Sonntag, 26. August 2012

Lucia oder die Liebe



Nacht für Nacht geschieht es, daß du in mein Leben zurückkommst. Ich liebkose dich, dein Gesicht, deine Schönheit, ich tue die ganze Zeit nichts anderes. Ich sehe, wie einsam du bist. Niemand ist einsamer als du. Und dann ist da deine Verletzlichkeit. Die Verletzlichkeit des kleinen Mädchens, das ich in jeder deiner Bewegungen sehe, auch wenn du neben mir schläfst. Wie das Mädchen, über das ich irgendwo geschrieben habe, bist du jedesmal wachsam. Du versiegelst deinen Körper mit der Decke. Bis du findest, daß es anstrengend ist. Es gefällt dir nie lange, alleine zu liegen, auf der anderen Seite des Betts. Du kommst unter deiner Decke hervor und schlüpfst unter meine. Du schmiegst dich an mich, du sagst: So ist es besser, mein Lieber.

Als ich aufwache, siehst du mich bereits an, schon länger, wie es scheint, du lächelst verhalten.
Du sagst: Ich werde dich nicht vergessen, hörst du. Ich werde dich niemals verlassen. Also glaube bitte nicht, daß ich einfach fort bin, nur weil ich gehe.
Du nimmst mein Gesicht in deine Hände, du reibst es, du kannst deine Blicke nicht von mir lassen, du küßt mich, du kommst über mich, ich höre dein Herz klopfen und meins, deine Augen halten mich wie eine zarte Hand, wir küssen uns, zuerst zärtlich, dann leidenschaftlich, du öffnest dich, ich komme in dich, alles ist weich und warm, du stöhnst auf, du flüsterst.
Du sagst: Ich weiß nicht, wie ich gehen kann, ich bin so erfüllt von dir, von deiner ganzen Liebe.
Ich sehe dich an, ich spüre mich, ich spüre dich, ich bin dankbar, daß es dich gibt, ich denke an nichts, du bist hier und ich bin hier, und das ist alles, was ich wissen muß.

Ich bin im Zimmer auf der Hofseite. Ich schreibe dies hier. Ich höre dein Lachen, deine Stimme, morgens, nach dem Aufstehen, und mittags, und am Abend, und nachts, wenn sie flüstert. Ich erinnere mich an dein Haar in meinem Gesicht, an deinen warmen Atem an meinem Hals, an den Geschmack deiner Lippen, an die Farbe und kaum auszuhaltende Zartheit deiner Haut, daran, wie sich deine Küsse anfühlten, an die Weichheit deines Geschlechts, an seine Wärme. Ich sehe deinen nackten Körper, wie er wiederholt aufblüht, wie er sich an meine Berührungen und Küsse erinnert, die dich zum Weinen brachten, an einem Dienstagmorgen. Ich sehe deine schwankende Zärtlichkeit und Unsicherheit, die dich daran hindern, über das hinaus zu lieben, was dich so sehr festhält, etwas ganz und gar Bedrohliches, über das du zum ersten Mal redest, als du mir begegnest.

Wenn ich dich sehe, dann immer auch wie auf den Fotografien, diesen Kinderfotografien, auf denen deine Verletzungen die Luft zerreißen. Etwas in dir war erstarrt. Ich habe es wiedererkannt. Ich gelange ins Innerste dessen, was ich ahne. Ich weiß, was du nie wissen wirst. Ich schreibe.

Wir sind am Meer. Die Sonne verschwindet bald hinter den Wolken. Du hältst die Tasse zwischen deinen Händen.
Du sagst: Ich bin fünfundzwanzig. Ich habe das ganze Leben vor mir. Ich weiß nicht, wie du mich derart lieben kannst. Das ist kaum auszuhalten. Niemand hat mich je so geliebt wie du. Weißt du, daß du verrückt bist.
Es irritiert dich, daß es so ist, daß ich dich liebe. Es gefällt dir, so geliebt zu werden, sogar sehr, es beunruhigt dich.
Du sagst: Du kannst fünfundzwanzig sein, aber ich nicht zweiundfünfzig. Das ist der Unterschied.
Ich sehe dich an, ich kann es sehen, die siebenundzwanzig Jahre, die zwischen dir und mir liegen, mehr als ein Vierteljahrhundert. Was heißt das schon.
Ich sage: Das ist gar nichts für jemanden, der so verrückt ist wie ich.
Du lachst darüber. Dein Lachen ist herrlich, es zieht über den Strand.
Du sagst: Mein schöner Verrückter.
Und dann lachst du erneut, jenes makellose Lachen, nach dem sich alle Welt umschaut. Selbst die Möwen, die am Strand entlanglaufen, drehen ihre Köpfe und blicken in deine Richtung.
Ich sage: Zu lieben, noch mehr zu lieben, wie die Blumen in den Parks ihren Duft verströmen, das ist es, was zählt.
Du nimmst einen Schluck Tee, du siehst mich aufmerksam an, du wiederholst meine Worte.
Du sagst: Zu lieben, noch mehr zu lieben, wie die Blumen in den Parks ihren Duft verströmen.
Du lächelst.
Du sagst: Das gefällt mir. Wirst du es aufschreiben? Schreibe es auf.

Ich schreibe: Dein Körper ist nicht mehr neben mir. Du siehst mich nicht mehr an. Ich möchte vor Kummer sterben. Ich erfinde deinen Körper neben meinem, wie du mich ansiehst, dein Haar am Atlantik, die Blondheit deiner Haut, die Tasse zwischen deinen Händen, deine Stimme, ihre Sanftheit.
Du sagst: Alles hat seine Zeit. Nur die Liebe steht außerhalb der Zeit.
Deine einfache Art etwas zu sagen. Es so zu sagen, daß es wie geschrieben ist.
Du sagst: Aber was weiß ich schon, ich habe dich verlassen, ich bin fünfundzwanzig, wie traurig das ist.
Du schaust auf den schwarzen Öltanker, der weit draußen dahinzieht.
Du hast Tränen in den Augen.
Ich schweige.
Wir sehen beide aufs Meer, schweigend, um uns nicht ansehen zu müssen.
Es gelingt uns nicht lange.
Wir werden traurig darüber.
Wir sehen uns wieder an.
Du stellst die Tasse in den Sand.
Du blickst auf die beiden Ebenen aus Himmel und Meer, auf diese unendliche Weite.
Mit großer Sorge sagst du: Du bist mir doch nicht böse.
Ich kann nicht antworten.
Du streckst mir deine Hand entgegen.
Ich nehme sie, ich halte sie.
Wegen dieser kleinen Berührung bist du erleichtert. Ich sage: Du bist die Einzige.
Ich sehe dich an.
Du erwiderst meinen Blick.
Du beginnst zu verstehen, daß ich es noch nie zuvor gesagt habe, daß ich es womöglich nie wieder sagen werde.
Du weinst deswegen.
Du weinst, weil du die Einzige bist.
Du sagst: Ich will nicht die Einzige sein, es ist das Schönste, was jemals jemand zu mir sagen wird, es gefällt mir.
Du wartest.
Du suchst nach den richtigen Worten.
Du sagst: Es ist schrecklich, daß es so ist, daß es mir so sehr gefällt.
Die Sonne kehrt zurück, kraftvoll und grell.
Ohne unsere Hände loszulassen, schließen wir im selben Augenblick die Augen.
Wir sind wie zwei Kinder. Wir tragen bunte Wolljacken und Mützen. Wir sind stark. Nichts kann uns verletzen.
Wir schauen einander an, mit geschlossenen Augen, wir sehen uns.
Das geht.
Wir können es.
Wir konnten es schon immer.
Ich sage: Du bist fünfundzwanzig, du hast mich verlassen, ich liebe dich, mehr als alles auf der Welt.
Du seufzt mehrere Male.
Und ich sehe dich, mit geschlossenen Augen.
Die ganze Zeit sehe ich dich.
Diese Liebe vergeht nicht. Sie ist etwas Dauerhafteres als wir selbst.
Ich sage es hier, also ist es wahr.
Ich schreibe. Ich mache alles neu. Ich erfinde die Wahrheit.

