er war auch niemand, der auf Mitleid hoffte oder Gnade erwartete. Niemals hätte er darum gebeten, daß man ihn schonte. Damit nötigte er vielen Respekt ab.
Einige wünschten sich, er würde verschwinden, am besten für immer. Nicht wenige erklärten sich bereit, deswegen selbst Hand anzulegen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Nur er verschwand nicht. Ganz sicher kehrte er mit dem nächsten Buch zurück.
Als Jacques Winter ihm in dem Film einige Fotografien zeigt, auf denen zu erkennen ist, wie ein Mann einen Jungen sexuell mißbraucht, und ihn fragt, was man mit so einem Mann machen, ob man ihn therapieren solle, meint Yorck Berliner, daß man so einen Mann nicht mehr therapieren brauche.
Er sagt, daß die Wahrheit sehr viel schlichter sei. Schließlich müsse man diesen Mann einfach nur töten.
– Denn wer will wirklich mit einem solchen Mann zusammenleben. Mit diesem elenden Mann, dem es in über dreißig Jahren nicht gelungen ist, eine solche Last abzulegen, und den es nach wie vor inspiriert, so etwas mit einem Kind zu machen.
In dem Film sieht man zwei Dinge: daß Yorck Berliner das, was er sagt, völlig ruhig sagt, wie nebenbei, und wie bestürzt Jacques Winter über das von ihm Gesagte ist.
– Wenn es sich dabei aber um den Vater des Jungen handelt, wenn der Vater der Täter ist.
Ob er auch dann dafür sei, ihn zu töten, will Jacques Winter von ihm wissen.
– Erst recht, wenn es der Vater ist, sagt Yorck Berliner, ohne daß sich seine Stimme verändert.
Und einen Atemzug später, als ob er ein Gesetz verkündet, erklärt er, daß diese Verbrechen an Kindern Kriegsverbrechen sind.
– Die Väter, sie sind die Kriegsverbrecher. Die Väter, die Männer, sie sind es, die den Kindern tausendfach den Tod bringen. Wenn man sich für die Kinder entscheidet, hat man keine andere Wahl. Man muß diese Männer töten, auch die Väter. Vor allem sie.
Und während die Kamera Yorck Berliner nicht losläßt und in einem scheinbar endlosen Moment sein Gesicht gefangennimmt, sieht man ihn fassungslos bis zur Stummheit im unverhofften Gewahrwerden seiner eigenen Anwesenheit und dessen, was er gerade gesagt hat.
Der Film von Jacques Winter ist voll mit solchen Aussagen, die wie die Spuren eines Wahnsinnigen wirken. Manches von dem, was Yorck Berliner sagt, wirkt scheinbar zusammenhanglos oder folgt einer Ordnung, deren Prinzipen niemand außer ihm kennt. Zeitweise hat man das Gefühl, daß er die Sätze regelrecht aus sich herausreißt. Was er sagt, ist derart heftig und von einer solch ungezügelten Roheit, daß es einen niederschmettert, noch Tage, nachdem man es gehört hat.
Gleich darauf kann man ihn Worte und Sätze sagen hören, die er mit einer beschwörenden Stimme vorträgt, fast wie ein Gedicht, in dem die Worte auf etwas Vergessenes verweisen, das sich aber niemals vollständig entfaltet.
Dort, in seinem Abgrund, sagt er zu Jacques Winter, wenn er wie stumpfsinnig aus den Fenstern hinaus aufs Meer starre, auf das Unsichtbare dahinter, oder wenn er schreibe, rücksichtslos, intelligent, brutal, zärtlich, sei er einer, der vergessen habe, was es bedeute, ein Mensch zu sein und sich in seinem Körper und im Umgang mit den Dingen auszukennen.
– Ein gefährlicher Irrer, in dessen innerem Aufbau alles durcheinandergeraten ist.
Er sagt, daß er zitternd all diese Erinnerungen durchquere, die nicht mehr nur seine seien, und daß er versuche, sie auszulöschen.
– Ich sehe all diese Kinder unter einem bleifarbenen Licht, das von dem Schwarz ihrer zertrümmerten Körper durchzogen ist, ein wahnsinniges Schwarz, das magisch zu mir zurückkehrt und das wie der verdammte Tod um mich herum ist.
Er sagt, daß er wie einer sei, der sich verlorengegeben habe, und der schreibe, in einer tiefen Nacht, um sich gerade nicht verlorenzugeben, um wieder dort herauszufinden.
– Und am Ausgang dieser Nacht stehen all diese Kinder und zeigen mir ihre Verwundungen.
An einer Stelle in dem Film spricht er von Anabelle und sagt leise, daß keiner sie haben wollte.
– Ganz am Anfang, gleich nach der Geburt, hat man sie weggeschafft.
Ihm ist anzusehen, daß er selbst kaum glauben kann, worüber er gleich sprechen wird.
– Stellen Sie sich das vor: Anabelles Mutter hat entschieden, sie nicht am Leben zu lassen. Ihre eigene Mutter hat das getan.
Dann fragt er Jacques Winter, wie man von so einer sprechen soll.
– Ist das die Mutter von Anabelle oder nur eine fremde Frau, die sie ausgetragen und entbunden hat, eine biologische Mutter, wenn man so will.
Er sagt, daß es ausgeschlossen sei, hier überhaupt von Geburt oder Entbindung zu sprechen.
– Herausgepreßt, mit einer Gartenschere abgetrennt, in eine Tüte gepackt und weggeworfen.
Er sieht eine Mischung aus Abneigung, Ekel und Angst bei dieser Frau. Er nennt mögliche psychische Defekte, führt das Milieu an, vermutet eine bestimmte Herkunft. Auch, daß man sie mißbraucht und mißhandelt hat, als sie ein Kind war.
– Eine Frau nimmt diesen kleinen Menschen, wickelt ihn in Decken und geht mit ihm durch eine Winternacht. Sie bleibt vor einem Müllcontainer stehen, schiebt den Deckel zurück und wirft das Bündel hinein.
Er sagt, daß er sie verstehen könne. Er sehe ihre innere Not. Er könne sich gut in sie hineinversetzen.
– Sie müßte nach einem Ausweg gesucht haben. Sie müßte verzweifelt gewesen sein, in einem verletzten Körper, am Ende ihrer Kräfte.
Er glaubt selbst nicht daran, daß sie das mit dem Kind jemals hätte auf sich nehmen können, ohne selbst daran zu zerbrechen.
– Doch muß sie nicht von einer entsetzliche Angst bedrängt worden sein? Fiel sie nicht, als sie zurückging, häufig in den Schnee, blind vor Tränen? Und später, als sie wieder in ihre Wohnung kam, war es da nicht so, daß die Decke sich senkte und diese Frau sich die Lippen blutig biß vor Scham? Hat sie nicht geschrien, so sehr, daß ihre inneren Organe fast zersprungen sind?
Er glaubt, daß sie, wenn sie den Tod ihres Kindes nicht unbedingt absichtlich wollte, ihn doch zumindest billigend in Kauf genommen hat.
– Wer war sie nur, diese unbekannte Frau, für die der Körper ihres Kindes keinen Wert hatte, keinen Geruch? Wer war sie, daß die diesen Kinderkörper nicht erkennen und ihn nicht lieben konnte.
Er sieht Jacques Winter hilflos an.
Man sieht, daß seine Hände zu Fäusten geballt sind.
– Sie hat gar nichts verstanden. Sie hat nicht begriffen, wie sehr diese im Körper ihres Kindes wiedererschienene Seele sie gebraucht hat.
Er macht eine ablehnende Handbewegung und sieht dann zu Boden.
– Alles hing von ihr als Mutter ab, um einen geschützten Ort zu schaffen. Sie war die wichtigste Person, um dieser Seele, die lange umhergeschweift und die von irgendwoher aus der Zeit in dieses Kind gekommen ist, um sich mit seinem Körper zu vermischen, einen Platz in der Welt zu geben, einen unsterblichen Sinn.
Als er wieder aufsieht, haben sich seine Augen mit Tränen gefüllt.
– Und sie hat diesen Körper weggeworfen. Wie eine Tüte mit Müll.
Obwohl er den letzten Satz wütend ausgestoßen hat, spürt man seine ganze Traurigkeit.
– Es läßt sich nichts weiter sagen über diese Frau.
Er sagt, daß man nicht zur selben Zeit für sie und für das Kind sein könne.
– Man muß sich entscheiden, das ist alles, was man darüber wissen muß.
Danach spricht er auch über die ganze Verachtung derer, die einmal entschlossen waren, Anabelle zu retten und ihr beizustehen und die ihr dann, wie er mutmaßt, ihre Hilfe versagt hatten, als es am nötigsten war.
– Keiner hat Anabelle geglaubt, als sie von den schrecklichen Dingen erzählte, die sich in der Adoptivfamilie ereignet haben.
Er erwähnt die gesellschaftliche Stellung des Adoptivvaters.
– Der Universitätsprofessor, diese Stütze der Gesellschaft.
Er stößt die letzten Worte mit großer Heftigkeit hervor.
– Dieser Kerl war ihr in jeder Hinsicht überlegen.
Dann behauptet er, daß zuletzt kaum noch einer begeistert darüber gewesen ist, daß Anabelle überlebt hat.
– Die Unerschrockenheit, die all diese Leute an den Tag gelegt haben, als Anabelle noch ein Säugling war, ihr ganzes Mitgefühl, ihre Fürsorge, das alles schlug in eine furchtbare Abneigung um, die zunahm, je älter Anabelle wurde.
Man merkt, wie erstaunt er darüber ist, daß dieselben Leute, die Anabelle einen Namen gaben, als sie noch ein Säugling war, sich hinterher so verhielten.
– Sie haben sich um Anabelle gekümmert, als sie ein Kind war, und danach, als es schwierig wurde mit ihr, war es ihnen zuviel. Sie waren wie diese Frau, die sie entbunden und anschließend weggeworfen hat.
Er läßt keinen Zweifel daran, daß er es unmenschlich findet, einem Kind Gefühle und Gedanken als scheinbar unvermeidliche Gewißheit einzuprägen und ihm später alles wieder herauszureißen.
– Weil sie sich angeblich nicht an die Regeln gehalten hat. Weil sie auffällig war. Ich meine, wie hätte sie sich an die Regeln halten sollen, wo man ihr gegenüber alle Regeln gebrochen hat, von Anfang an. Wie hätte sie da nicht auffällig sein sollen?
Dann spricht er über die Wirklichkeit der Straße.
Er macht klar, was es heißt, ohne Bleibe zu sein. Was dies bedeutet, für ein Kind.
Er weiß alles darüber, bis ins Detail.
Und dann spricht er wieder von Anabelle. Von ihrer Unterbringung in einem Heim für sozial gefährdete Kinder.
– Und danach wieder die Straße. Davor die Übergriffe durch diesen Kerl, den Adoptivvater, der jahrelang sein eigenes Sexualobjekt aufgezogen hat.
Es ist zweifellos sein unglaubliches Talent, daß, während er spricht, Anabelle vor einem entsteht, so als befände man sich mit ihr in einem Raum. Man glaubt wirklich, sie zu sehen, während er von ihr spricht. Man kann sie neben sich atmen hören.
– Zuerst war Anabelle Abfall für ihre Mutter. Und dann war sie Abfall für diesen Kerl, der sie zur Frau gemacht hat, und das in einem Alter, in dem andere Kinder noch mit Puppen spielen.
Seine Stimme wird laut.
– Sie war die Tochter von niemandem. Sie war immer nur Abfall.
Er sagt auch etwas zu den Männern, die ihr später, als sie auf der Straße lebte, Quartier angeboten haben. Er spricht von ihnen, als würde er sie kennen.
Er nennt sie die furchtbaren Männer.
– Die Macht dieser Männer über Anabelles junges Leben, das ist nicht einfach nur obszön. Das ist ein Verbrechen, und zwar eins der bodenlosen Sorte.
Er sagt, daß Anabelle, nur weil sie sich geweigert habe, ihr zwei oder drei Tage altes Leben in einem Müllcontainer zu vollenden, doch deshalb nicht wie geschaffen dafür sei, das Opfer der Männer auf deren Fleischmärkten zu werden.
– Man kann nicht ständig die Verbrechen der Vergangenheit beklagen und die Erinnerung wie eine Wollust betreiben und zur selben Zeit die Augen vor den Verbrechen verschließen, die sich gerade ereignen.
An der Stelle unterbricht ihn Jacques Winter und fragt, ob er seine Haltung zu dem Mahnmal für die ermordeten Juden in Berlin geändert habe.
Yorck Berliner schüttelt den Kopf.
Man merkt ihm an, wie überflüssig ihm diese Frage vorkommt.
Seine Antwort kommt widerwillig.
– Ich habe damals gesagt, daß ich glaube, daß sich ein solches Mahnmal hervorragend dazu eignet, die Erinnerungen an etwas, das man mit ihm angeblich beschwören will, gerade erst zu verdecken. Auch, daß ich solche Zeichen nicht brauche, um mich an dieses Verbrechen zu erinnern.
An dieser Stelle spricht er im Film zum ersten Mal über Lisa.
– Nachdem ich mit Lisa in Auschwitz war, hat sie zu mir gesagt, daß Auschwitz in jedem Kiesel ist. In jedem Glas Wein. In den Rücklichtern der Autos. Im Rot des Sonnenuntergangs. In der Zärtlichkeit eines Kindes für ein Tier. In den grauen Schatten, die die Sonne jeden Morgen vertreibt, wenn sie über der Stadt erscheint. In den erhobenen Kaffeetassen der Gäste in den Cafés. In den frisch geteerten Straßen, wenn es auf sie regnet. In dem Stottern eines Jungen, der zum ersten Mal in seinem Leben versucht, etwas mit einem Mädchen anzufangen. In den Filmen und Liedern, die von der Liebe handeln und davon, daß man zum Leben verurteilt ist. In den Kissen und Laken der Liebenden und in ihrem Haar und auf der Oberfläche und in der Wärme ihrer Körper. Und dann noch in den Büchern, zwischen den Sätzen und Buchstaben. Und in den Kindern armer Leute und in den Kindern reicher Leute. Überall in den Schatten, die in Hausfluren hängen und in Hinterhöfen und auf Treppen. Auch in den hellen und dunklen Nächten. In jedem Herzklopfen, jedem Weinen und jedem Winken. In all diesen gelingenden und verfehlten Leben. In jeder Krankheit. Eben in allem. Überall hat Lisa Auschwitz gesehen. Und sie hat gesagt, daß das so ist, weil das Entsetzen eine Tür hat und daß sie diese Tür in Auschwitz gesehen hat und daß es aus dieser Tür heraus blutet und daß Auschwitz macht, daß sich diese Tür nie wieder schließt.
Er redet schnell, mit einer Stimme, die wie abgewetzt klingt. Als könnte es bald zu spät sein. Oder als wollte er nicht zu lange bei Lisa verweilen. Als wäre da irgendwo ein Riß in ihm und er hätte große Angst, daß sein Leben durch ihn verschwindet, sobald er länger über sie spricht.
– Ich habe nur gesagt, daß es unbarmherzig ist gegenüber den Kindern, die heute um ihr Leben kämpfen und an ihren Träumen sterben.
Er erwähnt die Debatten um das Mahnmal, die Berichte darüber im Fernsehen und daß die Zeitungen über Monate voll davon waren.
– Ich habe damals gefragt, in welchem Verhältnis diese ganzen Polemiken über die nie heilenden Wunden der Vergangenheit und ihrem künftigen Zeichen aus Stahl und Beton in Berlin zu den Wunden stehen, die den Kindern geschlagen werden, die in diesem Moment nackt auf dem Bauch vor denen liegen, die ihre Körper entweihen.
Man sieht, wie er seine rechte Hand zur Faust ballt und sie mit seiner linken Hand umschließt.
– Ich habe erklärt, daß die Zeit keine Wunden heilt, die der Juden schon gar nicht. Und daß die Zeit eine Bestie ist, die einem nicht die Gelegenheit läßt, nachdem man sich den vermeintlich wichtigen Dingen gewidmet hat, anschließend die Kinder zu betrachten und sich zu wünschen, etwas anders gemacht zu haben.