Ich schreibe: Du kannst mir nicht mehr zuhören, nicht mehr mit mir sprechen. Du siehst nicht mehr mich oder uns. Du weißt nicht mehr, was du bei mir tust, was das soll mit dir und mit mir, warum du überhaupt bei mir bist, was aus dir werden soll.
Du sagst: Ich war noch ein Mädchen, ein Kind, da warst du schon da. Du warst immer da, seit ich denken kann. Was für eine unglaubliche, großartige Sache, daß ich nie ohne dich gewesen bin. Du warst der erste Mensch, der mich angesehen hat.
Du schüttelst den Kopf, wie über etwas Unerwartetes.
Du sagst: Dieses Glück der Nähe, das ganze Unglück darin. Ich komme nicht von dir los, es ist zum Verrücktwerden.
Du läufst hinunter zum Strand.
Ich folge dir in einigem Abstand.
Dann hole ich dich ein.
Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander.
Irgendwann sagst du: Manchmal habe ich große Angst vor dir, Angst davor, mich dir nicht gewachsen zu fühlen.
Du bleibst stehen. Du nimmst mein Gesicht in deine Hände.
Du sagst: Ich kann das nicht mehr, Tag und Nacht mit dir zusammensein, in diesem Haus, mit dem Meer vor den Fenstern. Ich habe Angst vor dieser Nähe, daß es mir zu sehr gefallen könnte, daß ich nicht mehr von dir loskomme, daß ich dich zu sehr liebe.
Du preßt mein Gesicht fest zwischen deine Hände.
Du sagst: So geht es nicht weiter. Ich habe kein anderes Leben mehr, nur noch das mit dir, das ist zuwenig, es reicht mir nicht. Ich bin jung, mein Leben fängt gerade erst an. Ich möchte das fröhliche Glück kennenlernen, jetzt, wo ich es endlich kann. Ich will mit Männern in meinem Alter zusammensein. Ich will nicht nur einmal lieben.
Du schaust mir ins Gesicht, als wäre es dir plötzlich fremd und nicht mehr vertraut.
Du läßt mein Gesicht los.
Du drehst dich zum Meer um.
Nach einer Weile siehst du mich wieder an.
Du sagst: Wie kann ich dich nur so lieben und dich trotzdem verlassen wollen.
Dann vergeht Zeit, am Ozean und anderswo. Die Liebe ist in der Stille zwischen den Wörtern, im Schweigen, ohne aufzuhören.
Du nimmst meine Hand, du schaust zu Boden.
Du sagst: Ich will von dir loskommen, dich vergessen.
Du drückst fest meine Hand.
Du sagst: Und doch werde ich jedem von dir erzählen wollen.
Du wartest.
Du schaust weiter auf den Boden.
Du sagst: Du warst der erste Mann, den ich geliebt habe.
Du siehst mich abermals an.
Du sagst: Ich verlasse dich, nimm mich bitte in den Arm.

Ich nehme dich ein letztes Mal in den Arm, bevor du gehst. Ich streichele lange dein Gesicht, um es nicht zu verlieren, um mich daran zu erinnern, wenn du nachher fort bist, und morgen, und übermorgen, wenn ich wieder allein bin, um mich an dein Einverständnis zu erinnern, an die vielen glücklichen Tage und Nächte mit dir. Ich weine nicht, ich schreie nicht vor Angst, ich belagere dich nicht. Ich gebe dich zurück an die Dinge. Dinge, die nichts mehr mit mir oder mit uns zu tun haben. Ich gebe dich zurück an andere Männer, an andere Liebhaber und Freunde, die attraktiver sind, erwünschter, weniger bekümmert, alltäglicher, jünger, jedenfalls in deinem Alter. Solche Leute, die deine Aufmerksamkeit mehr fesseln, und die auf dein Begehren antworten, auf andere Weise, in anderen Räumen, unter einem anderen Licht.

Am 1. Januar gehst du über den Plankenweg zum Bahnhof. Ich schau dir nicht nach. Ich folge dir nicht. Ich tue nichts. Ich lasse es geschehen. Ich halte dich nicht mehr auf. Ich verstehe nicht, wie du gehen kannst, daß du mich zurückläßt. Ich bin nicht wie du, ich gehe nicht einfach weiter. Ich bleibe.

Ich rede mit der Fotografie, die ich von dir gemacht habe. Das war letzten Oktober. Die Sonne war noch einmal riesig, sie reichte über den ganzen Himmel, bis zum Cap d’Antifer. Wir waren oben in den Hügeln, in dem Garten mit der blauen Villa. Wir lagen auf der Wiese, wir küßten und streichelten uns. Da waren Spaziergänger, die uns anschauten. Es war dir egal, du wolltest mich weiter küssen, mich weiter streicheln. Du wolltest dich mit mir zeigen. Du warst wunderschön, wie nachts der Himmel. Wie der Flug der Vögel. Wie das Adagio des Violinenkonzertes von Bruch. Wie schön du warst an diesem Tag, als du es in dir erlauben konntest, wie sehr ich dir gefiel, daß wir ein Paar waren, daß die Leute es sahen. Du warst so schön, daß ich meine Augen nicht mehr schließen konnte. Später gingen wir zurück, um unsere Körper sich selbst zu überlassen. Wir liebten uns den ganzen Nachmittag, lagen bis zur Dämmerung zusammen, die einander vertrauten Hände an unseren Wangen, dein herrlicher Körper an meinem, wir redeten leise, wir lachten, waren erleichtert, ruhig, wir hatten das gleiche Alter, waren einander ähnlich. Bevor wir zurückgingen, um uns zu lieben, machte ich dieses Bild, in dem Garten mit der blauen Villa. Ich machte noch andere Bilder, ich habe sie alle weggeworfen, bis auf dieses eine. Ich rede achtzehn Tage lang mit diesem Bild. Ich rede mit den Wänden. Ich rede mit der Kühlschranktür und mit meinem Spiegelbild. Der Schmerz der Trennung schleicht sich ein, er ist wie eine endgültige Niederlage, beunruhigend. Was für ein gewaltiger Schmerz, er hat die Größe eines Ballsaals, ich durchquere ihn, bis er und ich eins werden. Ab hier gibt es keine künftige Zeit mehr, in der alles neu ist. Jeder bevorstehende Augenblick wird den Augenblick der Trennung wiedererwecken, ich werde mich nie mehr ganz davon erholen. Was auch immer ich vergessen werde, wird mich nicht vergessen. Es fühlt sich an, als würde ich mitten im Leben meinen eigenen Tod betrauern.