Als würde in diesem Moment etwas von ihm Besitz ergreifen, das gleichzeitig existiert, neben ihm und in ihm, etwas, das er nicht erkennen kann und dem er entgegenläuft, um es zu verstehen, blickt er zum Fenster hinaus und schweigt lange.
Und dann, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, sagt er:
– Ich habe zu jener Zeit gesagt, daß dieses Stillschweigen über das Leiden der Kinder, die Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens brauchen, um es zu überwinden, hörbar werden und aus dem dunkelsten Schrecken gegen dieses Mahnmal schlagen wird, wie das Meer gegen die Felsen.
Mit schleppender Stimme erklärt er die Kinder zum Zentrum des Problems, jeden Problems.
Er sagt, daß seine Haltung hierzu unwiderruflich sei.
Er spricht von der unbekannten Nacht der Kinder, die diese verschlungen hat, von der erschöpfenden Angst der Kinder, von ihrer Einsamkeit und der äußersten Verzweiflung.
Abermals hebt er die Gefahr hervor, in der sie leben. Er erwähnt die zerrissene Diktion ihrer Sprache, ihr schreckliches Schweigen, die Schreie in ihren Körpern, deren Echos ungehört verhallen.
– Keine ihrer Äußerungen beruht noch auf einem Bezugssystem, welches wir kennen. Vielleicht sind sie schon tot, in jedem Fall sind sie verloren.
In dem Moment bemerkt man, wie er in diese Wahrheit stürzt, die er, würde man ihn danach fragen, nicht näher erläutern könnte.
Man glaubt, die Ströme seiner Wut zu spüren, und sieht, was er aufbringen muß, um sie zu bändigen. Man kann sehen, daß er das ganze Ausmaß der Bedrohung, die er empfindet, laut herausschreien möchte.
– Wenn in Berlin in ein paar Jahren dieses Mahnmal errichtet sein wird, werden Tausende von Kindern in ihrem Leid verschwunden sein. Obwohl sie noch am Leben sind, werden wir sie nicht wiederfinden. Es wird so sein, als befänden sie sich auf dem Grund des Meeres, in dieser tiefen Einsamkeit. An manchen Tagen werden sie nach uns rufen. Wir werden den Nachklang ihrer Rufe hören, ohne zu verstehen. Und irgendwann werden sie verstummen.
Er blickt schweigend zum Fenster hinaus und gibt sich dem hin, was er dort sieht, bewegt sich innerlich darauf zu.
Man gewinnt den Eindruck, er weiß selbst nicht mehr genau, worüber er spricht.
Er sagt, daß er annehme, daß das Mahnmal in Berlin die Kinder verschlungen haben werde. Man werde später bemerken, daß er recht gehabt habe.
– Und jene, die ihre Ideen zu dem Mahnmal in Umlauf brachten und sie zirkulieren ließen und damit den traurigen Gesang der entehrten Körper der Kinder und deren äußerste Verzweiflung von sich fernhielten, werden ihren Beitrag hierzu geleistet haben. Das ist das, was ich gesagt habe: indem sie das Mahnmal nicht angefochten haben, haben auch sie diese Kinder angetastet.
Später versucht er mehrmals von dem für Anabelle verwirrenden Abgrund zu sprechen, den ihr Adoptivvater ihr bereitet hat.
– In dem Moment, als er das erste Mal zu ihr kam, hat er ihr Kinderzimmer zu einem Abhang gemacht. Als er sie hinterher beruhigte, indem er ihr sagte: du bist ein so braves und hübsches Mädchen, mein Mädchen, es ist nichts passiert. Als er ihr das sagte, in der ersten Nacht, in der er bei ihr war. Und als er ihr das dann immer wieder sagte, wenn er bei ihr war. Auch morgens, danach: ein so braves und hübsches Mädchen, mein Mädchen, dem nichts passiert ist. Und dann versuchte Anabelle so zu tun, als ob nichts passiert war. Es ist nichts passiert, sagte sie sich. Sie sagte sich: ich bin ein braves und hübsches Mädchen, zu dem jede Nacht sein Adoptivvater kommt. Ich glaube, daß sie wirklich versuchte, ein solches Mädchen zu sein. Und dann, als die Verwirrung zu groß wurde für sie, versuchte sie das Gegenteil. Sie versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie sich klarmachte, daß etwas passierte und was es war. Sie hörte auf zu versuchen, ein braves und hübsches Mädchen zu sein. Sein Mädchen, damit war jetzt Schluß. Sie wurde ein böses Mädchen. Nur das störte ihn nicht. Er kam trotzdem jede Nacht. Und nun nahm er sie wie ein böses Mädchen, roher, grausamer und mitleidloser.
Er spricht jetzt völlig ruhig, legt die Sätze in den Raum, wo sie unendlich warten, um jemanden zu erreichen.
Er handelt die Adoptivmutter in einem einzigen Satz ab, nennt sie eine tote Frau und ihre Liebe zu diesem Mann unheimlich, drückend, ungehörig.
– Eine Liebe wie eine permanente Mißhandlung Anabelles und ihr größtes Unglück.
Er erklärt Anabelle zu einer Gladiatorin, die nur bis zu einer gewissen Grenze etwas von ihrem Leben versteht.
– Sie schuf sich eigene Räume, in denen sie bestimmten Dingen den Vorzug gibt. Und es gibt andere Räume in ihr, unzugängliche Räume, die miteinander verschachtelt sind. Räume mit engen Durchgängen und unpassierbaren Gäßchen.
Er vermutet Schwellen in ihr, die sie niemals überschreitet.
Er sagt, daß ihr Körper immer gespannt sei, in einem anhaltenden Alarmzustand. Sie höre mit all ihren Muskeln und Nerven, mit allem, was zu ihr gehöre.
– Ein einziges großes Ohr, hinter dem sie sich verbirgt und alles empfängt, was draußen geschieht, ohne immer zu verstehen, was das Geschehene bedeutet.
Mit großem Respekt spricht er von Anabelle als einer erfahrenen Kämpferin, die ihre alten Wunden öffnet und sie dann offenhält, um sicher zu sein, daß der Schmerz, der ihre Wachsamkeit schärft, nie mehr nachläßt.
Und dann sagt er plötzlich, daß er dennoch glaube, daß sie ein Kind sei, das genug habe von den harten Klängen der Welt.
– Anabelle wünscht sich nichts mehr, als daß jemand kommt und das Dröhnen und Donnern und die Kälte aus ihrem Kopf und ihrem Körper herausnimmt. Jemand, der sie weich macht, weich und sanft, bevor sie von dem Lärm in sich zum Schweigen gebracht wird. Bevor sie daran erstickt.
Yorck Berliner sagt zu Jacques Winter, daß jemand Anabelle mit Worten gegenübertreten müsse, die sämtliche Bedeutungen haben, die sie noch nicht kenne. Worte, die wie ein Lied seien, von dem sie verzaubert werde, sobald sie die ersten Töne höre.
– Eine Melodie, in die sie sich vertiefen und zu der sie tanzen kann, bis der Lärm in ihr nur noch ein sich mehr und mehr entfernendes Hintergrundrauschen ist und die Klagen ihres Körpers von einem Bogen aus Wärme umhüllt werden und verstummen.
Er bezeichnet Anabelle als ein Kind, das sich auf der Suche nach dem Kind, das sie nie sein durfte, in den Körper einer Hure verirrt hat und jede Nacht von einem anderen Mann getötet werden durfte.
Wenn man Yorck Berliner reden hört, möchte man vor Scham die Augen senken und sie nie wieder erheben. Man möchte die Worte, die er sagt, mit seinem Leben bezahlen. Man möchte, daß es seinen Worten gelingt, das eigene Herz zu verletzen, um es neu zu erschaffen.
In diesem Moment hört man, daß jemand leise den Raum betritt.
Gleich darauf tritt Anabelle ins Bild. Sie kniet sich neben den Stuhl, auf dem er sitzt und hört aufmerksam zu, was Yorck Berliner sagt.
Abgesehen von ihrer engelhaften Schönheit, die einem angst macht, wirkt sie wie flüchtig, kaum zu fassen, so als wäre sie gar nicht da.
Sie sagt kein Wort, als Yorck Berliner ihre Hand nimmt, noch gibt sie sonstwie zu erkennen, daß sie es überhaupt bemerkt.
Nur wenn man sich zwingt, nicht auf das zu hören, was er sagt und genau hinsieht, kann man den Moment erkennen, wo sie sich zeigt.
Es ist jener Moment, wo sie hinter ihrer Schönheit hervortritt und seine Berührung erwidert, indem sie ihren Daumen über seine Finger gleiten läßt.
Es gibt Szenen in diesem Film, wo Yorck Berliner mit Anabelle zu sehen ist. Wo Anabelle ungreifbar wirkt, unvorhersehbar, so als könnte sie im nächsten Augenblick alles tun, so als wäre alles möglich.
Und dann die Art, wie er ihr begegnet, mit einer Sanftheit und Zärtlichkeit, die voller geheimer Echos ist, auf die sie ihm antwortet, bis man nur noch möchte, daß alles, was jemals gut ist, dort ist, bei ihr, diesem Mädchen, und bei diesem Mann.

Wenn ich den Film heute wiedersehe, frage ich mich, wie Jacques Winter es angestellt, was genau er getan hat, damit wir wie durch eine jäh geöffnete Tür, von der wir vorher nicht einmal bemerkten, daß es sie gab, Yorck Berliners ganze Verwundbarkeit erkennen. Daß wir ihn mit Anabelle sehen, wie er sich ihr nähert, mit dieser unglaublichen Rücksicht, wie er auf sie achtgibt, in jeder Minute. Und seine Zärtlichkeit ihr gegenüber, wobei man beobachtet, daß sie ihr zustößt, und die einen deswegen sofort beunruhigt, weil man das Gesehene für sich nicht auflösen kann.
Es sind Momente, in denen er wie losgelöst von sich wirkt, ganz so, als würde er aufatmen. Als wäre er aus sich herausgetreten, klein wie ein Kind, das sich verlaufen hat, dort, am Strand, gegenüber dem Meer, wo es auf jemanden wartet, der es an der Hand nimmt und zu sich selbst zurückführt. Jemand wie Anabelle, die einem in diesen Szenen nicht wie nach einer Schlacht erscheint, sondern so jung und unverletzt, daß man ihr zulächeln möchte.
Vielleicht ist es zuerst dieses Gefühl, das man die ganze Zeit über hat, während man den Film sieht. Das Gefühl, daß die Kamera Yorck Berliner preisgibt. Daß sie seinen, durch die Gewalt eingeschriebenen Schmerz aufreißt.
Wenn einem dies endlich auffällt, ist es bereits zu spät. Denn in diesem Moment ist er schon eine geraume Zeit nicht mehr in den Kriegsbüchern eingeschlossen, nicht mehr darin eingesperrt.
Die Kamera hat ihn geöffnet und bewirkt, daß er sich dem überläßt, diesem Sichöffnen und der Welt, der Verwirrung über das Neue, das er in sich selbst und an der Welt wahrnimmt.
Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, daß er sich mit der Kamera verbündet, aber man bemerkt sein Einverständnis.
Genaugenommen ist es erst die Kamera, die ihn erschafft. Die Kamera bringt seinen Körper und sein Gesicht hervor, den Körper und das Gesicht des Schriftstellers, die einem entgegenkommen, ohne daß man sie je wieder vergessen könnte.
Dieses Gesicht mit seiner immer frischen Verzweiflung, seiner gleichzeitigen Zartheit, nicht darauf gefaßt, auf nichts, vor allem nicht auf diese Welt. Ein Gesicht, den täglichen Wiederholungen der Kindheit ausgesetzt wie einer Außenwelt, das einem zeigt, daß die Zeit vergeht und wie sie zur selben Zeit nicht vergeht. Und sein Körper, dieser Körper, der zwar an Ort und Stelle vorhanden ist, aber eher wie ein hermetisch abgeriegelter schwarzer Block, stumm und neutral, diesen Ort besetzt haltend, von uns getrennt, unerreichbar. Ein Körper, der die Sätze braucht, die Wörter, um sich zum Sprechen zu bringen, um die Getrenntheit uns gegenüber aufzuheben.
Und dann nähert sich die Kamera diesem Gesicht und diesem Körper und öffnet sie mit unendlicher Langsamkeit. Nach und nach erfaßt sie das darunterliegende, nach allen Seiten Offene und bietet Platz für etwas, das sich gerade verändert, in dieser Sekunde, für etwas Künftiges, von dem man noch nichts sagen kann.
In manchen Szenen wirkt dieses Offene wie eine Gnade, als ob es möglich wäre, daß Yorck Berliner im nächsten Moment ein anderer Mensch werden könnte, und dann wieder so zerbrechlich, als könnte alles jeden Augenblick zu Staub zerfallen.
Wenn ich Yorck Berliner in dem Film wiedersehe, wie er dort steht, an den großen Fenstern seiner Wohnung, und dann seine Stimme höre, wie sie die geschriebenen Worte sagt, den Text der Kriegsbücher. Wenn ich höre, wie diese Stimme spricht, ruft, verharrt, skandiert, während der Blick der Kamera ihn verläßt und den undurchdringlichen Horizont am Ende des Meeres einfängt. Wenn ich die von ihm gesagten Worte von dort zurückkehren, sie sichtbar werden sehe und spüre, wie sie mir entgegenprallen, bis ich glaube, an dem, was sie in mir bewirken, zu sterben, empfinde ich etwas, worüber ich kaum zu sprechen vermag.
Es ist das alles. Etwa, wenn der Blick der Kamera in sein Zimmer fällt. Auf den Ort, an dem er schreibt, mit Blick auf die Weite des Meeres. Auf nichts, wie man ihn sagen hört.
Zu sehen, wie er es mit der Angst bekommt. Ihn weinen zu sehen, seine Traurigkeit, wie bei einem Hund. Mit welcher Brutalität er die Worte aus sich herausschleudert. Ihm dabei zuzuhören, wenn er über seine Kindheit spricht, die spürbar wird, als nähme sie weiter zu, als könnte nichts sie jemals unbrauchbar machen. Als wollte er sagen, daß es danach nichts mehr gab, keine Fluchtwege mehr. Ein Wirbelsturm, und du brauchst dich nicht mehr umzugucken. Alles ist kaputtgegangen, niedergerissen, zerstört. Und in dem Moment zu erkennen, wie sehr er gelitten haben muß, um zu schreiben, was er geschrieben hat. Plötzlich seinen Schmerz zu durchschauen und zu verstehen, daß er ihn fortwährend ertragen hat, ohne sich von ihm zu entfernen. Daß er sich lange geweigert hat, ihn herauszuschleudern. Und was es letztendlich war, was sich in Wut umgewandelt hat, in Unerbittlichkeit, in diese nur schwer auszuhaltende Militanz, nämlich als er verstand, daß es nicht nur ihm widerfahren war, dieses Martyrium, daß dies überall geschah, auf der ganzen Welt, und daß es sich in genau der gleichen Weise entwickelte wie bei ihm. Nur daß er, im Gegensatz zu all den anderen, die ihm so ähnlich waren, in seinen Kriegsbüchern diese grausame, an den Kindern verübte Liebe auf eine Weise vibrieren ließ, daß man glaubte, an einem Bahnübergang zu stehen und ein nicht enden wollender Zug an Grausamkeit würde an einem vorbeiziehen. Und daß er nicht etwa schrieb, um sich am Leben zu erhalten, daß es nicht allein das war, sondern daß er der Gesellschaft den Prozeß machte. Daß er den Leuten mit jedem weiteren Kriegsbuch das Fell abzog oder es für lange Zeit unbrauchbar machte. Keine Lügen mehr, das Kind ist tot. Aber es lebt doch, außer sich! Wie ist das möglich? Wer hat sich des Kindes bemächtigt, es zum bluten gebracht? Was ist ihm widerfahren? Was hat man in seinen Körper eingeschrieben, was versucht auszulöschen durch seinen Tod?

Es gibt diese eine Szene in dem Film von Jacques Winter, die mich von allen am meisten berührt hat.
Sie beginnt damit, daß man Yorck Berliner sieht, der an einem der Fenster seiner Wohnung steht.