Ich hebe den Hörer des Telefons ab, ich rede mit dir, ich tue so, als wärst du am anderen Ende. Es ist wie früher, wir reden miteinander, unermüdlich, jede Nacht, stundenlang, weil einer dem anderen fehlt, weil wir einander nicht mehr entbehren können, nicht nachdem wir uns einmal gesehen haben. Da ist ein solches Verlangen, die Stimme des anderen zu hören, ihm nahe zu sein. Wir können nicht darauf verzichten, auf diese am Telefon verbrachten Stunden, in denen wir abwechselnd gesprochen und einander zugehört haben. Die Tage und Wochen des Sprechens und Zuhörens, die Monate, die Jahre, ich begreife nicht, wie es möglich war, diese Nähe und Intimität, eine solche Vertrautheit, wie man sich so sehen konnte, am Telefon, ohne sich leibhaftig zu sehen. Ich weiß nicht mehr, was das war, das mit uns, ob du nur bei mir warst wegen deiner großen Verzweiflung, weil du nicht mehr allein sein konntest, nachdem es in deiner Kindheit keinen einzigen Tag gab, an dem du dich nicht allein und verlassen gefühlt hast. Weil zum ersten Mal in deinem Leben jemand für dich da war. Weil ich für dich war, ganz und gar, die ganze Zeit, ohne damit aufzuhören. Ich weiß nicht, was es für dich war, ob es Liebe war für dich. Ich sage in den Hörer: Wenn es Liebe war, muß etwas übrigbleiben, das Liebe ist, etwas Sichtbares, sonst war es nichts. Ich lege den Hörer zurück.

Ich laufe hinunter zum Strand. Ich habe große Lust, ins Meer zu gehen. Ich merke es schon seit Tagen. Doch ich habe Angst. Ich will mir nicht weh zu tun, nicht nachdem du mir wehgetan hast. Ich ertrage keinen Schmerz mehr. Ich bin innen und außen ganz wund von der Kerbe, die dein Hieb hinterlassen hat. Ich rede mit mir, ich sage, daß es kalt ist draußen, ich muß den Mantel anziehen. Und dann sage ich mir, nein, ich kann nicht in dem Cashmeremantel von Marc Jacobs, den du mir geschenkt hast, ins Meer gehen, das ist lächerlich. Niemand geht mit Mantel, Schal und Mütze ins Meer, ich werde zur Witzfigur. Außerdem hast du ein Jahr gespart, um mir diesen Mantel schenken zu können, nachdem ich ihn bei Louis Vuitton in der Auslage sah. Ich rede mir gut zu, stundenlang, bis ich die Notwendigkeit spüre zu bleiben. Ich versuche dich weiter zu lieben, dich noch mehr zu lieben, bis ich mir sage, daß es genug ist. Ja, es reicht. Ich weiß nicht mehr, was das alles soll, ich habe dir alles gegeben, du hast alles genommen. Und dann bist du gegangen.

Ich weiß nicht, ob du mich genug geliebt hast. Ich stelle mir diese Frage immer wieder. Jedesmal lache ich darüber, ich lache über mich. Habe ich dich denn genug geliebt? Liebe ich dich genug? Kann ich dich anschauen und verstehen, dich lieben und beschützen, konnte ich es? Und du, kannst du es, konntest du es? Wie will man genug lieben, genug geben? Man kann nicht genug lieben, nie genug geben, nur zuwenig. Also beginne ich noch einmal, ich strecke dir meine Hand entgegen, stehe neben dir, wenn du dich deinen Ängsten stellst, wie in dem Lied, das ich heute morgen im Radio hörte.

Ich kann ohne dich nicht leben, ich kann es, aber ich will es nicht. Ich bin im großen Zimmer, ich tanze im Kostüm des Verliebten, ich schreie und tobe. Ich bin völlig irre, betrunken und fühle mich schuldig. Ich stürze und gehe zu Boden, ich schlage mit der Stirn auf den Glastisch, ich blute. Ich reiße mir die Kleider vom Leib und zerschneide sie, mit den Fetzen wische ich mir das Blut von der Stirn und die Tränen aus dem Gesicht. Ich liege auf dem Boden, ich bin völlig nackt. Mit meiner Stirnwunde rezitiere ich John Donne: … in whom alone/ I understand, and grow and see…

Ich sitze vor dem roten Sofa, ich betrachte es, als wäre es ein eigenes Universum. Ich erinnere mich an Joseph und seine autistische Schwester Chloé, wie sie in dem Film Kleine Teufel von Christophe Ruggia ihre Lust entdeckt, an deine Rührung wegen Chloé, im Moment des Wiedererkennens eines Teils deiner eigenen Geschichte in ihr. Und danach, auf dem roten Sofa, das Zittern deines Körpers unter meinen Berührungen und Küssen. Ich sehe das Verzücken in deinem Gesicht, deinen geöffneten Mund, deine geschlossen Augen, wie du mit den Fingerspitzen über deinen Körper streichst, mit welcher Freude du deine Brüste streichelst, deinen Bauch, mit dieser ergreifenden Zärtlichkeit, die mich jedesmal überwältigt, wenn ich nur daran denke. Ich sehe, wie erschüttert du darüber bist, zum ersten Mal in deinem Leben von soviel Lust erfüllt zu sein, dich dem hingeben zu können, auf diese dir bisher unbekannte Weise. Ich sehe deine Tränen deswegen, deine Kindertränen. Du weinst, weil du glücklich bist, daß die schrecklichen Dinge aus deiner Kindheit in diesem Moment weniger Macht haben als zuvor. Auch wegen dieser starken Liebe. Wegen allem, wie du sagst. Vor allem wegen der Art, wie ich aufmerksam bin, wie ich mich dir nähere, dich liebkose. Wie ich mache, daß du dich auf diese Weise berühren kannst, als wäre ich ein Zauberer.
Du sagst: Niemand liebt mich wie du, mit allem, was er ist, mit seinem ganzen Leben. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich jemanden so sehr geliebt wie dich, von der Erde bis zum Mond und wieder zurück.

Ich weiche nicht zurück, ich lerne diese Farbe auswendig, das Rot des Sofas, auf dem du mir sagst, daß du dich sicher und geborgen fühlst bei mir, daß du mit deinen Gedanken allein sein kannst, wenn du weißt, daß ich in der Nähe bin. Das rote Sofa, auf dem du mir sagst, daß mein Herz schön ist, daß du es niemals brechen wirst, daß du so erfüllt von mir bist, daß ich alles für dich bin, schon dein ganzes Leben lang. Daß es kein Wort gibt für das mit uns, nichts Vergleichbares zwischen Himmel und Erde, und daß du mich niemals verlassen wirst, daß ich dir vertrauen kann, was das angeht. Daß dein Leben nicht nur aus mir besteht, nicht nur aus uns. Daß es noch mehr geben muß als diese Liebe, als uns zu lieben. Daß du nicht mehr bei mir bleibst, daß dein Entschluß feststeht. Auch dies sagst du mir auf dem roten Sofa, zu einer anderen Zeit. Du springst auf und läufst mit geballten Fäusten durchs Zimmer. Du schreist mich an, daß das nicht mehr geht, daß es noch soviel zu erleben gibt, daß du nicht nur in mich verliebt sein willst, daß du dich noch oft neu verlieben willst. Du willst andere Männer lieben, Männer in deinem Alter, du willst, daß sie dich lieben, daß sie dich begehren, du würdest alles dafür tun. Du willst Kinder, eine Familie, willst frei sein, dich frei fühlen, fortgehen. Das mit mir gefällt dir, du findest es schön, lustvoll, anstrengend, interessant, aber es ist nicht das, wovon du träumst, du glaubst, daß es nirgendwohin führt.

Am Morgen lege ich meine Hand auf das Sofa, ich atme das Rot, den Geruch deiner Haut, deines Haares. Ich höre dich rufen, du schreist nach mir. Von diesem Ort, an dem du jetzt frei bist, höre ich deine Schmerzensrufe. Und dann erstirbt das Rufen, ich höre es nicht mehr. Ich höre draußen Kinder lachen, es regnet aufs Meer. Das Telefon klingelt, ich nehme den Hörer ab, ich sage deinen Namen. Du bist es nicht, es ist ein Vertreter für Tiefkühlkost, er ist aufdringlich, er redet über Großmutters Apfelkuchen, von Cremerollen, einer Pumuckltorte. Ich lege den Hörer zurück, ich gehe nicht mehr ans Telefon, ich rufe niemanden mehr an. Ich lasse mir Wein bringen und Essen, nur deshalb stehe ich auf. Ich gehe zur Tür, um das Essen in Empfang zu nehmen, den Wein. Ich hole die Zeitungen an der Eingangstür, die Post, ich gehe wieder zurück. Es ist jeden Tag dasselbe, derselbe Weg, zur Tür, und wieder zurück. Ich lese die Zeitungen nicht, ich lese keine Zeitung mehr, ich öffne die Post nicht. Ich esse, ich trinke, ich sehe fern, ich fange wieder an zu rauchen. Ich rauche, bis mir schlecht wird, bis ich wieder damit aufhöre, wie mit dem Trinken, mit dem Fernsehen. Ich rauche und trinke bis zur Übelkeit, ich sehe fern bis zum Erbrechen. Ich fange jeden Tag von vorne an, ich rauche, ich trinke, ich sehe fern, und ich höre wieder damit auf. Und dann beginnt es von vorne, bis ich es nicht mehr ertrage: die Weinflaschen, die Essenschachteln, die Zigaretten, die ungelesenen Zeitungen, die ungeöffnete Post, das Fernsehen, mich selbst. Ich ertrage mich nicht mehr, nicht auf diese Weise, ich halte diesen Kummer nicht mehr aus. Ich betrachte mich im Spiegel, mein Körper ist dick und aufgeschwemmt, meine Haut ist bleigrau, fast schwarz.

Und dann geht es vorbei.
Nach fünf Monaten ist es vorbei.
Ich wasche mich wieder.
Ich rasiere mich.

An einem Sonntagmittag bringe ich die leeren Flaschen zu den Containern, die Zeitungen, die Zigaretten- und Essenschachteln. Die Leute sehen mich an, sie schauen sich nach mir um. Sie zeigen mit dem Finger auf mich, reden hinter vorgehaltener Hand. Die Kinder laufen lachend hinter mir her. Es ist mir egal, die Kinder, ihr Lachen, diese abscheulichen Leute, worüber sie reden, was sie von mir denken, ihre Blicke, das interessiert mich nicht. Ich konzentriere mich auf mein Atmen, darauf, daß ich nicht ohnmächtig werde. Ich atme schwer. Ich weiß, es sind die Zigaretten, der ganze Dreck, den ich gegessen habe, die Burritos, die Enchiladas, die Frühlingsrollen, die Desserts, die Fertigkuchen, der Dreck, den ich im Fernsehen gesehen habe, die Serien, die Shows, die Kochsendungen, die gutaussehenden Gerichtsmedizinerinnen, die Nachrichten, die abstoßenden Körper der Frauen in Erotik nach Mitternacht, die Dokumentationen über Edelsteine, Massentierhaltung, Finanzkrisen, Serienmörder, gedopte Radrennfahrer, Klimaerwärmung, korrupte Politiker, mißbrauchte und ermordete Kinder, Supermodels, Osama Bin Laden, über Menschen, die auf allen Vieren laufen, und Frauen um die Vierzig, die sich freiwillig ihre inneren Schamlippen beschneiden lassen, um sich sexuell wieder attraktiver zu fühlen. Die sagenhafte Dummheit der Welt, zusammengedrängt in diesem Fernsehkasten, Lügen einer stillstehenden, bedeutungslosen Zeit, in die die Körper stürzen wie in eine sternenlose Nacht, mir ist schwindlig davon.

Ich ziehe das rote Sofa auf die Terrasse, ich habe Angst, es nicht zu schaffen, Angst, daß ich jemanden aus der Nachbarschaft bitten muß, mir dabei zu helfen, Angst vor den Fragen. Ich will nicht, daß mich jemand fragt, weshalb das Sofa auf die Terrasse soll, nach dieser unbedingten Notwendigkeit, es nach draußen zu bringen, oder daß mich jemand nach dir fragt. Ich will nicht über dich sprechen, will dich vergessen. Es lohnt nicht mehr, an dich zu denken, du bist es nicht wert. Ich brauche einen ganzen Tag für das Sofa, ich fühle mich erschöpft, ohne Kraft, es ist sicher das Herz, das gebrochene Herz. Ich sitze schweißgebadet auf dem Sofa, auf der Terrasse, nachdem ich es geschafft habe, ich biege mich vor Lachen, weil mein Herz gebrochen ist und es trotzdem nicht aufhört: zu lieben, von dir getrennt und trotzdem mit dir zusammen zu sein.