Die Kamera verweilt auf seinem Rücken, etwa solange, bis man etwas von dieser enormen Einsamkeit wahrnehmen kann, in der dieser Mann lebt. Bis man spürt, wie müde er ist, wie sehr er sich nach Geborgenheit sehnt, nach Ruhe, nach einem Ende seiner großen Müdigkeit.
Und dann holt die Kamera ihn näher heran, bis man bemerkt, daß er weint.
Und man hört das Meer und den Regen.
Und dann sieht man, wie Anabelle das Zimmer betritt.
Still steht sie in der Nähe der Tür, die sie kurz zuvor leise geschlossen hat, und betrachtet ihn eine Weile.
Dann sieht man, wie sie langsam zu ihm hinübergeht.
Sie muß in den Regen geraten sein.
Man erkennt es daran, daß ihr Haar naß ist, auch ihre Kleidung.
Sie stellt sich neben ihn und nimmt seine Hand.
Man kann nicht erkennen, ob es von ihm bemerkt wird.
Am Boden, zu ihren Füßen, bildet sich eine kleine Pfütze.
– Dein Haar ist ganz naß, sagt er irgendwann, als er sie ansieht.
Anabelle deutet aus dem Fenster, wo man sieht, daß es aufs Meer regnet.
– Der Regen, sagt sie.
Sie lächelt, ihm gegenüber weiter aufmerksam.
Er zieht seine Hand aus ihrer.
Dann geht er hinüber zum Schrank und holt ein rotes Frotteetuch hervor.
Als er zu Anabelle zurückgeht, sieht man, daß sie auf dem blauen Sessel sitzt.
Mit einem Mal wirkt sie erschöpft.
– Warum hast du geweint?
Er antwortet ihr nicht.
Man weiß nicht, ob er sie gehört hat.
Dann sieht man, wie er hinter sie tritt und damit beginnt, ihr Haar trockenzureiben.
Anabelles Augen sind geschlossen.
Plötzlich hört er damit auf, man weiß nicht warum.
Seine Hände liegen ruhig auf ihrem Kopf.
Dann hebt sie ihre Hände und berührt seine.
– Wenn ich mich so fühle, weine ich auch oft, nur ich mache es so, daß es niemand sieht.
Sie legt ihren Kopf an seinen Körper.
Und es vergeht Zeit.
– Ich muß aus den Kleidern raus.
Man sieht Anabelle aufstehen, sieht, wie sie beginnt sich auszuziehen.
Er schaut zur Seite.
– Du bist der einzige, der sieht, wenn ich in mir weine.
Die Kamera fängt ihren nackten weißen Körper ein, die Narben darauf.
– Sieh mich schon an, es ist doch nicht so schlimm.
Man kann ihm ansehen, daß er ihr nicht glaubt. Daß er die genaue Bedeutung der Narben für sie längst entdeckt hat. Daß er alles darüber weiß.
Man sieht nun, wie er an sie herantritt. Wie er, vielleicht wie ein Blinder, beginnt, ihren Körper zu streicheln, die Narben. Die auf dem Bauch, der Brust, dem Rücken, dem Schlüsselbein, den Oberschenkeln.
Für einen kurzen Augenblick glaubt man, die Wärme ihres Körpers zu spüren. Sein Mitempfinden, dort, in seinen Fingern, die zittern, als er sie berührt.
– Du schaust mich gar nicht an.
Daraufhin sieht man, daß er sie anblickt.
Er blickt abwechselnd in ihr Gesicht, in ihre Augen, auf ihre Narben, über die er weiter streicht, als wollte er sie vorsichtig ausradieren.
Unter seinen Blicken schließen sich Anabelles Augen.
– Bei dir kann ich meine Augen zumachen.
Nach einer Weile öffnet sie ihre Augen wieder und bittet ihn, sich mit ihr aufs Bett zu legen.
Man sieht Anabelle auf das Bett zugehen, sieht, wie er ihr folgt, wie er sich zu ihr legt.
Dann liegt sein Kopf auf ihrem Geschlecht.
Ihre Hände fahren durch sein Haar.
– Du hast vorhin an Lisa gedacht.
Sie fragt, ohne eine Antwort zu erwarten.
Ihre Hände sind weiter in seinem Haar.
Man sieht, wie er die Lage seines Körpers verändert, um ihr Berührung zu erwidern.
– Das war ein großes Unglück für dich.
Anabelle und er schauen einander lange an.
Es bewegt einen, wenn man bemerkt, daß sie ihren Blicken niemals ausweichen.
Er schweigt.
Man hört, wie sie ihm etwas über seine Augen sagt.
Sie spricht von der Schönheit seiner Augen.
– Wärst du jünger, ich könnte mich in dich verlieben.
Man wird von diesem Satz überrascht.
Man weiß gleich, daß es ihr ernst ist damit.
Dann fängt sie an, sein Gesicht zu streicheln.
– Hat sie das auch getan?
Er nickt kaum merklich.
– Ich möchte dich küssen.
Ohne seine Antwort abzuwarten, beginnt sie damit, sein Gesicht mit Küssen zu bedecken.
Sie preßt ihren Mund auf seinen, öffnet ihn mit ihren Lippen, fährt mit der Zunge über seine Zähne, berührt seine Zunge mit ihrer, küßt ihn so.
Angesichts ihrer Nacktheit und dieser Zärtlichkeit wird man verlegen.
Man möchte wegschauen.
Doch sofort kommt einem dies lächerlich vor.
Und dann läßt man es sein, schaut weiter, sieht, wie er sie gewähren läßt, wie er ihr Gesicht in seine Hände nimmt, wie er sie küßt, auf die Stirn und die Augen und den Mund.
– Bei dir fühle ich mich nicht dreckig.
Als sie es sagt, wirkt sie unversehrt.
Man vergißt die Verletzungen ihres Körpers, mit dem sie den Verlust ihrer Kindheit beklagt.
Man glaubt ihr sofort, daß es so ist.
Man ist unendlich bewegt.
Erneut sehen sie sich schweigend an, lange, ohne einander auszuweichen.
– Du bist jetzt meine einzige Welt.
Über das, was sie gerade gesagt hat, weinen sie beide.
Und dann lachen sie darüber.
– Ich frage mich, wie es wäre, mit dir zu schlafen.
Sie nimmt seine Hand und preßt sie auf ihr Geschlecht.
Er lächelt.
– Anders, sagt er.
Er streichelt sie dort unten und nimmt dann seine Hand weg.
Man kann nicht erkennen, ob sie darüber enttäuscht ist oder erleichtert.
Sie beginnt einen Satz, sie sagt:
– Plötzlich, im Abendlicht, am Strand von Trouville...
Sie hält seine Hand fest.
Er beendet den Satz, er sagt:
– ... konnte man die Abwesenheit Gottes sehen.
Sie lachen darüber.
Dann bittet Anabelle ihn, ihr Haar zu kämmen.
Man sieht, daß er ihr Haar kämmt.
Man hört, wie er von Lisa spricht.
Er erzählt Anabelle von dem Zettel, den Lisa ihm dagelassen hat.
– Was stand auf dem Zettel?
Er beginnt damit, es ihr zu sagen, und dann bricht er ab.
– Sprich weiter.
Und er kämmt Anabelles Haar und spricht weiter.
– Bin bei Pont Neuf in die Seine gegangen. Habe keine Angst, ich beginne es zu kennen. Die verlorene Zeit, mich endlich alleine zu lassen.
Minutenlanges Schweigen, das die Kamera festhält.
Und dann spricht er von dem Morgen ihrer Abreise nach Paris. Wie verändert Lisa da war.
– Sie saß auf der Fensterbank und starrte auf die Silhouette der Stadt. Sie sah müde aus, alt. Ich fragte sie: Was ist los mit dir? Sie sagte: Da ist ein Stern gewesen, letzte Nacht, der wollte hinunter, deshalb bin ich aufgewacht, ich wollte ihm helfen, den Himmel zu verlassen. Ich setzte mich ihr gegenüber und sah sie an. Sie trank den Kaffee, den ich ihr gebracht hatte. Sie sprach weiter leise mit sich selbst. Ich wollte ihre Wange berühren. Aber ihr Gesicht wich zurück. Ich nahm sie in den Arm. Sie schob mich von sich weg. Sie sagte: Du mußt damit warten, bis es wieder mein Körper ist.
– Sie war ein bißchen wie ich, sagt Anabelle.
Er hört auf, ihr Haar zu kämmen. Man sieht Tränen in seinen Augen, als er weiterspricht.
– In Paris war dieser hübscher Junge, der darauf aus war, mit ihr zu flirten. Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte zu ihm: Ich habe meinen Namen vergessen. Der Junge sagte zu ihr: Ich glaube dir nicht, keiner vergißt seinen Namen. Sie sagte zu ihm: Andere kennen meinen Namen. Ich sagte zu dem Jungen: Lisa, das ist ihr Name. Der Junge deutete auf sie, er lächelte sie an und sagte: Also, wenn das nicht Lisa ist. Und sie sagte zu ihm: Wo ist Lisa jetzt?
Man sieht, wie er abermals ans Fenster geht und hinaus aufs Meer sieht, auf den Regen.
Und dann hört man, wie er es dem Meer sagt, dieses für ihn nach wie vor Ungeheuerliche:
– Am nächsten Tag war sie tot.
Anabelle beobachtet ihn vom Bett aus.
Man bemerkt ihr Warten.
– Jedesmal, wenn ich denke, ich bin darüber hinweg, bin ich noch immer dort, wo ich zuvor war, sagt er.
Dann sieht man Anabelle aufstehen, sie geht zu ihm.
Sie ist bei ihm.
Sie stellt sich zwischen ihn und das Fenster.
Sie küßt ihn, streicht mit beiden Händen über sein Gesicht.
Man merkt, daß sie macht, daß er zurückkommt.
Er spricht, nirgendwohin. Er sagt:
– Elisa hat mir einmal gesagt, daß man die, die einem etwas bedeuten, innerlich freigeben muß, die Toten anders als die Lebenden, um so zu vermeiden, daß sie sich andauernd begegnen. Sie hat gesagt, daß man die Toten freigeben muß, um sie verlassen zu können, und die Lebenden, damit sie einen nicht verlassen.
Mit einer ungemein zärtlichen Geste, die einen anrührt, weil man nicht mit ihr rechnet, legt Anabelle ihre Hände auf seine Augen, auf seine Tränen.
– Man kann immer auf Elisa hören, das weißt du doch.
Man sieht sie in dieser Szene lange so, dort, am Fenster, vollkommen unbeweglich. Das nackte Mädchen mit den Narben und dieser Mann.
Anabelle hat ihre Arme um ihn geschlungen und er hält ihren Körper mit seinen Armen umschlossen, als wollte er ihre Nacktheit vor den Blicken des Meeres schützen.

– An irgendeinem Ort zu sitzen und zu lesen, bedeutet für Anabelle, unerreichbar zu sein für die Dinge der Welt, sagt Yorck Berliner irgendwo im Film zu Jacques Winter.
Er sagt, daß sie auf diese besondere Weise lese, mit dem Bleistift in der Hand, wobei sie sich einzelne Wörter oder ganze Absätze und Passagen unterstreiche und die Ränder mit Anmerkungen und kleinen Zeichnungen versehe.
Ich erinnere mich daran, daß Yorck Berliner ihr regelmäßig Bücher mitbrachte. Anabelle stapelte sie überall in ihrem Zimmer. Er erzählte mir, daß sie niemals die Bücher aus seiner Bibliothek anrührte.
– Wenn ich mit ihr über das eine oder andere Buch spreche und ihr sage, daß ich es ihr geben kann, will sie davon nichts wissen.
Er sagte, daß sie ihn manchmal auffordere, ihr etwas aus einem bestimmten Buch vorzulesen.
– Und wenn es ihr gefällt, bittet sie mich darum, es ihr zu kaufen, damit es ihr eigenes Buch ist.
Er glaubte, daß sie die Wörter in den Büchern mit niemand anderem teilen wollte, nicht bevor sie sie zu ihren Wörtern gemacht hatte.
Einmal, als Yorck Berliner nach Deutschland gereist war, hatte ich während seiner viertägigen Abwesenheit nach Anabelle geschaut. Wegen der Landregen hatte sie kaum das Haus verlassen und die ganze Zeit mit Lesen verbracht oder damit, sich bis in die frühen Morgenstunden amerikanische Filme auf DVD anzuschauen.
Am Morgen seiner Rückkehr nahm sie ein kleines Päckchen von ihm entgegen. Sie tastete es ab und wußte sofort, daß es sich um ein Buch handelte. Es war Jeanne von Jacques Tournier.
Sie las, zuerst für sich, die ersten Zeilen, wobei sich ihre Augen langsam mit Tränen füllen.
Und dann begann sie laut vorzulesen:
– Sie ist klein. Sie ist vierzehn Jahre alt. Sie verbirgt sich noch immer in einem Winkel des Treppenhauses zwischen dem Geländer und dem gelben Hund, um den Garten besser beobachten zu können. So lang, daß sie manchmal den Kopf in ihrem Kleid verbirgt, damit es rascher dunkel werde. Und wenn die Nacht endlich die Terrasse erreicht, ist es, als richte sich plötzlich jemand hinter den Fenstern auf, ein Schatten, der sie zu suchen scheint. Sie macht sich noch kleiner, damit er sie länger suchen müsse, aber der Schatten findet sie immer, steigt Stufe um Stufe die Treppe hinauf und läßt sich neben ihr nieder.
– Dieser Schatten ist wie mein Adoptivvater, er hat mich immer gefunden, sagte sie weinend.
Yorck Berliner stand ihr gegenüber und schaute sie an, wie sie weinte und dabei den Einband des Buches mit ihren Händen streichelte.
Und er ließ sie.
Und er war ihr nah, er war von ungeheuerer Präsenz.
Minutenlang geschah nur dies.
Und dann hörte sie auf zu weinen, es ging vorüber.
Bevor Anabelle am frühen Nachmittag mit dem Buch im Café Strauss verschwand, umarmte sie Yorck Berliner innig. Sie legte ihre Arme um ihn und küßte ihn heftig auf den Mund.
Yorck Berliner lächelte. Er befreite sich und küßte sie zärtlich auf den Hals. Dabei wirkte er erleichtert, so als hätte nichts ihn jemals verletzt oder als hätte das, was ihn verletzt hatte, andernorts stattgefunden, fern von ihm.
Anabelle freute sich über sein Lächeln und küßte ihn wieder, und er machte sich abermals von ihr los.
Ich glaube, er hätte alles von ihr bekommen können. Über die wirkliche Größe seiner Macht über Anabelle konnte er nicht ahnungslos gewesen sein. Er hätte sie tragen können wie ein Kleidungsstück.
Vielleicht hat er sie gerade deshalb nur beschützt. Weil er wußte, welche Verletzungen es da gab, auf der gegenüberliegenden Seite ihrer Wünsche. Und weil er sie kannte.
Als ich ihm in irgendeiner Nacht, lange nach dem 11. September am Strand begegnete und er mir von Anabelle erzählte, waren seine Beschreibungen ihres inneren und äußeren Lebens derart genau und nachdrücklich, daß es mich schmerzte, ihm zuzuhören. Ich mußte ihn mehrere Male unterbrechen, weil ich es kaum ertragen konnte, ihn auf diese Weise über sie sprechen zu hören.
Er sprach von der Rückseite ihres Gesichts wie von dem verschlossenen Teil eines Hauses. Von den verschwiegenen Ängsten, die dort wohnten. Von den Mißhandlungen, die Anabelle erfahren hatte, und dem Rhythmus, in dem sich die erlebte Brutalität in ihrem Körper in dunklen Massen wiederholte. Von dem Schmerz, der in sie eingesunken war und der machte, daß sie Nacht für Nacht in ein Labyrinth voller scharfkantiger Steine hinabstürzte. Von den Narben an ihren Handgelenken, die sie im Schlaf manchmal umklammert hielt. So ein Schlaf, wo man sich nicht bewegte, die ganze Zeit nicht, in der Erwartung eines bevorstehenden Angriffs. Und daß sie es sich nur mit der eigenen Hand machte, wenn er ihr dabei zuschaute und sie alles vergessen konnte, sogar ihn und seine Blicke, weil sie sich in seiner Nähe sicher fühlte und wußte, daß er auf sie aufpaßte.
Er sprach auch von Anabelles großen Lust zu sterben. Davon, wie stark dieses Verlangen war, so viel stärker als ihr Widerwille gegen den Tod. Er sprach von den Männern, denen sie ihren Körper gebracht hatte, von seiner Unbeweglichkeit unter ihnen. Einer Unbeweglichkeit bis zum Verstummen. Vom Keuchen der Männer, ihren Rufen, ihren Schreien. Vom Blut auf dem Weiß der Laken.
Zuletzt sprach er von ihrem Adoptivvater, der Vaseline auf seine Finger tat, um ihre Vagina einzuschmieren, während sie sein Geschlecht rieb, bevor er in sie eindrang. Wie sie anschließend nackt auf die Straße rannte und schrie und der Adoptivvater sie brutal zurückholte und ihr sagte, sie solle still sein, sonst würde er sie zum Schweigen bringen. Und daß sie am Morgen ihres neunten Geburtstages daran dachte, eine Überdosis Tabletten zu nehmen, was ihr aber mißlang, weil ihr Mund zu trocken war, denn sie hatte sich die ganze Nacht erbrochen, nachdem er mit seiner wahnsinnigen Liebe bei ihr gewesen war.
Wenn Yorck Berliner im Film davon spricht, wie er Anabelle an jenem Nachmittag vom Strand aus auf der offenen Terrasse des Café Strauss beim Lesen beobachtete, muß ich hinzufügen, daß umgekehrt auch er oft von ihr beobachtet wurde, mit derselben Intensität und Wachsamkeit. Hätte Anabelle nicht mit dem Buch von Tournier dort gesessen und gelesen, hätte es mich nicht gewundert, wenn auch sie ihn zur selben Zeit heimlich angeschaut hätte.
Allerdings kann ich mir bis heute keinen Grund vorstellen, der Anabelle dazu hätte bewegen können, ihre Lektüre zu unterbrechen. Vielleicht hätte sie einen Moment lang aus Jeanne aufgeblickt und ihn angesehen, wenn er sich neben sie gesetzt hätte, ganz so, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Und dann wäre ihr wieder eingefallen, daß sie ihn kannte. Sie hätte das Buch und den Bleistift auf den Tisch gelegt und seine Hand genommen und ihn still und eingehend betrachtet, wie sie es oft tat.
Danach hätte sie ihm aufgeregt einige der Stellen gezeigt, die sie in dem Buch angestrichen hatte. Etwa die Stelle, an deren Rand sie seinen Namen und das Datum ihrer ersten Begegnung geschrieben hatte: Das damals war wirkliche, warme Zuneigung, die nichts jemals ersetzen konnte ... Oder jene, an deren Rand sie seinen und Elisas Namen gesetzt hatte: ...ihn allmählich zu dem hinzuleiten, was sie im Geheimen die Welt unter dem Schnee nennt: alles, was vergraben ist, aber pulsiert und was man lernen muß, zu befreien.
Ich weiß nicht mehr genau, wann er mir davon erzählte, von den Sätzen, die Anabelle in Jeanne unterstrichen hat. Es könnte ebenfalls in jener Nacht am Strand gewesen sein, als er nach ihrem Tod das erste Mal länger über sie sprach.
Besonders denke ich an diese eine unterstrichene Stelle: Soll man alles wieder in Ordnung bringen, versuchen, einen Plan zu erkennen...
Ich glaube, daß es darauf keine Antwort gibt. Falls es doch eine gibt, wird niemand sie jemals finden.
(…)

Die erste Liebe in Anabelles Leben ist nicht ihr leiblicher Vater, den sie sowenig kennt wie ihre Mutter. Die erste Liebe ihres Lebens ist ein Fremder.
Er, dieser Fremde, begegnet ihr spät, am Ende ihrer Kindheit, die genaugenommen bereits zu Ende ist, bevor sie anfangen kann.
Plötzlich gibt es da jemanden, der sie kennt und der sofort alles von ihr weiß. Jemand, der sie mitnimmt, ohne etwas von ihr zu wollen. Und der da ist, wenn sie sich die Haare ausreißt oder das Gesicht und die Arme und Beine zerkratzt oder mit Rasierklingen blutig ritzt. Jemand, der sie festhält, wenn sie sich laut schreiend an die Wände ihres Zimmers wirft. Oder der sie verbindet, wenn sie sich ihrem Kopf an der Wand blutig hämmert.
Da gibt es jemanden, der sie sehen kann und der manchmal sogar schnell genug ist, um sich ihr in den Weg zu stellen, bevor sie sich ein weiteres Mal verletzt. Der ihr zeigt, daß sie, auf andere Weise als bisher, ertragen kann, was ihr vergangenes Leben in ihr hervorbringt. Und der an anderen Tagen, wenn sie sich unter ihrem Bett verkriecht und sich nicht mehr rührt, stundenlang bei ihr sitzt und mit ihr redet oder schweigt, bis sie wieder hervorkommt.
Unerwartet gibt es da also jemanden in ihrem Leben. Jemand, mit dem sie mitgegangen ist.
Es ist dieser Fremde, der Schriftsteller, der ihr von Anfang an zuhört, wenn sie ihm etwas erzählt. Sie kann sich nicht erinnern, daß jemals zuvor irgend jemand auf diese Weise aufgepaßt hat, daß jemand anders ihr zugehört hat, wenn sie etwas sagte. Nicht auf diese Weise.
Sobald etwas in ihr erstarrt und sie nicht mehr weiter weiß, spürt sie, daß er ihrem Schweigen lauscht wie kurz vorher ihren Worten, mit derselben Aufmerksamkeit. An der Art, wie er ihren Worten, wie auch ihrem Schweigen nachgeht, erkennt sie, daß er mit ihr fühlt und sich auf sie einstimmt.
Ohne daß sie daran zweifelt, aber auch ohne etwas darüber zu wissen, denkt sie, daß seine Gründe hierfür andere sind als die aller anderen, die ihr zuvor begegnet sind. Ihr fällt bald auf, daß er sich tatsächlich für das interessiert, was sie ihm erzählt, daß er wirklich Sympathie für sie empfindet.
Wie sehr er von dem, was sie ihm erzählt, berührt wird, verwundert sie zunächst. Auch, wie behutsam und konzentriert er ist, wenn er mit ihr spricht. Das alles ist neu für, sie kennt es noch nicht. In der Vergangenheit ist es immer so gewesen, daß man nur so getan hat, als würde man ihr zuhören. So wie man anschließend dafür auch immer etwas von ihr gewollt hat.
Schon nach ein paar Wochen wird ihr klar, daß er vor allem anderen weiß, wovon er spricht, und daß sie ihm vertrauen kann, wenn er ihr sagt, daß das, was sie erlebt hat, nicht alles ist, was sie ausmacht. Daß das Gräßliche, das hinter ihr liegt, nur halb so machtvoll ist, wie sie meint. Daß sie noch jung ist. Und daß sie doch alles erreichen, sich neu erfinden, alles mögliche aus sich machen kann.
Sie zweifelt keinen Moment an seinen Worten. Außerdem gefällt es ihr, wenn er so mit ihr redet und macht, daß sie sich gut fühlt, irgendwie wertvoll, als ob sie ausgewählt ist.
Dann glaubte sie ihm sogar manchmal, wenn er ihr sagt, daß er sie schön findet, schön und klug, ein schönes und kluges Mädchen.
Vor allem fühlt sie sich schön, wenn sie nackt im Badezimmer steht und dieses Mädchen sie aus dem großen Spiegel anblickt, mit einem von Narben entstellten Körper, und er hinter sie tritt und einige der Narben sanft berührt und sie sich dann an ihn lehnt und er ihr Haar streichelt und mit seinen Fingerspitzen über ihr Gesicht streicht und ihren Hals und anschließend über ihren Körper und ihr dabei etwas von der Blondheit ihrer Haut ins Ohr flüstert, der die Narben nichts anhaben können.
Noch bevor sie von Lisa erfährt, ahnt sie vielleicht, daß er das, was er ihr sagt, früher bereits zu irgendwem gesagt hat, auf ähnliche Weise. Sie kann nicht erklären, wie sie darauf kommt. Vielleicht eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen, verbunden mit einer unerfüllbaren Sehnsucht nach etwas, das er vor sehr langer Zeit verloren hat.
Als er ihr dann von Lisa erzählt, weint sie, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geweint hat. Sie weint, weil sie versteht, daß Lisa wie ein zerbrochener Stein gewesen ist, den er versucht hat wieder zusammenzusetzen. Ihr wird klar, daß es mit ihr ähnlich ist, daß er mit ihr dasselbe versucht wie mit Lisa und wie ernst es ihm damit ist.
In der Nacht, nachdem er ihr von Lisa erzählt hat, liegt sie neben ihm im Bett und ist sich gewiß, daß er sie liebt. Sie schlingt ihre Arme um seinen Körper und preßt sich fest an ihn. Sie fühlt etwas für ihn, daß sie noch nie zuvor für einen Menschen empfunden hatte, nicht einmal für sich selbst. Es fühlt sich an wie ein Druck auf die Innenseiten ihrer Rippen, ganz anders als die Last, die sie sonst dort spürt. Eher wie ein Gewicht, das ihren Körper anhebt, statt ihn niederzudrücken.
Wenn sie die Augen schließt, sieht sie winzige Wasserperlen, die sich hinter ihren Augen sammeln und dann durch ihre Kehle hinunter in ihre Magengrube stürzen und sich von dort aus einen Weg in das verwahrloste Feuchtgebiet zwischen ihren Schenkeln bahnen und dort alles zum Kribbeln bringen. Endlich fühlt sie, daß dort unten etwas vorhanden ist, das sie besitzt, etwas, das nicht den anderen gehört, obwohl es, seit sie denken kann, immer den anderen gehört hat.
Während sie einschläft, denkt sie, daß es darauf ankommt, sich jede Nacht so neben ihn zu legen und dort einzuschlafen und jeden Tag mit ihm anzufangen. Doch dazu muß sie bei ihm bleiben und darf nicht wieder fortlaufen.
Um den alten Fallen zu entkommen, muß sie sich an alles in ihrem Leben erinnern, was ihr einfällt, und sie muß es ihm erzählen, damit er die einzelnen Teile für sie richtig zusammensetzt. Er wird ihr schon zuhören, allem, was sie zu sagen hat. Und selbst wenn sie ihre innere Stimme verliert und mit der unvermittelten Stille nicht fertig wird, wird er, lange bevor der Schmerz einsetzt, ihren Kopf nehmen und ihn auf seine Brust legen und ihr vom Dämmerlicht über dem Fluß erzählen. Sie wird sich an ihn schmiegen, unterdessen er ihr Haar und ihren Hals streichelt, bis sie ihre Stimme wieder in sich hören kann.
Und dann, während sie fühlt, wie sie sich ihm nähert, wird er ihr sagen, wie sie zu sich hinkommt, damit sie sich selber sehen kann, und was sie tun muß, um sich zu erfinden. Er wird ihr erklären, warum sie nach rechts gehen muß, wenn ihr gegenüber jemand darauf beharrt, sie soll nach links gehen, nur weil alle nach links gehen. Auch, warum es für jemanden wie sie zwecklos ist, sich eine Karte zeichnen zu lassen, um sich besser zu orientieren. Warum sie vielmehr die Augen schließen und in sich in einen toten Winkel ihrer Erfahrungen kommen und dort alles wie Blindenschrift erspüren muß, damit die Dinge für sie einen Sinn ergeben können.
Sie muß ihm nur zuhören, wie sie noch nie jemanden zugehört hat. Niemand außer ihm kann ihr sagen, daß sie das, was sie erlebt hat, nicht einfach so abschütteln kann wie einen Alptraum, damit das Leben für sie weitergeht, sondern daß sie ihr Leben zuerst einmal gewinnen muß. Zudem wird sie keinem anderen glauben, wenn der ihr sagen würde, daß sie nach dem Unbekannten Ausschau halten muß, um nicht den Halt zu verlieren. Und daß es ausreicht, kleine Schritte zu machen, weil schon die kleinste Veränderung an der Oberfläche die größte Veränderung in der Tiefe bewirkt.
Nur ihm, ihm glaubt sie. Sie glaubt ihm alles, was er zu ihr sagt. Nicht wie so eine Dumme, die aufhört zu denken, wenn ihr einer etwas sagt. Vielmehr weil sie sieht, daß er immer weiß, wo etwas herkommt.
Und während sie ihm mit ihren Augen überallhin folgt, ist sie nun nicht mehr erstaunt darüber, daß er sie zu einem Teil seines Lebens macht und dabei zu einem Teil ihres Lebens wird.
Jeden Morgen frühstückt er mit ihr, sie machen gemeinsam Besorgungen, kochen am Abend und sehen sich Filme auf DVD an, hören Musik oder lesen. Sie gehen oft am Strand entlang und beobachten das Meer und den Himmel.
Am Anfang nimmt er ihre Hand, bis sie es irgendwann wagt, seine zu nehmen.
Sie geht wieder zur Schule, fährt jeden Morgen mit dem Zug nach Lisieux, erzählt dort, daß sie bei ihrem Onkel lebt.
Dieser Fremde, denkt sie sich an manchen Tagen, wenn er ihr bei den Hausaufgaben hilft oder ihr geduldig etwas erklärt, bis sie es versteht, ist vielleicht wie ein Vater oder ein entfernter Verwandter, von dem sie lange nicht wußte, daß es ihn gibt, und der in ihrer größten Not unangemeldet aufgetaucht ist, um sich um sie kümmern. Sie vergleicht das, was er tut, mit dem, was ihre Kameradinnen aus der Schule über ihre Väter erzählen, und findet, daß er seine Sache gut macht.
Dann, nach einer gewissen Zeit, die sie mit ihm verbringt, stellt sie fest, daß er doch nicht wie ein Vater ist, auch nicht wie ein Onkel oder ein anderer Verwandter. Sie findet heraus, daß sie ihn mit niemandem vergleichen kann, daß er anders ist als alle anderen, die sie kennt. In Wirklichkeit ist er nur ihr ähnlich. Auch die Beziehung, die sie miteinander haben, unterscheidet sich von allen anderen Beziehungen, die sie kennt oder von denen sie gehört hat.
Das, was sie mit ihm hat, kann sie nicht mit einem Vater haben. Das ist ausgeschlossen. Diese Nähe zu ihm, daß sie ihn berühren kann, auf diese Weise, und daß er ihre Berührungen erwidert, genauso wie sie es braucht, damit sie sich gut fühlt, das kann kein Vater. Außerdem kann kein Vater jemals ihre Wunden sehen, geschweige denn verstehen, was es bedeutet, auf diese Weise zu leben, so verletzt. Das kann nur jemand, der Vergleichbares erlebt hat.
Schließlich macht sie sich eigene Vorstellungen von ihm und dem, was sie mit ihm hat, und entscheidet sich dafür, daß dieser Fremde weniger ein Vater für sie ist als ein Freund, der mit ihr einen Pakt geschlossen hat und sich mit ihr verbündet, damit sie ein Leben, von dem sie alles weiß, aufgibt für ein Leben, das sie noch nicht kennt.
Ich sehe gewisse Dinge zwischen ihnen, die sie einander nicht verschwiegen und die sie annahmen und zuließen, innerhalb der Grenzen, die sie für sich ausgemacht hatten. Berührungen, Zärtlichkeiten, diese besondere Nähe, die außerhalb aller anderen Grenzen lagen. Dinge, die niemand von uns jemals verstehen, geschweige denn hätte anerkennen können, so sehr gingen sie über jede unserer Vorstellungen hinaus.
Man konnte es kaum glauben, nach allem, was man darüber gehört und gelesen hatte, daß einer von uns sich auf diese Weise seiner Tochter nähern würde, wie er sich Anabelle genähert hatte.