In irgendeiner Nacht beginne ich einen Brief an dich, ich schreibe: Du warst ein Ereignis, und nun wirst du in Vergessenheit geraten. Ich schreibe weiter: Ich vergesse dich nicht, mehr als alles auf der Welt liebe ich dich. Ich schicke den Brief nicht ab, ich lege ihn zu den anderen, die ich ebenfalls nicht abgeschickt habe, es sind viele, vielleicht hundert, sie liegen alle in einer Weinkiste. Ich wähle deine Telefonnummer, ich warte auf den Anrufbeantworter, auf deine Stimme, die sagt: Freue mich über gute Nachrichten. Ich lege auf, ich wähle erneut. Abermals höre ich deine Stimme, ich sage nicht: Ich vergesse dich nicht, mehr als alles auf der Welt liebe ich dich. Ich sage nichts, ich höre nur deine Stimme, ich lege wieder auf. Ich habe Tränen in den Augen, wegen deiner Stimme, weil ich keine gute Nachricht für dich habe, weil ich es nicht sagen kann: Ich vergesse dich nicht, mehr als alles auf der Welt liebe ich dich. Wegen all dieser Briefe in der Weinkiste, weil ich nicht fertig werde mit dir. Weil ich dich lange genug gesehen habe, um dich nie mehr zu vergessen.

Ich weiß nicht, warum das alles, es gibt andere Frauen, intelligente, schöne Frauen, die ein Ereignis sein könnten, die Einzige, solche Frauen, die ich lieben könnte. Es gibt den Atlantik vor meinem Fenster, den leeren Himmel, das helle Licht, die Farben, die Musik. Da sind die herrlichen Gärten in den Hügeln, die Stechpalmen und Lebensbäume, die Hortensien, die Kinder am Strand. Vor mir ist der Atlantik, der Anfang von allem. Es ist nicht zu spät, von dieser Liebe zurückzukehren.

Es ist der erste Tag, es ist Sommer, ich gehe auf den Markt. Zum ersten Mal seit langem bin ich wieder unter Menschen. Ich verlasse die Wohnung, um unter Menschen zu sein, um einzukaufen, was für eine unglaubliche Sache. Ich kaufe Zucchini, Auberginen, Tomaten, eine große Papaya, zwei Mangos, einen Fisch. Später stehe ich in der Küche, ich schäle eine der Mangos, ich halte sie mit beiden Händen, ich beiße hinein, der Saft läuft mir am Kinn hinunter zum Hals, sie schmeckt köstlich, diese Mango ist ein Fest. Ich zerkleinere das Gemüse und die Papaya, ich bereite alles in der großen Pfanne zu, nehme Koriander, Nelken, Zimt, ein wenig Kreuzkümmel, schwarzen Pfeffer, es duftet herrlich, ich gebe Safran dazu. Ich grille den Fisch, ich esse, ich mache weiter. Ich lese die Zeitung, höre im Radio Musik. Ich gehe hinunter zum Strand, ich komme allein zurecht. Die Tage und Nächte vergehen, ich bin ohne dich, ohne deinen Körper, ohne den Klang deiner Stimme, ohne deine Umarmungen und Küsse. Ich weine nicht mehr tagelang, ich trinke nicht mehr. Ich koche, ich esse, ich bin am Leben, was für ein Erlebnis.
 (…)

Heute sind drei Mädchen am Strand, sie sind weiter vorne, in der Nähe des Wassers. Sie tragen bunte Kleider, Anoraks und Gummistiefel. Neugierig betrachten sie die Möwen, ihre verrenkten, teilweise zerfetzten Körper, mit den Füßen schubsen sie die verendeten Tiere von einer Seite auf die andere. Das Mädchen, das größer ist als die beiden anderen, sammelt kleine Holzstückchen und bringt sie den anderen, es trägt eine rote Kappe, die ihm tief im Gesicht sitzt. Die Mädchen untersuchen gewissenhaft die Kadaver der Möwen, neugierig heben sie die zerfledderten Gefieder mit ihren Stöckchen an, betrachten die heraushängenden Innereien, die über den Schnäbeln weit aufgerissenen Augen. Als ich näherkomme, schaut das Mädchen mit der roten Kappe auf und sieht mich eine Minute oder länger ununterbrochen an. Unter seinem Blick fühle ich mich, als wäre ich in der Sonne ganz durchsichtig geworden, wie eine Limettenscheibe, wenn man sie ins Licht hält.

Das Mädchen holt ein Schweizer Messer aus seiner Tasche, es beginnt die Möwe zu zerschneiden, als hätte es nie etwas anderes getan, es ist geschickt. Auch die beiden anderen Mädchen, die mit ihren Stöckchen den aufgeschnittenen Körper offenhalten, wissen offenbar Bescheid. Das kindliche Begehren macht, daß der tote Körper nicht abstoßend wirkt, die Mädchen sind fasziniert von dem, was der Tod übriggelassen hat.
Ob das hier das Herz ist, fragt das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln.
Das Herz ist ziemlich groß, sagt das Mädchen mit der roten Kappe.
Vielleicht war sie ja verliebt, sagt das dritte Mädchen.
Die anderen Mädchen stimmen dem Gesagten zu.
Die Mädchen sind konzentriert, sie graben mit ihren Händen ein Loch in den Sand.
Das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln erzählt von seinem Onkel.
Es sagt: Er ist kein normaler Mensch mehr, seitdem meine Tante ihn verlassen hat, er versteht nicht, daß sie fort ist. Er sagt, daß er nicht wußte, daß sie unglücklich war.
Und was sagt deine Tante, fragt das Mädchen mit der roten Kappe.
Das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln verdreht die Augen.
Es sagt: Sie hat erzählt, daß mein Onkel ihr jeden Tag schreibt und daß sie seine Briefe nicht liest. Sie wirft sie weg.
Wie gemein das ist von deiner Tante, sagt das dritte Mädchen.
Gleich darauf spricht es von der Scheidung seiner Eltern und daß sein Vater die jüngere Schwester ihrer Mutter geheiratet hat und daß sie ein Kind miteinander haben.
Es sagt: Meine Mama sagt, daß keiner den anderen so lieben kann, wie er es braucht, es sei vergeblich.
Dann erzählt das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln abermals von seinem Onkel, es berichtet, daß er trinkt.
Es sagt: Er geht seit Monaten nicht mehr raus. Er hat zu mir gesagt, da ist ein Monster in der Wohnung, das ihn nicht vorbeiläßt.
Das muß ein komisches Monster sein, wenn es dich zu ihm reinläßt, aber ihn nicht mehr raus, sagt das Mädchen mit der roten Kappe.
Es schüttelt den Kopf und lacht.
Die Mädchen legen die Möwe vorsichtig in das Loch und schieben mit ihren Händen den Sand darüber, bis das Loch mit der Möwe darin geschlossen ist.
Das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln sagt: Jedes Mal, wenn ich bei ihm war, erzähle ich meinen Eltern hinterher, wie schlecht es ihm geht. Aber sie hören nie richtig zu.
Man kann mit seinen Eltern über immer weniger reden, sagt das Mädchen mit der roten Kappe.
Es blickt auf, es schaut eine Weile auf das dritte Mädchen.
Kopfschüttelnd sagt es: Aber daß dein Vater die Schwester deiner Mutter geheiratet hat, das ist schon kraß.
Wenn ich mir vorstelle, daß mein Vater meine Tante heiratet, das wäre voll eklig, sagt das Mädchen mit den grünen Gummistiefeln.