Eine solche Intimität zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, wie man das in dem Film von Jacques Winter mit eigenen Augen gesehen hatte, das war ausgeschlossen. Auch was er selbst darüber geschrieben hatte, über sich und dieses Kind. Und das dann noch in Caen aufzuführen. Wie skandalös. Gewiß hatten sie recht, sie ihm wegzunehmen.
Von alldem abgesehen, war es für die meisten Leute sowieso nur schwer vorstellbar, daß es Menschen wie ihn und Anabelle überhaupt gab. Menschen, die so schwer verletzt waren, daß einen ihr Anblick, wenn er einen nicht sofort beschämte, nach kurzer Zeit aggressiv machte. Für einen selbst blieb es undenkbar, daß es andere Menschen waren, die ihnen diese Verletzungen beigebracht hatten.
Daß es tatsächlich Menschen waren, die den beiden das angetan hatten, wie sollte man erfassen, was das bedeutete, auch für einen selbst, der man dazugehörte. Vor allem, daß es eben diese Wunden waren, das ganze Ausmaß dieser Wunden, die seine und Anabelles Lebensweise beeinflußte.
Manchmal wirkten die beiden, als wären sie von allem abgetrennt, als wären sie von einem fremden Planeten auf diese Welt gekommen.

In dem aufgegebenen Manuskript habe ich über diesen Jungen geschrieben, den Anabelle aus dem Meer gerettet hat.
Ich schrieb, daß dieser Junge, Albert, später einmal, wenn er ein Mann wäre, sagen würde, er habe da draußen nicht allein um sein Leben kämpfen müssen. Ganz deutlich hörte ich ihn sagen, daß er an diesem Nachmittag nicht gezwungen gewesen sei, sich allein zu retten. Er habe den Körper Anabelles gespürt, dessen Wärme und Festigkeit. Bereits in dem Moment, als sie nach ihm gegriffen habe, sei von ihrem Körper eine Sicherheit ausgegangen, die sich auf ihn übertragen und ihn sein ganzes Leben nicht mehr verlassen habe.
Ich schrieb, daß er nie wieder Angst verspürt hat, zumindest nicht eine so entsetzliche Angst wie an jenem Nachmittag im Meer. Die Angst eines Fünfjährigen, der um sein Leben kämpfen mußte, im Körper eines Mannes, das ist ihm erspart geblieben. Ich hörte, wie er sagte, daß er manchmal noch zusammenzucke, weil er zu einer beliebigen Tageszeit Anabelles Herzschläge an seinem Rücken spüre. Ihr vor Anstrengung hämmerndes Herz, das er damals habe fühlen können, als sie mit ihm zurückgeschwommen sei.
Albert Kahnweiler, so habe ich geschrieben, würde diese Geschichte oft erzählen, den Kindern am Strand oder sonstwem. Gewiß würde er sie später seinen eigenen Kindern erzählen. Sogar nachdem er nicht mehr davon sprechen würde, bliebe die Berührung durch Anabelle an jenem Nachmittag im Meer die ganze Zeit über in seinen Körper eingeschrieben wie eine tiefe, unauslöschliche Umarmung.
In dem aufgegebenen Manuskript habe ich nicht darüber geschrieben, daß er und Anabelle sich nie wiederbegegnet sind.
Ich habe nicht darüber geschrieben, daß Albert, unmittelbar nachdem er von Anabelles Tod erfahren hat, alleine mit dem Zug nach Quimperle gefahren ist. Jemand hat ihn dort am Ufer stehen sehen, an der Stelle, wo man Anabelles Sachen gefunden hatte.
Er habe dort gestanden, als versuchte er zu begreifen, daß Anabelle tot war. Anabelle, die sein Leben gerettet hatte.

Einige der Leute, die an jenem Nachmittag am Strand waren, meinten später, Anabelle sei irgendwie vorbereitet gewesen. Als ob sie gewußt hätte, daß das passieren würde. Anders sei es nicht zu erklären.
Jemand sagte, er habe den Jungen in dem Boot gesehen und wie das Boot von den Wellen zum Schwanken gebracht worden sei. Im selben Augenblick sei Anabelle schon an ihm vorbeigerannt. Sie habe sich während des Laufens die Kleider vom Leib gerissen und sich dann ins Meer gestürzt.
Und dann sei sie hinausgeschwommen.
Die Leute blieben am Strand stehen und beobachteten nervös Anabelle, die lange, sehr lange hinausschwamm.
Plötzlich verschwand der Junge zwischen den Wellen. Man konnte ihn nicht mehr sehen.
Gleich darauf sah man ihn wieder, aber nur kurz.
Dann verschwand er abermals, dieses Mal länger.
Schon glaubte man, seine Angst fühlen zu können, zu spüren, wie sich seine Lungen mit Wasser füllten, wie er um sein Leben rang. Bis man sah, wie der Junge von Anabelle gepackt wurde. Bis man aufatmete.
Einige der Leute klatschten vor Erleichterung in die Hände oder schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Andere fragten sich, ob die Kleine es wohl schaffen würde, mit dem Jungen zurückzukommen. Was für die anderen überhaupt keine Frage war. Vor allem die Kinder wußten es. Selbstverständlich würde sie den Jungen retten.
Und dann, als Anabelle mit dem bewegungslosen Jungen zurückkam, applaudierten ihr die Leute, die am Strand waren. Und die Kinder, diese wunderbaren Kinder, die Anabelle so sehr liebten, blieben in ihrer Nähe. Sie bildeten einen Halbkreis, hinter dem die Erwachsenen stehenblieben.
Und dann ist es so, daß ich, während ich dies hier schreibe, sehe, daß da noch etwas anderes war. Etwas Besonderes, das sie mit diesem Jungen in ihren Armen verband. Daß sie ihn hielt, wie sie ihren kleinen Bruder gehalten hätte, hätte sie einen gehabt. Und daß jedes dieser Kinder am Strand ihr auf dieselbe Weise nahe war: ein Bruder, eine Schwester, alle aus jenem Geschlecht, dem der Kinder, um die sie sich sorgte, weil sie wußte. Wußte, was man ihnen antun konnte. Für einen Erwachsenen hätte sie keinen Finger gerührt, da bin ich sicher.
Ich sehe wieder, wie der Arzt sich einen Weg durch die Menge bahnte und ihr den Jungen aus den Armen nahm und mit zwei Sanitätern erste Rettungsmaßnahmen einleitete.
Anabelle stand auf, nackt, atemlos und so entkräftet, daß ihr vor Erschöpfung Tränen in den Augen standen. Ihr ganzer Körper zitterte. Er wirkte kraftlos, dieser Körper, als würde er im nächsten Moment zusammenbrechen. Während sie diese Schwäche überwand, wurden die Leute sprachlos ihrer Narben gewahr. Wie aus allen Himmeln gefallen, starrten einige ihren vernarbten Körper an.
Die ganze Zeit über blieb Anabelle gänzlich unempfindlich gegen die ihr dort am Strand unvermittelt zuteil werdende Aufmerksamkeit, mit der sie nicht das geringste anzufangen wußte.
Das Erschrecken, das ihre Narben bei einigen auslöste, interessierte sie nicht. Es ist schwer zu sagen, ob es überhaupt von ihr bemerkt wurde. Sie wirkte wie ein völlig verschlossener Raum, den man nur von außen betrachten konnte.
Während man ihr ein Handtuch reichte, mit dem sie sich trockenrieb und anschließend in ihre Kleider schlüpfte, beobachtete sie voller Mißtrauen den Arzt und die Helfer, die den Jungen mit ein paar geübten Handgriffen ins Leben zurückholten.
Als der Junge hustend und Wasser erbrechend zurückkehrte und sich ihre Blicke trafen, öffnete sich ihr ansonsten eher abweisendes Gesicht für einen Moment.
Ich sehe dieses feenhafte Lächeln wieder, das sie ihm schenkte. Es war ein Lächeln, daß er sein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Und die Kinder. Sie schlugen sich untereinander in die Hände und strahlten ihre Heldin an oder umarmten sie. Für sie war Anabelle eine von ihnen. Und nun hatte sie einen von ihnen vor dem sicheren Tod bewahrt. Sie hatte den Jungen hören können, noch bevor er um Hilfe gerufen hatte. Sie konnte alles sehen, schon bevor es geschah. Mit den Augen eines Adlers und dem Gehör eines Indianers, wie ich einen der halbnackten Jungen sagen hörte.
Und dann hörte ich jemand sagen: Das ist der Sohn des Richters.

Von der Rettung Alberts durch Anabelle erfuhr Yorck Berliner von Sandrine Landier, als er in der Woche darauf am Marktag an ihrem Stand den bestellten Fisch abholte.
Er erzählte mir, daß Sandrine Landier noch nicht einmal richtig begonnen hatte, über das Ereignis am Strand zu reden, als sie von ihren Kindern bereits unterbrochen wurde.
Während die zwölfjährige Paula die Augen verdrehte, verzog ihr drei Jahre jüngerer Bruder Paul das Gesicht zu einer mißmutigen Grimasse.
Die Kinder redeten unentwegt dazwischen und behaupteten, daß alles ganz anders gewesen war, als ihre Mutter es erzählte.
– Diese Geschichte.
– Also, sie handelt davon, daß Anabelle einen Jungen vor dem Ertrinken rettet.
– Und von den Cornflakes heute morgen.
– Und davon, daß die Milch sauer war und ich die Cornflakes trocken essen mußte, was voll eklig war.
– Auch von dem toten Fuchs auf der Route Nationale.
– Der Fuchs war nicht tot, ich habe es dir schon heute morgen gesagt.
– Und von der schönen Anhalterin mit den Rastalocken.
– Die gerochen hat wie die Fischreste in der Tonne hinter dem Haus.
– Und von den Chips und den Crepés, die wir verdrückt haben.
– Und von den zwei Flaschen Cola.
– Und von der Skulptur von Flaubert, die Paul angepinkelt hat, weil er es nicht mehr halten konnte.
– Und noch von unserem unendlich dicken Cousin Pierre aus Limoges.
– So dick, daß er die Sonne verdunkelt, wenn er vor sie tritt, echt wahr.
– Und davon, wie er im vergangenen Jahr beinahe ertrunken wäre, in der Rhône, als er am Ufer spielte.
– Und dann geht es in der Geschichte noch um Alberto, der früher in unserer Straße gewohnt hat und wieder zu seinem Vater nach Montpellier gezogen ist.
– Davor ist er bei Cherbourg von einer Fähre gefallen.
– Zumindest haben sie das behauptet.
– Aber er ist wohl eher gesprungen, das ist doch ganz klar.
– Er wollte bei seiner Mutter sein, die im Winter davor gestorben war.
– Kein Erwachsener versteht das: daß ein Kind so traurig sein kann.
– Für sie bleibt Alberto von der Fähre gefallen.
– Nie würden sie zugeben, daß er gesprungen ist, weil er bei seiner Mutter sein wollte.
– Erzähle endlich von Anabelle.
– Also, der Himmel war grau.
– Ein helles Grau, so eins, das man in keinem Wasserfarbenkasten findet.
– Und der kleine Albert da draußen, in seinem winzigen Boot.
– Und dann zwischen den riesigen Wellen.
– Und niemand in der Nähe, um ihn herauszuholen, auch Gott nicht. Nur Anabelle, die ganz weit hinausgeschwommen ist, bis man sie vom Strand kaum noch sehen konnte.
– Sie hat das ganze Meer durchquert, von einem zum anderen Ende, total kraß.
– Aber sie hat ihn zurückgebracht.
– Und vielleicht war Gott ja doch da.
– Wenn er da war, dann in Anabelle.

Anabelle hatte einem Jungen das Leben gerettet und kein Wort darüber verloren. So als wäre ihr klar gewesen, daß sie, indem sie zu dem Jungen hinausgeschwommen war, bereits alles verändert hatte.
Selbst wenn sie Albert Kahnweiler nicht hätte retten können, wenn sie da draußen gescheitert wäre, hatte sie doch alles riskiert und ihr Leben für ihn in die Waagschale geworfen.
Yorck Berliner sah das große Risiko, das sie eingegangen war und war beeindruckt von ihrer Tapferkeit.
Obwohl es ihm sichtlich schwerfiel, vermied er es, Anabelle darauf anzusprechen, nachdem Paul und Paula ihm davon berichtet hatten.
Anabelle werde ihre Gründe haben, nicht mit ihm darüber sprechen zu wollen, sagte er zu mir.
Ich erinnere mich, wie wir ein paar Wochen, bevor er spurlos verschwand, noch einmal über diesen Vorfall am Meer gesprochen haben. Mit welchem Nachdruck er darauf bestand, daß man einfach daran glauben mußte, daß man immer nach dem Guten verlangte. Ganz egal, was einem widerfahren war.
– Sogar wenn man sich weigert, sich dem Guten näherzubringen, ist doch alles in einem darauf angelegt, ihm entgegenzugehen. Nach allem, was Anabelle widerfahren ist, welchen Grund sonst hätte sie haben sollen, den Jungen zu retten.
Er meinte, daß man sich dem Guten nicht verweigern konnte. Um dies zu tun, müßte man aufhören, es zu denken.
– Wie hätte ich in der Vergangenheit Lisa, Elisa oder Anabelle ansehen können, ohne dabei das Gute zu denken.
An dem Morgen war es ihm unnatürlich vorgekommen, nicht das Gute zu denken.
– Das Leben ist so kurz und für viele so wenig, wie kann da einer mehr Schlechtes als Gutes wollen.
Er fand sogar, daß jedes seiner Kriegsbücher ein Schritt auf dem Weg zum Guten wäre, auch wenn er wahrscheinlich der einzige sei, der es so sehe.
– Nach diesen Büchern blicke ich zurück und erkenne, daß ich nicht mehr der bin, der ich am Anfang war.
Plötzlich sagte er, daß Anabelle keine Kraft mehr zum Guten gehabt habe.
– Sie hat das Undenkbare möglich gemacht.
Ihm war anzumerken, daß er diesen Tod, ihren Tod, noch immer nicht begreifen konnte.
Er sagte, daß es keine Entfernungen gebe, schon gar nicht durch den Tod.
– Es ist immer alles hier.
Später sprach er noch über Elisa.
Er war enttäuscht, daß Elisa Hals über Kopf nach Montreal gezogen war, ohne ihm ein Wort davon zu sagen.
– Mit diesem Rockstar.
Er sagte, daß er Elisa vermisse und daß die Trennung ihn schmerze.
– Aber ich denke nicht mehr darüber nach, ob die Liebe etwas ist, das nur eine gewisse Zeit andauert und dann nie wiederkehrt.
Er sagte, daß er sich nicht mehr die Frage stelle, was mit ihrer Liebe in der Zeit geschehe, in der er nichts von Elisa höre oder sie nicht sehe.
– Es ist unsere gemeinsame Geschichte, in der wir fortfahren, mit derselben Zuneigung.
Er sagte, es sei diese Liebe, die für jeden von ihnen immer zu nah oder zu fern sei.
– Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß wir diese Geschichte so leben, weil wir keine andere Wahl haben.
Er sagte, daß er aus der Zeitung erfahren habe, daß sie mit dem Musiker nach Montreal gegangen sei – das habe ihn gekränkt.
– Doch wenn ich dann einen Moment ruhig bin, fühle ich diese tiefe Verbundenheit mit Elisa.
Er sagte, daß er von ihrer ersten Begegnung an keinen Tag ohne Elisa gewesen sei.
– Ich kann nicht anders, als in alles einzuwilligen, was sie tut.
Als er sagte, daß sie ihn aufgenommen habe, mit ihrer ganzen Liebe, spürte ich, daß er Elisa gegenüber voller Dankbarkeit war.
– Sie ist die Freundin, die mein Leben gerettet hat.
Er sagte, daß Elisa, schon als sie jung gewesen sei, mit ihrer Liebe dafür gesorgt habe, daß er an seiner Einsamkeit nicht zugrunde gegangen sei. Und er habe das alles erwidert, so gut es ihm möglich gewesen sei.
– Diese Liebe, in der einer den anderen sichtbar macht, das ist mit nichts zu vergleichen.
Er sagte, daß er wisse, was er immer gewußt habe, daß sie vereint seien, ohne je herauszufinden, was es sei, das sie vereine. Und solange er sie liebe, werde sie wirklich anwesend sein. Auch wenn sie in Montreal lebe, oder wenn er nie wieder etwas von ihr höre.