Vom anderen Ende des Strandes nähert sich langsam ein weiteres Kind. Es blickt beim Gehen nach unten. Der schmächtige Körper steckt in Jeans und einer grauen Kapuzenjacke. Es zieht sein Bein hinter sich her. Das Kind ist Matti. Als er herankommt, begrüßen die Mädchen ihn. Matti gibt mit nichts zu erkennen, daß er sie gehört hat, er schweigt, blickt weiter nach unten. Mit seinem kranken Fuß schiebt er ein paar der Möwen zur Seite und legt die mitgebrachten Blumen in den Sand. Es ist die Stelle, wo letzte Woche Agathas Körper lag, nachdem die Polizisten ihn an den Strand geschafft hatten. Matti wirkt unschlüssig. Von irgendwoher hört man eine Frauenstimme, die offenbar einem der Mädchen gilt. Im nächsten Moment tritt eins der Mädchen auf eine tote Möwe, ein Knacken ist zu hören, wie wenn Knochen brechen. Matti hebt seinen Blick und schreit. Es ist ein markerschütternder Schrei, der über den Strand zieht, wie in den Nächten zuvor der Sturm. Matti klingt wie ein verletztes Tier, in seinem Gesicht, das sich zusammenzieht, bilden sich Falten, die wie kleine Kratzer und Risse aussehen. Für einen Moment tritt hinter dem Gesicht, das man sieht, die Spur eines weiteren Gesichts hervor, eins, das man sich nicht vorstellen konnte. Ganz kurz scheint darin auf, was er erlitten hat und wieviel Kraft er aufbringen muß, wenn er es überall spürt, so wie eben, wo er einfach nur dasteht und nichts unternehmen kann, um sich in seinem Körper warm und glücklich zu fühlen. Dann bricht der Schrei jäh ab. Matti schlägt die Hände vors Gesicht, er rührt sich nicht mehr, steht stocksteif da, er wirkt absolut schutzlos. Die Mädchen sind erschrocken. Sie sehen sich verzweifelt an, werfen mir hilflose Blicke zu. Sie wollen fort. Und dann sind sie fort. Und ich sehe Matti an, und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Du sagst: Geh zu ihm, du kannst seine Angst in dein Herz lassen.
Deine Stimme, das, was du sagst, bringt mich zum Erstarren.
Ich sage: Ich kann es nicht, es ist unmöglich.
Du trittst an mich heran, du legst beide Hände auf meinen Rücken.
Wegen meiner vollkommenen Unbeweglichkeit, die du bemerkst, als du mich berührst, bist du erschrocken.
Du sagst: Denke an den anderen Jungen, der auch blaue Augen hatte, an den mit dem blondem Haar, der in die Parks ging und dort Dinge in der Erde vergrub, damit sie sich entwickeln können. Dieser Junge, der sich versteckte, um gefunden zu werden.
Ich spüre deine Hände kaum unter den harten Schichten aus Angst, Schweigen und Reglosigkeit.
Ich sage: Nein, er versteckte sich, um verborgen zu bleiben.
Deine Hände liegen weiter auf meinem Rücken, du streichelst mich, ich möchte um Hilfe schreien.
Du sagst: Der Junge wollte nicht mehr wegen jedem kleinen Wunsch schreien und um sich schlagen müssen, aber er wollte gefunden werden. Du weißt, daß es so ist.
Ich will dir nicht länger zuhören, ich will, daß du aufhörst.
Die Kluft zwischen uns vergrößert sich.
Und dann verringert sie sich wieder.
Ich sage: Was weiß so ein Junge schon, was er sich am meisten wünscht.
Du sagst: Daß wir seinem Schmerz Liebe entgegenbringen, wenn wir ihn endlich gefunden haben, und daß er sieht, daß die Dinge, die er in der Erde vergraben hat, sich entwickelt haben.
Ich mache eine abwehrende Bewegung mit meinen Schultern.
Du läßt dich davon nicht beirren, deine Hände bleiben auf meinem Rücken, du trittst noch näher an mich heran, ich kann deinen Atem in meinem Nacken spüren. Dein Atem und deine Hände machen, daß ich meine eigene Haut unter meiner Schutzhaut spüre und wie sich diese Schutzhaut durch deine Berührungen verringert.
Du sagst: Er ist wie du, er wünscht sich, daß die Dinge, die er vergraben hat, sich so entwickeln, daß Bitterkeit und Zorn in ihm verschwinden, daß er mit Freude und Entschlossenheit weitermachen kann.
Ich höre die Schreie eines Kindes, das tief drinnen in seinem Körper lebt, weit genug entfernt von allem, ein Kind, das weder seine Oberflächen kennt, noch die der anderen. Es ist das Kind mit den blauen Augen und dem blonden Haar.
Zögernd sage ich: Dazu muß er gefunden werden.
Ich spüre deine Hände auf meinem Rücken anders als zuvor. Es kommt mir seltsam vor, auf diese Weise von dir berührt zu werden, ich kenne es nicht. Du mußtest erst gehen, mich verlassen, um mich auf diese Weise berühren, um mir sagen zu können, was nötig ist, hier, in dem Geschriebenen.
Du sagst: Geh jetzt zu ihm.