– Ich sage ihren Namen und schon ist sie da. Und sie spürt es, wenn ich ihren Namen sagen, ganz egal, wo sie gerade ist.
Er meinte zu mir, daß er ihren Namen jeden Tag sage, mehrere Male, so wie man bete.
– Diese Liebe war nie an Bedingungen geknüpft. Und das wird sie auch niemals sein.
Als er lächelte, wurde seine ganze Schönheit sichtbar.
– Wenn es nach alldem in meinem Leben soviel Liebe in mir gibt, bedeutet das für mich die Gewißheit, daß es einen Gott gibt.
Ich weiß noch, daß ich in dem Moment, als er das sagte, den Atem anhielt. Ich war mir nicht sicher, ob er sich über die Bedeutung seiner Worte völlig im klaren war. Vielleicht hatte er noch keine Zeit gefunden, das Gesagte zu begreifen.
An dem Morgen spürte ich, daß er nicht mehr der Mann war, der Angst davor hatte, daß Elisa ihn verließ. Er hatte etwas Verlorenes wiedergefunden: Vertrauen. Und er war bereit, die Dinge verstreichen zu lassen.

An einem Abend, einige Wochen nach dem Vorfall am Meer, kamen die Kahnweilers, um sich bei Anabelle für die Rettung ihres Jungen zu bedanken.
Als Yorck Berliner öffnete, wollte ich gerade gehen.
Hélène Kahnweiler kam ohne Umschweife auf die Rettung Alberts zu sprechen und wünschte Anabelle zu sehen.
Anabelle war von unbestimmbarer Höflichkeit, als sie die Begrüßung der Kahnweilers erwiderte. Ihre ganze Haltung war zögernd, als wäre sie von einer inneren Macht gezwungen, hinter sich selbst zurückzubleiben. Ihr Körper schien undurchdringlich. Er glich einer Rüstung, die sie sich angelegt hatte, um bei einem möglichen Kampf mit weiteren Ungeheuern vorbereitet zu sein.
Jeder, der sie so erlebte, fühlte sich augenblicklich unwohl in ihrer Nähe. Da gab es etwas, das einen zutiefst beunruhigte, wenn man ihr gegenüberstand. Allerdings vermochten die meisten, die ihr begegneten, nichts genaues darüber zu sagen.
Manche meinten, daß ihre ganze Erscheinung den Eindruck erweckte, als wäre sie von allen anderen getrennt. Andere fanden, daß man tun könne, was man wolle, um ihr nahezukommen. Es bliebe dennoch aussichtslos. Anabelle würde entfernt bleiben, nichts und niemanden an sich heranlassen.
Eine Ärztin, die Anabelle gekannt hatte, sagte vor wenigen Wochen zu mir, daß Anabelle eine junge, schöne Kriegerin gewesen sei, die von Geburt an gekämpft habe. Ihr Leben sei für sie wie eine Arena gewesen, in der sie sich ständig bedroht gefühlt habe. Und zur selben Zeit seien all die Kränkungen und Plünderungen, die sie früher erlebt habe, wie ein Sturm durch sie hindurchgezogen.
Diese Ärztin, die mehrere Male Anabelles Wunden versorgt hatte, nachdem sie überfallen oder von Freiern zusammengeschlagen worden war, machte auch noch eine Bemerkung über ihren Körper.
Rein äußerlich sei Anabelles Körper der eines jungen Mädchens gewesen, sagte sie. Aber ebenso ein Körper, in dem sie sich verbarrikadiert habe, nachdem man ihn schön gefunden und begehrt und gewollt und ihn sich genommen habe, ohne sie selbst in ihm wahrgenommen zu haben. Und zwar schon damals, als dieser Körper noch der eines Kindes gewesen sei. Als es noch nicht darum gegangen sei, sich mit ihm zu zeigen, gut anzukommen, schön zu sein.
Und dann fällt mir wieder ein, was Jacques Winter noch über Anabelle sagte. Daß sie auf einen wirke, als sei sie aus einem der Bilder von Jock Sturges oder Fabio Cabral herausgetreten und Wirklichkeit geworden. Als gäbe es keinen schöneren Körper als ihren, nichts Einzigartigeres als den Körper dieses jungen Mädchens, der auf etwas verweise, das noch kommen werde. Doch sei es zur gleichen Zeit unmöglich, die Zeichen zu übersehen, die einem ihr berührter Körper regelrecht vorwerfe.
Ich erinnere mich an Robert Kahnweilers Blick, als er Anabelle an diesem Abend das erste Mal sah. Wie ihm ihr Anblick den Atem stillstehen ließ. Wie er von dem Blau ihrer Augen und dem Ausdruck darin gleichzeitig angezogen und zurückgestoßen wurde.
Ihr Blick habe ihm an diesem Abend wie beiläufig enthüllt, daß sie angetastet worden sei, sagte er nach ihrem Tod zu mir.
Ihre Schönheit sei ihm vollkommen abwegig vorgekommen, denn er habe sie mit nichts von dem, was er sonst noch an ihr wahrgenommen habe, in Verbindung bringen können.
Auch Hélène Kahnweiler war sichtbar beunruhigt, wie sehr Anabelles Schönheit gebrochen wurde durch ihren Blick, der ihre Wunden in einem fort zum Vorschein brachte, sobald man einmal angefangen hatte, diese zu bemerken.
Obwohl sie unsicher war, wie sie sich Anabelle gegenüber verhalten sollte, überwand sie diesen Moment der Unentschlossenheit rascher als ihr Mann und wandte sich direkt an sie.
Als Anabelle erfuhr, weshalb die Kahnweilers gekommen waren, blickte sie minutenlang nach unten. Ihr Gesicht richtete sich wie gebannt auf den Boden. Auf die Frage von Hélène Kahnweiler, ob sie ihr etwas schenken könnten, schwieg sie anhaltend.
Ich sah, daß ihre Hände zu zucken begannen, als hätten sie ein eigenes Leben. Als hätte man ihnen angedroht, sie zu peitschen. Als hätte jedes einzelne ihrer Fingerglieder einen Namen, die von der Peitsche gerufen wurden und die bereits bei der Nennung ihres Namen zurückwichen.
Auch Robert Kahnweiler bemerkte erstaunt das auffällige Zucken ihrer Hände.
Vielleicht habe Anabelle ja einen Wunsch, den sie sich erfüllen wolle, fügte Hélène Kahnweiler freundlich hinzu.
Dann machte sie Anstalten, ihre Handtasche zu öffnen.
Ich denke heute, daß Anabelle, obwohl sie weiter wie unbeteiligt zu Boden blickte, diese Geste zweifellos registrierte. Demnach müßte sie sofort angenommen haben, daß man ihr nun Geld anbieten würde, weil sie den Jungen gerettet hatte, und dies wie einen Angriff empfunden haben. Anders kann ich mir das, was unmittelbar danach geschah, nicht erklären.
Unvermittelt sah Anabelle auf. Ihr Gesicht, in dem sich die Augen unnatürlich geweitet hatten, war zu einer Maske erstarrt. Da war etwas, das wie eine einzige Bewegung durch ihren Körper hindurchging und ihn zurückweichen ließ.
Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment der Schwäche bei ihr. Ich nahm ihre Erschöpfung war, spürte, wie wehrlos sie sich fühlte.
Sekundenbruchteile später entdeckte sie in ihrem Inneren diesen Funken Kraft, den sie benötigte, um den Ansturm von Schwäche zu überwinden.
Im nächsten Atemzug trat Anabelle energisch einen Schritt nach vorne. Mit großer Kraft schlug sie Hélène Kahnweiler kurz hintereinander auf die Hand und ins Gesicht, so daß diese mit einem Schmerzenslaut zurückwich, nach hinten stolperte und gefallen wäre, hätte ihr Mann sie nicht gehalten.
Anabelle war kaum wiederzuerkennen. Sie erschien einem wie eine andere Person, mit dieser Kraft, die sie in sich entfesselte, robust und kampfbereit.
Robert Kahnweilers Körper versteifte sich wie unter einer großen Gefahr. Auch in seinem Gesicht war deutlich die Anspannung zu erkennen.
Anabelle versuchte die richtigen Worte zu finden. Etwas, das wie ein harter Knebel in ihrem Mund steckte und ihr bis tief in ihren Körper hineinreichte, machte ihr das Sprechen zuerst unmöglich. Und während sich ihr ganzer Körper bewegte, als wäre er von dieser fremden Kraft ergriffen worden, preßte sie die Worte aus sich heraus, in Stößen, wie eine Gebärende ihr Kind.
– Erkennen Sie nichts wieder!?
Ihre Stimme klang in ihrer Wut dunkel und schroff.
An dieser Stelle sehe ich Anabelle wieder deutlich vor mir. Sie ist nun vollkommen außer sich. Sie stampft fest mit den Füßen auf, als wollte sie in den Boden unter sich ein Loch treten. Ihre Hände hat sie in die Hüften gestemmt. Sie sind verkrampft, zu Fäusten geballt, daß die Haut über ihren Knöcheln weiß schimmert. Ihr Blick hat einen wilden Ausdruck angenommen.
– Einem Kind zu helfen, wenn es in Not ist, das ist so selbstverständlich, da ist jedes weitere Wort überflüssig.
Und dann, schreiend:
– Hören Sie, ich weiß das, ich weiß alles, ich war einmal Kind, glauben Sie mir das.
Hélène Kahnweiler ist offensichtlich nicht bereit, lange über den Sinn dessen nachzudenken, was Anabelle gesagt hat. Sie geht von einem Mißverständnis aus und versucht sofort, etwas darauf zu erwidern, um die Dinge in ihrem Sinne zu klären.
Ich sehe, daß sie reflexartig eine versöhnliche Handbewegung in Richtung Anabelle macht, die diese erbost abwehrt.
– Dafür gibt es keine Gegenleistung, und ich will von Ihnen nichts haben.
Anabelle ist nicht bereit, das weiter zu erörtern. Allein der bedrohliche Klang ihrer Stimme läßt keinen Zweifel daran aufkommen, wie ernst es ihr damit ist.
Es sei genau derselbe Tonfall gewesen, mit dem sie zuvor angedeutet habe, daß sie kein Kind mehr sei, der ihn habe aufhorchen lassen, sagte Robert Kahnweiler nach ihrem Tod zu mir. Anscheinend habe sie genug darüber gewußt, was es bedeute, selbst Kind gewesen und nicht gerettet worden zu sein.
Ich sehe Robert Kahnweiler, wie er ohne zu zögern Anabelle an der Schulter berührt und sie zwingt, ihn anzusehen. Ich erinnere mich genau an den Ausdruck in Anabelles Gesicht. Ich sehe ihr Zurückweichen, den blanken Haß in ihren Augen, was seine Hand auf ihrer Schulter angeht. Auch, wie Robert Kahnweiler ihrer Bewegung folgt, wie er ihren Blick aufnimmt, ihn annimmt, ohne ihre Schulter loszulassen.
– Offensichtlich ist das nicht selbstverständlich, denn du bist hinausgeschwommen, niemand sonst. Du warst bereits im Wasser, noch bevor irgend jemand etwas bemerkt hat.
Nun schweigt er und sieht sie an.
Sein Blick ist erschöpfend.
Anabelle ist sichtlich überrascht, daß er seine Hand auf ihrer Schulter läßt, wehrt sie nun aber nicht mehr ab. Sie erwidert Robert Kahnweilers Blick lange und hält ihm stand.
Ich sehe ihren herausfordernden Blick, der sanfter wird, je länger der Blickkontakt mit dem Richter dauert.
Es ist, als ob Robert Kahnweiler Anabelles Situation begreift. Als ob er ihr eine Tür zu einem ganz bestimmten Raum in sich öffnet und sie auffordert einzutreten. Was immer Anabelle ihm nun sagen oder zeigen wird, er ist bereit, es mitzuerleben.
– Ich möchte trotzdem nichts von Ihnen.
Anabelles Stimme klingt so leise, daß sie kaum zu verstehen ist.
Robert Kahnweiler nickt.
– Hattest du keine Angst? Man hat mir gesagt, daß unser Junge ziemlich weit draußen war. Du hättest selbst ertrinken können.
Anabelle sieht ihn an.
Da ist ein Ausdruck von Verwunderung in ihren Augen, der mich heute noch niederschmettert. Es ist offensichtlich, daß Anabelle den Richter nicht versteht. Sie durchschaut nicht gleich, was gemeint ist.
Und dann sehe ich, wie sie langsam beginnt zu verstehen.
– Sie meinen, ob ich Angst hatte zu sterben?
Hier ihr Blick auf Robert Kahnweiler. Dieser besorgte Blick, ob sie ihn richtig verstanden hat. Ob ihre Antwort genügt.
Und dann, in ihre Unsicherheit hinein, Robert Kahnweilers erneutes Nicken.
– Ihr hättet beide da draußen sterben können.
Während ich sehe, wie Anabelle abermals zu Boden blickt, spüre ich ihre Hilflosigkeit, ihre große Verlorenheit, die sich ausbreitet wie ein Fluß, der über das Ufer tritt. Wieder sehe ich sie sich selbst überlassen, mit ihrem durch Drohungen und Gefahren aufgestörten Herzen, unter einem gewaltigen, rotumränderten Himmel, an die Kette ihrer Herkunft gefesselt, zerfressen von der Brandung bizarrer Bewegungen, mit denen man sich ihr einst näherte. Und ich höre ihre Schreie die Nacht zerreißen.
– Du hättest sterben können.
Anabelle blickt vom Boden auf und sieht Robert Kahnweiler wieder an. Sie hat die Besorgtheit in seiner Stimme gehört. Langsam begreift sie, daß die Sorge des Richters nicht nur seinem Sohn gilt, sondern ebenfalls ihr.
Sie kann es nicht nachempfinden. Es leuchtet ihr nicht ein. Sie kann einfach nicht verstehen, daß ihr Tod anderen etwas ausmachen würde.
Und dann sagt sie es:
– Dann wäre ich eben ertrunken, da ist doch nichts dabei. Das hätte doch niemanden gestört.
Hélène Kahnweiler zuckt unter Anabelles Worten zusammen.
Auch im Gesicht des Richters kann man erkennen, wie sehr ihn ihre Worte getroffen haben.
Ahnt Anabelle, wie bestürzt man über ihre Worte ist.
Sie zögert einen Moment.
Und dann sagt sie:
– Wir gehen kaputt bei dem, was wir tun. Jeden Tag kann man das sehen, überall. Ich habe es auch schon an mir selbst gesehen.
Ich sehe sie erneut warten, um die richtigen Worte zu finden.
– Der Tod ist doch nichts, man kann doch nicht vor nichts Angst haben.
Sie sieht Robert Kahnweiler an.
Ganz kurz ist ihr Blick, direkt, ohne jede Einschränkung.
– Und obwohl du glaubst, daß der Tod nichts ist und daß nichts dabei ist zu sterben, hast du unseren Jungen gerettet.
Ich erinnere mich deutlich an das Beben in seiner Stimme.
Dann sehe ich, wie Anabelle ihn anlächelt.
Sie legt ihre Hand auf die Hand des Richters, die noch immer auf ihrer Schulter liegt.
Und dann sagt sie:
– Aber ja, er ist ein Kind und er hatte große Angst.
Dann trat Yorck Berliner von hinten an Anabelle heran und legte beide Arme um sie.
Anabelle umfaßte seine Hände und küßte sie.
Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie dankbar nickte und sich verabschiedete.
Kurze Zeit später hörte man Musik aus ihrem Zimmer.
Wir gingen hinüber ins große Zimmer. Wir alle schwiegen. Wir schwiegen noch lange. Wir schwiegen wegen ihrer Worte. Wegen dem, was sie bedeuteten. Was sie für Anabelle bedeuteten. Und für uns. Und für die Welt.
Das Gewicht ihrer Worte und wie es auf uns lag, ich glaube heute, es war ihr nicht wirklich bewußt geworden.
Später, als wir wieder redeten, da, im großen Zimmer, warnte Robert Kahnweiler Yorck Berliner eindringlich davor, weiter mit Anabelle auf diese Weise zusammenzuleben. Hinsichtlich der Phantasie bestimmter Leute könnten die Auswirkungen fatal sein.
Der Richter riet ihm, die Beziehung zwischen Anabelle und ihm in einem Adoptionsverfahren von einem Gericht anerkennen zu lassen. Doch als er ihm sagte, daß es durchaus möglich war, daß er und Anabelle getrennt würden, winkte Yorck Berliner ab. Er wollte nichts mehr davon hören.
Schon lange davor hatte Yorck Berliner keinen Grund mehr gesehen, nach den Vorstellungen der anderen zu leben. Warum sollte er ausgerechnet jetzt damit anfangen. Überhaupt, warum sollte er nicht mit Anabelle leben, wo doch er es war, der für sie sorgte?

Ein Mädchen, das wir kennen. So hatte das Thema des Aufsatzes gelautet.
Folgendes hatte Anabelle geschrieben:
Für andere ist das Mädchen jedesmal etwas gewesen, das ihnen gehörte. Jeder von ihnen hat andere Gründe dafür gehabt, weshalb das so war. Doch für das Mädchen änderte das nichts. Auch wenn manche vertrauliche Sätze zu ihm gesagt haben oder nett zu ihm waren.
Am Ende der Freundlichkeit haben sie es immer bis in die Knochen aufgeschreckt. Vor allem die Männer. An jedem Tag seines Lebens haben sie ihm weh getan und das Mädchen und sein Leben schmutzig gemacht.
Das Mädchen hat keine Worte für das, was sie ihm angetan haben.
Früher hat es nach passenden Worten gesucht. Dabei hat es einen starken Schmerz gefühlt.
Danach hat es sich entschieden, daß es besser keine geeigneten Worte gibt. Und falls doch, wollte es sie um nichts auf der Welt hören. Und während das Mädchen weitergemacht hat wie zuvor, ist sein Leben schon bald weniger geworden.
Eines Tages, als sein Leben beinahe verschwunden war, stand das Mädchen auf der steinernen Mauer am Rande des Meeres. Es hat sehr leise gesprochen und sich gesagt, daß es keine Ende nimmt. Es sagte sich auch manche Dinge, die es sich ansonsten nicht sagte.
Danach fühlte es sich wertlos und müde. Und es weinte. Aus und vorbei, hat es sich gesagt, und daß sich ihm jetzt niemand mehr nähern soll.
Doch dann ist dieser Mann aufgetaucht.
Zuerst hat das Mädchen ihn beobachtet, wie er es aus der Entfernung betrachtete.
Während es noch überlegte, ob es ihn kannte, ist der Mann langsam nähergekommen.
Als er nahe genug war und das Mädchen ihn besser sehen konnte, stellte es fest, daß es ihn nicht kannte.
Der Mann hat es lange schweigend angesehen.
Dann hat er zu dem Mädchen gesagt, daß sein Leben nur im Leben enden kann und daß er es nun heimbringen wird. Dabei hat er dem Mädchen seine Hand entgegengestreckt.
Vielleicht sind es die Worte des Mannes gewesen. Die Art, wie er gesprochen und es dabei angesehen hat. Denn das Mädchen konnte sich nicht erinnern, daß jemals zuvor irgend jemand auf solche Weise mit ihm gesprochen hatte. Jedenfalls fühlte der Körper des Mädchens sich zum ersten Mal nicht mehr kalt an.
Noch bevor das Mädchen den Mann fragte, ob er ihm helfen kann, hat es ihm geglaubt, daß er es heimbringen wird. Es hat ihm geglaubt, bevor es ihm von den Dingen erzählte, die es sich gesagt hatte. Bevor es überhaupt wußte, was es bedeutete, daß sein Körper sich nicht mehr kalt anfühlte. Es reichte dem Mädchen schon aus, daß es spürte, wie sein Körper warm wurde und es innen nicht mehr fror. Und daß es vor allem anderen spürte, daß der Mann bei ihm war.
So hat das Mädchen die Hand des Mannes genommen und ist mit ihm gegangen.
Seit diesem Tag steht der Mann vor dem Mädchen wie ein großer Baum und wirft seinen Schatten auf es.
Der Mann nimmt das Mädchen mit zu sich.
Zunächst gibt er ihm ein eigenes Zimmer und richtet es nach den Wünschen des Mädchens ein.
Das Mädchen sagt ihm, daß es einen Schlüssel haben will, um sein Zimmer abschließen zu können.
Der Mann hat keinen Schlüssel für das Zimmer.
Er sagt zu dem Mädchen, daß es in der ganzen Wohnung keine Schlüssel gibt, für keines der Zimmer.
Das Mädchen erklärt dem Mann, daß es das schon einmal gehört hat, früher, als es noch ein Kind gewesen ist.
Deshalb telefoniert der Mann nach einem Handwerker, der das Schloß in der Tür austauscht.
Nun bekommt das Mädchen einen Schlüssel für sein Zimmer.
Im Beisein des Mädchen bittet der Mann den Handwerker, ebenso das Schloß an der Tür zum Badezimmer auszutauschen. Als der Handwerker sagt, daß das nicht geht, weil die Tür zu alt ist, fordert der Mann ihn auf, an der Innenseite der Badezimmertür einen soliden Riegel anzubringen.
Daraufhin verläßt das Mädchen die Wohnung und geht hinunter zum Strand. Der Mann soll nicht sehen, wie sehr es deswegen weint.
Das Mädchen fühlt sich wie aus allen Himmeln gefallen. Noch nie zuvor in seinem Leben hat jemand etwas so Großes für es getan.
Danach schließt das Mädchen niemals sein Zimmer ab, obwohl es jetzt einen Schlüssel hat.
Als nächstes findet der Mann, daß das Mädchen neue Kleider braucht, einen Rucksack, andere Dinge, die ein junges Mädchen benötigt.
Er fragt das Mädchen, was es davon hält.
Spontan sagt das Mädchen, daß es einverstanden ist.
Dann fällt dem Mädchen ein, daß es gar nicht weiß, was es braucht.
Es sagt, daß es dumm ist, weil es nicht versteht, was ein solches Mädchen, das es nie gewesen ist, anzieht.
Der Mann sagt zu ihm, daß man nun zu zweit ist in dieser Dummheit, der, nicht zu wissen, was ein Mädchen braucht, und daß es sich deswegen keine Gedanken machen soll.
So eine sagenhafte Dummheit, sagen beide gleichzeitig.
Und dann lachen sie laut darüber.
Danach ruft der Mann, der Schriftsteller ist, seine Verlegerin in Paris an.
Er will von ihr wissen, was junge Mädchen heutzutage tragen, in welche Geschäfte man gehen muß. Er fragt nach Alissa.
Seine Verlegerin verspricht ihm, Alissa anzurufen. Sie sagt, daß sie sich mit ihm in Verbindung setzen wird.
Der Mann sagt zu dem Mädchen, daß Alissa ihnen helfen wird.
Das Mädchen will von ihm wissen, wer Alissa ist.
Der Mann erklärt dem Mädchen, daß Alissa die Tochter seiner Verlegerin ist, daß sie ein paar Jahre älter ist als das Mädchen.
Am selben Abend ruft Alissa den Mann an, um sich mit ihm und dem Mädchen im Verlag zu verabreden.
Frühmorgens, am darauffolgenden Tag, treffen sich der Mann und das Mädchen mit Alissa in Paris.
Alissa ist freundlich und aufmerksam. Sie weiß, was angesagt ist. Sie ist hilfsbereit und nimmt Rücksicht auf die Unerfahrenheit des Mädchens, was diese Dinge angeht. Alissa sagt dem Mädchen, was gut an ihm aussieht, welche Farben zu ihm passen, was ansprechend ist und was vulgär. Das Mädchen ist erstaunt, was Alissa alles weiß, und daß sie all diese Geschäfte kennt.
Als der Mann mit dem Mädchen zurückfährt, ist das Taxi voller Tüten und Schachteln. Das Mädchen könnte platzen vor Entzücken.
Irgendwann danach glaubt der Mann, daß es gut für das Mädchen ist, wenn es wieder zur Schule geht. Er spricht mit ihm darüber. Zuerst will das Mädchen nichts davon wissen. Der Mann läßt die Sache auf sich beruhen.
Eines Tages hat sich das Mädchen die Sache mit der Schule anders überlegt. So sagt es dem Mann, daß es doch zur Schule gehen wird.
Bald fährt das Mädchen jeden Morgen mit dem Zug nach Lisieux, um dort zur Schule zu gehen.
Einige Male wartet der Mann vor dem Gebäude der Schule, um das Mädchen abzuholen. Man fragt das Mädchen nach ihm. Außerdem fehlen noch einige Papiere, um es anzumelden.
Das Mädchen sagt allen, daß der Mann, der es abholt, sein Onkel ist. Auch, daß seine Eltern kürzlich bei einem Brand ums Leben gekommen sind. Daß es bei seinem Onkel gewesen ist, als es gebrannt hat. Daß alles verbrannt ist.
Das Mädchen hält sich an das, was der Mann mit ihm besprochen hat.
Man fragt das Mädchen nicht weiter. Niemand hat einen Grund, ihm nicht zu glauben. Außerdem kennen die meisten den Onkel des Mädchens. Sie wissen von den Büchern, die er geschrieben hat. Sie haben in den Zeitungen über ihn gelesen.
Auch das Mädchen hat in den Büchern des Mannes gelesen, ebenso einiges von dem, was man über ihn geschrieben hat. Daher vermutet es, alle denken, daß es besser ist, man legt sich nicht mit ihm an. Nicht wegen einiger fehlender Papiere, die jederzeit nachgereicht werden können, wie das Mädchen in einem der Flure die Direktorin zu seiner Klassenlehrerin sagen hört.
Ein kluges Mädchen, aber noch weit davon entfernt, eine gute Schülerin zu sein, hört es die Direktorin sagen.
An diesem Kind ist etwas Tragisches. Schon wie es sich absondert. Und dann diese Traurigkeit. Wahrscheinlich wegen des unerwarteten Todes ihrer Eltern.
Die Direktorin nickt.
Man muß bei Gelegenheit mit seinem Onkel sprechen.
Die Klassenlehrerin stimmt ihr zu.
Hin und wieder findet der Mann das Mädchen zusammengekrümmt auf dem Boden liegen.
Dann legt er sich neben es. Er öffnet das Hemd des Mädchens und streichelt es. Er streichelt es hinab bis dorthin, wo sein Schreien anfängt. Bis sich das Mädchen in seinen Händen niederlassen kann. Bis es ihm gelingt, sein Schreien anzuhalten. Bis es vorübergeht.
Wenn es vorbei ist, legt der Mann sein Ohr auf die Brust des Mädchens und sagt zu ihm, daß es nicht fortgehen muß, daß es bleiben kann.
Er sagt, daß er jetzt mit ihm ist, dort, in seiner unteren Welt. Bevor das Unglück das Mädchen wiederaufnehmen und ihm erneut die Sprache verschlagen kann, wird er es ablenken.
Das Mädchen schließt die Augen und nimmt die Hand des Mannes und hält sie fest umklammert. Vielleicht versteht es nicht alles, was er zu ihm sagt, aber es spürt genau, daß dieser Mann anders ist als alle Männer, die es bisher kannte.
Das Mädchen sagt sich, er sieht mich, wenn er mich ansieht. Ich kann ihm alles von mir erzählen, ohne daß er erschreckt. Er weicht nie zurück. Und er glaubt mir. Und manchmal, nachts, wenn ich vor lauter Angst aufwache und nicht mehr einschlafen kann, gehe ich zu ihm hinüber. Ich lege mich unter die Decke und drücke mich an ihn und höre zu, wie sein Herz schlägt. Sein Herz, das niemals schlafen kann, weil es für mich wach bleibt, wie er zu mir gesagt hat. Und ich habe ihn nicht gleich verstanden, als er das zu mir sagte. Ich habe gedacht, was redet er da bloß und daß sein Herz schlägt, weil es nicht anders kann. Deswegen habe ich zuerst darüber gelacht. Und plötzlich habe ich ihn verstanden und mußte weinen.
Und so rückt das Mädchen noch näher an ihn heran und flüstert dem Mann ins Ohr, daß er allein die Antwort auf all seine Bitten ist.
(…)

Ich erinnere mich daran, daß vor jenem Abend im Mai das Meer wie toll war. Und an den Regen.
Es regnete Tag und Nacht. Es hörte gar nicht mehr auf. Die Straßen waren wie leergefegt. Es war unmöglich, das Haus zu verlassen.
Vom Fenster aus konnte ich am entfernten Strand zwei Hunde sehen, die dort herumtollten.
Der schwere, vom Meer kommende Wind brachte die beiden Tiere zu dicht an den Rand oder sie wagten sich in ihrem Übermut zu nah heran. Und sofort wälzten sich mannshohe Wellen über sie, packten ihre Körper und zogen sie mit hinaus.
Nach einer Weile spuckte das Meer sie wieder aus, warf sie mit unvorstellbarer Wucht an den Strand zurück.
Dann, in den Tagen danach, als es aufhörte zu regnen und der Nebel verschwand, der den ganzen Himmel bedeckte, erwärmte sich die Luft plötzlich derart, daß von einem verfrühten Sommer gesprochen wurde. Die Cafés ließen ihre Türen geöffnet. Auf ihren Terrassen trafen sich die ersten Leute, um die unerwartete Wärme zu genießen. Nach und nach kamen sie aus ihren Häusern und aus den Hotels. Auf den Straßen, am Strand und in den Cafés, überall waren sie zu sehen. Die Erleichterung darüber, nicht mehr Tag und Nacht miteinander eingesperrt zu sein, diesem Übermaß an Nähe, das sie mehr voneinander entfernt als einander nähergebracht hatte, entkommen zu sein, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie waren glücklich, daß die Regen vorbeigezogen waren, ohne allzu großen Schaden angerichtet zu haben. Und daß das Meer, das nun wieder vor ihnen lag wie ein riesiger hingestreckter Körper, versöhnt war und darauf verzichtet hatte, seine Überlegenheit vollends auszuspielen.
Wenn die Leute später davon redeten, von jenem Abend im Mai, als die drei Wagen vor dem grünen Haus anhielten, wurde dieses Ereignis immer mit dem Regen, dem danach unvermittelt hereinbrechenden Sommer und den beiden toten Hunden in Verbindung gebracht.
– Plötzlich war der Sommer da, von einem zum anderen Tag.
– Nach dem großen Regen.
– Die Hunde, kann sich noch jemand an die beiden Hunde erinnern?
– Ja, wie sie da am Strand lagen, völlig zerfetzt.
– Die Kinder hatten noch nie zuvor etwas derartiges gesehen.
– Das Meer hat ihnen sämtliche Knochen gebrochen.
– Und wie weit aufgerissenen ihre Augen waren.
– Man glaubte zu sehen, was sie durchgemacht haben.
– Das war die nackte Angst. Und der Schrecken.
– Ich habe so etwas noch nie gesehen. Nicht bei einem toten Hund.
– Meine Kleine hat nächtelang von den verdammten Augen geträumt.
– Die Polizisten sind aus den Wagen herausgesprungen.
– Zivile und welche in Uniform.
– Sie sind sofort in das Haus eingedrungen.
– Sie haben die Terrassentür aufgebrochen und sind hineingestürmt.
– Sie waren geschickt und schnell.
– Einer filmte alles mit einer Videokamera.
– So ein Aufwand, ich dachte zuerst an eine Geiselnahme.
– Als ob sie gekommen wären, um einen bewaffneten Schwerverbrecher abzuholen.
– Die wollten es auf die harte Tour, von Anfang an.
– Und irgendwann kamen zwei von denen mit dem Mädchen wieder heraus.
– Die Kleine ist halbnackt gewesen.
– Die sind in ihren Körper eingebrochen wie kurz vorher in die Wohnung.
– Sie waren wie Tiere, ja, große, wildgewordene Tiere.
– Die Kleine hat sich gewehrt, und wie.
– Die mußten drinnen schon gekämpft haben, so ramponiert wie die beiden aussahen.