Ich trete von hinten an Matti heran, ich lege meine Hände auf seine Schultern. Er steht weiter bewegungslos da, er hält die Luft an, hört auf zu atmen. Sein ganzer Körper wirkt zerbrechlich, wie aus Glas. Er ist angespannt, sein Rücken ist hart. Es muß ihm weh tun, sich so anzustrengen, auf diese Weise zu atmen, die zu Fäusten geballten Hände vor sein Gesicht gepreßt. Ja, es tut ihm weh. Und dann, ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, eine halbe Stunde oder länger, atmet er aus, ganz vorsichtig, damit niemand es hört. Ich möchte ihn irgendwie dazu bringen, die zusammengepreßten Hände aus seinem Gesicht zu nehmen, oder seine Hände öffnen, damit er sein Gesicht dort hineinlegen und es ausruhen kann. Ich will ihn an den Rand des Meeres führen und ihm etwas erzählen, während wir uns in den Sand setzen, vielleicht etwas über den Ozean, den Wind und die Möwen. Alles Mögliche über das Leben, das wie ein Stück farbiger Stoff ist, ein Theatervorhang, der Falten wirft und der manchmal zerknittert, und dahinter nichts, wovor er solche Angst haben muß. Ich stehe weiter hinter ihm, meine Hände liegen auf seinen Schultern, ich trete näher an ihn heran. Ich suche die zu Fäusten erstarrten Hände vor seinem Gesicht, lege von hinten meine Hände auf seine Hände, ich umfasse sie. Und dann warte ich. Und minutenlang geschieht nichts. Und dann sehe ich die Splitter von dem, was in ihm zerbrochen ist. Ich erkenne die zerbrochene Stelle in ihm, ähnlich der an seinem Fuß, dieser Knochen, der einmal gebrochen war und anschließend nicht mehr richtig zusammenwachsen konnte. Ich stehe jetzt nah bei Matti, berühre seinen Körper, ich atme seinen Geruch, der identisch ist mit dem auf meiner Haut. Ich beginne damit, seine Hände zu streicheln, spüre sein Herz, wie es in seinem Körper klopft, wie dieses Klopfen macht, daß sein Herz an meinem Körper anhaftet. Und dann beginnt dieses Herz mit einem Mal zu hämmern, es schlägt mit einer Heftigkeit gegen die inneren Wände seines Körpers, als wollte es ihn aufsprengen, während der übrige Körper nach außen hin völlig ruhig ist, reglos. Plötzlich stößt Matti meine Hände aus seinem Gesicht und macht einen Schritt nach vorne, er stolpert, geht zu Boden, überrascht von der Heftigkeit seiner eigenen Bewegung. Er versucht, wieder auf die Beine zu kommen, kniet vor mir, er sieht mich an, sein Blick ist verzweifelt, in seinen Augen stehen Tränen und etwas Unlösbares. Ein paar der Splitter, die in seinem Körper nach innen gerichtet sind, fallen heraus, ich bücke mich danach, sammle sie ein. Sie sehen wie hellbraune Glasscherben aus, an einigen der scharfen Kanten sehe ich getrocknetes Blut. Ich knie mich neben Matti, ohne ihn zu berühren, ohne ihm zu nahe zu kommen. Ich weiß, sein Herz könnte versagen, wenn ich versuchte, seinen kindlichen Körper meiner Nähe auszusetzen, bevor sich der durch meine Berührung entstandene Riß in ihm wieder geschlossen hat. Ich halte die Splitter ins Licht und lasse mir ihre wahre Geschichte erzählen, sehe das Böse, das überall eingedrungen ist, ich erkenne es wieder. Ich empfinde tiefen Ekel. Ich werfe die Splitter in den Sand, ich schneide mich, Mattis Blut und meins vermischen sich. Nun gibt es kein Entkommen mehr.

Matti streckt mir seine Hand entgegen, es ist wie ein Flehen. Ich ergreife seine Hand, sie ist warm, diese Hand, die warme Hand eines Jungen mit blauen Augen und schwarzem Haar. Ich erkenne in ihm diesen anderen Jungen, den in mir, den mit den blauen Augen und dem blonden Haar, von dem ich immer noch viel zu wenig weiß. Mattis schwarzes Haar, das auch blond ist, seine blauen Augen, dasselbe Blau wie bei dem anderen Jungen, das Blau, in dem der Krieg ist, die Besetzung, fremde Truppen, Schwärze, Gefangennahme, Beraubung, Brutalität, Schläge, die Folter. Da ist eine andere Sprache als die eines Kindes, eine harte Sprache, die befiehlt, die einen zum Schweigen bringt, zum Ersticken, zum Umfallen. Die Sprache der Lager. Mich überkommt eine wahnsinnige Angst, von der ich weiß, daß sie nichts bedeutet, weil die Liebe in mir, mit der ich Mattis Hand halte, eine größere Macht besitzt als das, sie ist mächtiger als alles andere. Ich halte Mattis Hand mit deiner Liebe, mit all der Liebe, die wir zusammen geschaffen haben.

Matti hat seine Hand zurückgenommen, er hat sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Er steht nun mit dem Rücken zum Meer und zeigt auf die Stelle, wo die Blumen liegen, die toten Möwen, dorthin, wo Agathas Körper lag.
Er sagt: Die Menschen machen alles kaputt.
Seine Stimme klingt müde, erschöpft.
Matti setzt sich in den Sand, er sieht zum Himmel, dann zum Meer, hört auf die Geräusche, die es macht, auf den Wind, der von der Art ist, daß er nichts von dem verweht, was geschehen ist.
Matti versucht ein Lächeln.
Ohne mich anzusehen, sagt er: Du kannst jetzt neben mich kommen.
Ich stehe auf und gehe zu ihm, ich setze mich neben ihn in den Sand, an den Rand des Meeres.
Matti ergreift meine Hand, er schmiegt sich an mich, bis ich ihn spüre, das Gewicht seines warmen Körpers, seine ganze Zartheit, es ist unbeschreiblich.
Er sagt: Ich dachte immer, es ist besser, allein zu sein, wie dumm von mir.
Ich sage: Man täuscht sich meistens, was das angeht.
Matti schaut mich an, er blinzelt angestrengt mit den Augen, als müßte er gleich weinen.
Er will mir etwas sagen, fängt an, es mißlingt ihm, er schweigt. In einer Mischung aus Ärger und Erstaunen schüttelt er den Kopf. Er fängt erneut an, und abermals mißlingt es.
Irgendwann sagt er leise: Ich hatte noch nie einen Freund. Ich glaube, du bist jetzt mein Freund.

Und jetzt singt sie noch einmal, Agatha, ja, sie singt, ich höre sie singen, ein Chanson von Sardou, und sie tanzt dazu, ein letzter Tanz, sie tanzt einfach, sie vergißt alles, vergißt diesen Mann, seinen Verrat, den Schmerz, den er ihr zugefügt hat, ihr ganzes Unglück, sie ist wunderschön, unwiderstehlich, es ist herrlich, ihr zuzusehen, Agatha, die eine Grenze überschritten und ihre Heilung dem Tod anvertraut hat, bevor die Welt zu ihr kommen konnte, am Rand des Meeres, wo sie singt und dazu tanzt, und ich, ich könnte darüber weinen, die ganze Zeit, weil ich mir so sehr wünsche, daß sie zu den Lebenden gehört, daß sie zu ihnen zurückkehrt, zu den Lebenden, an die man denkt, die man lieben muß, die man mehr lieben muß, noch mehr, wie die Blumen in den Parks ihren Duft verströmen.