– Dem einen hat die Nase geblutet, und der andere hatte ein zugeschwollenes Auge.
– Dem mit der blutenden Nase hat sie in die Hand gebissen.
– Und dann, als er sie kurz losließ, um seine Hand aus ihrem Mund zu befreien, hat sie ihm mit voller Wucht ihr Knie zwischen die Beine gestoßen.
– Der klappte zusammen wie ein Taschenmesser, er quiekte wie ein Schwein, als er zu Boden ging.
– Dann konnte der andere sie allein nicht mehr halten, er stolperte und fiel hin.
– Und dann saß sie schon auf seiner Brust.
– Sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt und fest aneinadergepreßt und damit in sein Gesicht gehämmert.
– Die Kleine hatte Übung, das merkte man sofort, die hat nicht zum ersten Mal um ihr Leben gekämpft.
– Hat diese uniformierte Kanaille zwei Vorderzähne gekostet, recht so.
– Was für eine Kraft.
– Wie verzweifelt muß sie gewesen sein.
– Danach sind die anderen gekommen und haben mit ihren Stöcken auf sie eingeprügelt.
– Sie waren verrückt vor Wut.
– Ich habe gerufen: Das könnt ihr nicht machen, das ist ein Kind.
– Sofort kamen zwei von ihnen angelaufen und drohten meinem Mann mit ihren Knüppeln.
– Die Kleine blieb am Boden liegen, sie hat sich nicht mehr gerührt.
– An der Stirn hatte sie eine Platzwunde.
– Und sie blutete aus dem Ohr.
– Anschließend hoben sie sie auf und warfen sie hinten in den Wagen.
– Wie einen Sack Kartoffeln.
– Davor war da noch der Arzt bei ihr, er stieß ihr eine Spritze in den Oberschenkel, nachdem die Polizisten sie niedergezwungen hatten.
– Sie haben an alles gedacht.
– Die Frau, die dabei war, lief nervös mit ihren Papieren herum und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
– Die war vom Jugendamt.
– Ich habe gehört, wie der Arzt zu ihr sagte, daß man das Mädchen nach St. Claire bringen wird.
Ein alter Mann sagte folgendes:
– Das war eine Deportation.
Und dann spuckte er auf den Boden.
– Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die für dich da sind, wenn du sie brauchst. Wenn du sie brauchst, schlagen sie mit ihren Knüppeln gerade auf ein wehrloses Kind ein.
Und dann spuckte er ein weiteres Mal aus. Diesmal voller Verachtung.
– Obwohl wir die deutschen Nazis damals weggejagt haben, hören sie nicht auf, da zu sein. Die haben uns ihr verdammtes Gift dagelassen und es frißt uns auf.
Er fluchte.
– Du mußt das Nazigift in dir drin haben, um so was mit einem Kind zu machen.
Die Jungen, die zum Terrassenfenster hineingeschaut hatten, erzählten, wie die Polizisten im Inneren der Wohnung auf Yorck Berliner losgegangen waren.
– Die haben es ihm richtig gegeben.
– Er und Anabelle wollten sich gegenseitig helfen, aber die hielten sie fest.
– Dann konnte Anabelle sich losmachen.
– Sie ist wie eine Wahnsinnige auf die losgegangen.
– Hat ihr bloß nicht viel genutzt, nicht bei der Übermacht.
– Und wie die Polizisten ihn verdroschen haben.
– Dabei hat er sich nicht einmal gewehrt.
– Erst als sie Anabelle wegschleppten, als sie nach ihm rief, da ist er durchgedreht.
– Aber er hatte keine Chance.
– Zuletzt lag er auf seinem Bett, zwei Polizisten saßen auf seinen Armen und seiner Brust, zwei andere auf seinen Beinen.
Ein älterer Junge mit blauen Augen und schwarzem Haar, ein Eingewanderter, der abseits von den anderen Jungen stand, sagte dies zu mir:
– Ich kenne die. Ich weiß, was sie dir antun können. Zuerst greifen sie dich an. Und dann, nach einer Weile, fühlst du dich schwach. Und dann bemerkst du, wie dein Wille zerreißt. Und noch während du bemerkst, daß dein Wille zerreißt, ist er bereits zerrissen. Und dann ist dein Körper nicht mehr dein Körper.
Ich erinnere mich, daß er seinen Sweater nach oben zog. Auch, daß man eine Anzahl von tief in die Haut gehenden Narben sehen konnte, auf dem Rücken und auf der Brust.
– Wenn sie dich so weit haben, ist deine Schwäche wie eine Tür, die sich ständig vor dir öffnet, ohne sich wieder schließen zu können, und sie können alles mit dir machen.
Er bedeckte seine Narben wieder und blickte eine Weile schweigend zu Boden.
Und dann sagte er:
– Sie haben mit ihm dasselbe gemacht wie mit Anabelle. Sie machen das mit allen. Sie machen das, weil sie das können.
Und dann wieder die anderen Jungen, die sich nun um den Jungen mit den blauen Augen und dem schwarzen Haar herum aufstellten, nachdem sie seine Narben gesehen hatten:
– Erst als der Wagen mit Anabelle abgefahren war und ein Ziviler in das Innere des Hauses ging und den anderen ein Zeichen gab, ließen sie ihn los.
– Vorher schlug der Zivile ihm noch ins Gesicht, mehrere Male, mit beiden Fäusten. Er sagte: Du wirst jetzt schön hier liegenbleiben, du elender Kinderficker. Du bleibst jetzt hier, bis wir dich holen. Und dann schlug er ihm immer wieder ins Gesicht.
– Während die anderen ihn festhielten.
Ein marokkanischer Junge sagte:
– Das war so kraß, was die mit ihm gemacht haben. Und das haben die mit einem Weißen gemacht. Mit einem von ihren Leuten.
– Diese miesen Bullenschweine.
Die Stimme des Jungen mit den blauen Augen und dem schwarzen Haar klang leise, sie war kaum zu hören.
Erst als die anderen Jungen zustimmend nickten, wiederholte er es mit lauter Stimme.
– Diese miesen Bullenschweine.
– Dieser Mann, Yorck Berliner, er stürmte nach draußen und rief nach dem Mädchen. Er rief ihren Namen, andauernd: Anabelle, Anabelle. Er schrie. Er weinte. Er war außer sich.
Es war die Studentin aus Rouen, die das sagte.
– Die Polizisten waren von seinem Auftauchen überrascht, sie wußten zuerst nicht, wie sie sich verhalten sollten.
Ihre Stimme bebte geradezu, als sie weitersprach.
– Nachdem das Mädchen nicht antwortete, wiederholte er seinen Ruf.
Sie schwieg einen Moment.
– Ich werde seine Stimme bis ans Ende meines Lebens nicht mehr vergessen.
Um sich wegen der Erinnerung an seine Stimme am Weinen zu hindern, wandte sich die Studentin aus Rouen jäh ab und schaute in den Himmel über dem Meer.
– Und dann das Blut, überall sein Blut, es tropfte aus seinem Gesicht überall hin.
Die Studentin aus Rouen schaute weiter lange in den Himmel.
Sie wirkte in diesen Augenblicken wie eingeschlossen in jener hoffnungslosen Geste des Zurückbehaltens ihrer Gefühle, die ich jetzt beim Schreiben wiedersehe.
– Und als dann keine Antwort kam, warf er sich ohne zu überlegen auf einige von denen, die noch in der Nähe der Tür standen, und ging mit ihnen zu Boden.
Dann kehrte die Studentin aus Rouen ihre Blicke vom Himmel ab, um mich anzusehen.
– Er kniete über einem von ihnen und verabreichte ihm in rascher Abfolge mehrere Fausthiebe ins Gesicht. Ich sah, wie die Haut des Polizisten aufplatzte.
Erst jetzt, wo ich ein weiteres Mal darüber schreibe, fällt mir auf, wie schwer es der Studentin fiel, überhaupt davon zu sprechen, über diese Gewalt, die sie miterlebt hatte.
– Die anderen brauchten einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.
An dieser Stelle erkenne ich jetzt deutlich ihren Widerstand.
Sie wollte nicht weitersprechen.
Doch dann überwog ihr Wunsch, darüber zu sprechen.
– Sie standen auf und griffen nach ihren Knüppeln. Auch die anderen, die herangeeilt kamen, holten ihre Knüppel hervor. Und auch er richtete sich blitzartig auf. Er nahm den Knüppel des verletzten Polizisten an sich und drohte ihnen damit.
Ich frage mich, weshalb ich, als ich zuerst darüber schrieb, übersehen habe, wie bestürzt sie über die Gewalt war, die sie miterlebt hatte, wo es doch offensichtlich ist.
– Er schrie, so habe ich noch nie zuvor einen Menschen schreien hören.
Die Studentin preßte ihre Hände ineinander.
– Dann, plötzlich, hörte er auf, sich zu bewegen.
Sie schaute dorthin, auf jene Stelle am Strand, wo es passiert war.
– Wie irgendwo zurückgeblieben, legte er den Knüppel auf den Boden. Dann hob er beide Arme, bis seine Handflächen auf die Uniformierten deuteten. Er gab auf, tief in sich drin gab er auf. Die anderen verstanden das sofort.
Die Studentin aus Rouen war im Nachhinein noch darüber erstaunt.
Ein langen Moment, als könnte sie auf diese Weise etwas von dem Geschehenen rückgängig machen, deutete sie auf die Stelle, an der das alles geschehen war, unmittelbar vor dem grünen Haus.
– Während sie ihre Knüppel sinken ließen und betreten zu Boden blickten, ging er zurück ins Haus. Abends holten sie ihn dann ab, um ihn zu verhören.
– Er hat nichts mit Anabelle gemacht, was sie nicht wollte.
Die anderen Jungen bestätigten, was dieser Junge sagte.
– Einmal waren sie beide abends draußen.
Der Junge deutete auf Yorck Berliners Wohnung, auf die zum Meer hin offene Terrasse.
– Sie hörten Musik und lachten und er lackierte ihr die Finger- und Fußnägel und dann lackierte sie seine Nägel.
– Sie hatten viel Spaß an dem Abend.
– Er hat sich um Anabelle gekümmert.
– Nachdem sie bei ihm lebte, ging sie sogar wieder regelmäßig in die Schule. Wir sahen sie immer auf dem Schulhof.
– Sie gehörte irgendwie nicht dazu.
– Aber es schien ihr nichts auszumachen.
– In den Pausen saß sie draußen auf dem Schulhof oder in einem der Gänge. Meistens hat sie gelesen.
– Als ob sie es gewohnt war, allein zu sein.
– Und wenn man sie ansprach, hörte sie einem zu. Und manchmal sagte sie etwas.
– Sie gefiel uns allen, sie war was Besonderes.
– Ein Klassemädchen.
– Wir waren auch ein bißchen verliebt in sie.
– Keiner hier kann sagen, woher sie kam, wie lange sie am Strand gelebt hat, oder wo sie war, wenn sie nicht hier war. Wir haben sie oft gesehen.
Der Mann, der das sagte, sah seine Frau fragend an.
– Ihre Schönheit und dann dieses Leben am Strand, wie eine Obdachlose, ich konnte das nie zusammenbringen. Und sie war offenbar klug, sie las Bücher. Ich habe sie nie ohne ein Buch gesehen.
Die Frau überlegte.
– Dieser Schriftsteller wußte, was er tat, als er sie mit zu sich nahm. Er war der einzige, der wußte, was zu tun war. Ich glaube nichts von dem, was man über ihn gesagt hat.
Und dann sagte der Mann dies:
– Für das Mädchen war es das größte Glück ihres Lebens, daß sie ihm begegnete.
Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau.
– Ich sprach einmal mit ihr, als sie schon bei ihm wohnte.
Seine Frau blickte ihn überrascht an.
– Du hast mit ihr gesprochen?
Der Mann erinnerte sich. Und dann gab er wieder, was Anabelle zu ihm gesagt hatte:
– Früher hat man mir die Haut heruntergerissen. Ich mußte alles tun, um ein bißchen geliebt zu werden. Das ist jetzt vorbei. Ich glaube, ich bin gerade zum ersten Mal glücklich.
Jäh preßte der Mann beide Hände vor sein Gesicht, um eine plötzliche Erschütterung zu verbergen.
– Da war ein solches Vertrauen. Manchmal, wenn sie seine Hand nahm, konnte man es bemerken.

Ich weiß heute, daß Anabelle sich mehrere Tage in Lyon aufhielt. Sie wurde in den ersten Septembertagen dort gesehen.
Genauer gesagt, war sie beim Diebstahl von Zigaretten und Lebensmitteln in der Abteilung eines Kaufhauses von einer Kamera erfaßt worden. Doch offenbar hatte sie die beiden Detektive, die sie durch die Stockwerke verfolgten, rechtzeitig bemerkt und konnte ihnen entkommen.
Falls sie vorhatte, nach Trouville zu fahren, hätte sie von Lyon aus den Zug nehmen können. Wäre sie gleich morgens gefahren, hätte sie am frühen Nachmittag in Trouville sein können.
Aber ich glaube nicht, daß sie den Zug genommen hätte. Mit dem Zug hätte sie über Paris fahren müssen. Sie hätte nach ihrer Ankunft am Gare de l’Est oder Gare du Nord den Bahnhof wechseln und von St. Lazare aus weiterfahren müssen. Wahrscheinlich hätte sie dort einen Aufenthalt gehabt. Und ich weiß, daß man sie auf dem Bahnhof St. Lazare einmal zusammengeschlagen hat.
Nein, ich denke, sie wäre per Anhalter gereist, wie früher schon. Höchstwahrscheinlich hätte sich jemand gefunden, der sie mitnahm. Von einer der Raststätten aus, bei Lyon. Vielleicht ein älteres Ehepaar, auf dem Weg an die Küste. Oder eine Familie mit Kindern.
Anabelle hätte sich auf einer Raststätte zuerst mit den Kindern angefreundet und die Kinder hätten anschließend ihre Eltern gedrängt, sie mitzunehmen. Sie hat mir einmal erzählt, daß es so am einfachsten sei, ohne belästigt zu werden: ein älteres Ehepaar oder eine Familie mit Kindern.
Doch weshalb Quimperle? Gab es dort jemanden, den sie kannte? Oder wollte sie nur so schnell wie möglich aus Lyon verschwinden und war irgendwo mitgefahren und schließlich in Quimperle gelandet? Hat sie damit gerechnet, in Quimperle jemanden zu finden, der sie nach Trouville mitnehmen würde?
Obwohl sie diesen Brief geschrieben hat, denke ich immer noch, er wäre ohne Bedeutung geblieben, wenn es ihr gelungen wäre, nach Trouville zurückzukehren. Denkbar wäre, daß sie Yorck Berliner von diesem Brief erzählt oder ihn ihm vorgelesen hätte. Oder der Brief wäre zufällig von ihm entdeckt worden, vielleicht wenn er nach ihrer Rückkehr ihren Rucksack ausgepackt hätte.
Schon die Tatsache seiner Existenz hätte ihn tief bestürzt. Er hätte ihre ganze Liebe darin gesehen und zu ihr gesagt, daß es völlig ausgeschlossen sei, mit soviel Liebe in sich sein Leben wegzuwerfen wie eine alte Büchse und diese Liebe zu verraten.
Komm, laß uns die Platte von Audrey Hepburn auflegen und miteinander tanzen, hätte er zu ihr gesagt.
Anschließend hätte man sehen können, wie er sich ihr genähert hätte, aufmerksam, als glaubte er, daß auch nur eine einzige falsche Bewegung von ihm sie unwiderruflich zerstören könnte.
Man hätte gesehen, wie sie bei seinem Näherkommen ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihn lange angesehen hätte. Er hätte sie liebevoll umfaßt und zärtlich über ihren Rücken gestrichen, eine Geste, die von ihr erwidert worden wäre.
Wie oft zuvor in ihrem letzten gemeinsamen Sommer hätte man sie auf der Terrasse tanzen sehen können. Und aus der Wohnung hätte man die Stimme von Audrey Hepburn gehört: Moon River, wider than a mile/ I'm crossing you in style some day…

Auszug: Lisa, Elisa, Anabelle
© RW; 2008, BoD
ISBN: 978-3837015065