Es ist Mittag. Die Sonne ist wie ein heller, gellender Schrei. Ich gehe über die Holzplanken am Meer entlang. Das Meer ist ruhig und wie durchsichtig in der prallen Sonne. Ich setze mich auf eine der Bänke. Der noch menschenleere Strand ist wie ein glitzernder Teppich, in eine goldgelbe Wärme gehüllt. Auf einer anderen Bank sitzen ein Junge und ein Mädchen und reden leise miteinander. Neben ihnen stehen ihre schweren Rucksäcke. Hinter ihnen die ungeheuere Ausdehnung des Strandes, die unendliche Leere des Ozeans. Das Mädchen zieht nacheinander seine Schuhe und Strümpfe aus, und der Junge nimmt die Füße des Mädchens, legt sie in seinen Schoß und massiert sie. Als das Mädchen seinen Kopf in meine Richtung dreht, sehe ich, daß seine eine Gesichtshälfte verbrannt ist. Da ist eine riesige Brandnarbe, die ihm bis zum Auge reicht und über seine Lippen hinunter zum Kinn. Der Junge bemerkt meinen Blick. Schützend legt er seine Hand auf das zerstörte Gesicht seiner Freundin, er küßt es, liebevoll und zärtlich, auch die zerstörte Hälfte. Das Mädchen erwidert sein Küssen. Die beiden küssen sich, sie küssen sich mit geschlossenen Augen und mit offenen Augen, sie können nicht genug davon bekommen, sie küssen sich die ganze Zeit. Dann kommen die Kinder. Sie steigen die Treppe hinunter zum Strand, sie schauen aufs Meer, laufen sofort hinein, sie lachen, sie tauchen sich gegenseitig unter. Sie sind laut und verrückt und voller Anmut. Die Großen nehmen die Kleinen auf ihre Schultern, bis sie schreien vor Freude. Danach kommen die Erwachsenen, sie rufen nach den Kindern, sie reden miteinander, sie streiten, es ist wie jeden Tag. Ich frage mich, warum diese Leute zusammenbleiben, ob sie überhaupt noch wissen, warum sie da sind, was sie voneinander wollen. Eine Frau sagt zu einem Mann: Ich bin nicht auf der Welt, um dich glücklich zu machen. Ich bin auf der Welt, um selbst glücklich zu sein. Sie hört sich nicht glücklich an, als sie es sagt. Ich glaube, sie würde sich besser fühlen, wenn sie auch auf der Welt wäre, um diesen Mann glücklich zu machen. Dazu müßte sie ein wenig so sein wie der Junge auf der Bank, der abwechselnd die Füße des Mädchens reibt und es küßt. Dieser gutaussehende Junge, der andere Mädchen küssen könnte, die keine Narben haben. Das er dieses Mädchen küßt, begeistert mich für einen Moment. Auch, daß dieses Mädchen jemanden hat, der es küßt.

Während ich dies schreibe, höre ich die Stimme des Jungen wieder: Du bist die ganze Welt. Das Mädchen rührte sich nicht. Es betrachtete das Gesicht des Jungen wie eine Zeichnung. Es wartete noch, ohne etwas zu sagen. Im nächsten Moment sah man im Gesicht des Mädchens, daß es so war, wie der Junge gesagt hatte. Es war wahr geworden, was er gesagt hatte. Das Mädchen war die ganze Welt geworden. Als ob der Junge dem Mädchen und allen, die es sehen konnten, etwas zurückgegeben hatte. Ich war mir deshalb so sicher, weil das Mädchen mit einem Mal unversehrt wirkte, die riesengroße Narbe war plötzlich verschwunden, oder man achtete nicht mehr darauf. Es war so, als gäbe es die Narbe nicht mehr. Jäh war es möglich geworden, die ganze Welt in einem Mädchen zu sehen und sie zu lieben, bloß wegen einiger Worte und der Blicke eines Jungen.

Ich sehe diese beiden jungen Liebenden eingeschlossen in der unbändigen Freude des Küssens, gefangen in diesen Augenblicken, in denen man die Ewigkeit denken könnte. Es ist vielleicht eine jener herrlichen Gelegenheiten, in denen die Liebe auf eine Weise erwidert wird, als könnte sie niemals weiterziehen, als könnte nichts sie jemals zum Verschwinden bringen. Da sind ihre Worte zwischen den Küssen, das, was sie sagen und sich einander versprechen, all die Worte der Liebe, die gesagt werden müssen, damit man es glauben, damit man weiter kommen und gehen, sich weiter sehen kann. Du bist ein Ereignis, komm, ich nehme dich mit, ich bleibe bei dir, ich verlasse dich nicht, was für ein Glück mit dir, ich liebe dich mehr als alles. Man muß diese Worte sagen, man muß sie wiederholen, die Treueschwüre und Versprechungen, sie müssen sich wie eine Decke über einen legen. Man muß jedesmal neu daran glauben und damit glücklich sein, damit die Liebe stattfinden kann, um am Leben zu bleiben. Man muß verstehen, daß es mit der Liebe ist wie mit der Sonne, die am Abend den Himmel verläßt und im Meer versinkt und am nächsten Morgen zurückkehrt, und das seit Abermillionen Jahren.


Es klopft an der Tür.
Eine Stimme sagt: Ich bin es, Matti.
Ich öffne die Tür.
Matti steht da, er sieht mich unsicher an, er wartet ab.
Er sagt: Du hast gesagt, ich kann vorbeikommen.
Seine Stimme klingt leise, verschüchtert.
Er sieht mich eine Weile unschlüssig an. Dann tritt er langsam ein.
Er sagt: Ich dachte schon, du wärst fort.
Aus seinem Mund klingt es, als wäre ich für immer fortgegangen, als hätte ich ihn verlassen. Ich frage ihn, wie er darauf kommt.
Er sagt: Ich habe mehrere Tage hintereinander bei dir angerufen.
Ich erinnere mich an das Läuten des Telefons alle zwei Stunden. Daran, daß ich es irgendwann nicht mehr beachtete. Ich antworte ausweichend.
Ich sage: Wahrscheinlich war ich am Strand.
Matti schweigt. Er schweigt so lange, bis ich denke, daß er womöglich überlegt, ob er mir glauben kann.
Ich sage: Ich war da, ich hatte keine Lust, mit jemandem zu sprechen.
Er nickt zustimmend. Das Vorwurfsvolle verschwindet aus seinem Blick. Sein Gesicht entspannt sich. Er geht durch das große Zimmer auf die Terrasse. Er deutet verwundert auf das Sofa.
Er sagt: Warum steht das hier draußen.
Mit einem Mal bin ich distanziert.
Ich sage: Ich wollte es so.
Der Klang meiner Stimme erschreckt mich.
Matti gibt nicht zu erkennen, was er davon hält. Ob er es überhaupt bemerkt. Er zeigt hinaus aufs Meer, auf die Wellen.
Er sagt kopfschüttelnd: Das ist ziemlich dumm von dir. Das Salz wird es ruinieren.
Er streicht mit beiden Händen behutsam über den roten Stoff. Sein Blick fällt auf die Fotografie, die dort liegt, auf den geschriebenen Seiten. Er sieht dich auf der Fotografie, wie du neben mir auf dem roten Sofa sitzt. Das Sofa steht im großen Zimmer, im Hintergrund ist eine Wand zu erkennen, auf die Licht fällt. Das Licht ist weniger hell als das Licht deines Lachens. Matti betrachtet aufmerksam das Bild. Er versteht vielleicht sofort alles.
Er sagt: Du hättest eine Decke drauflegen und es drinnen lassen können.
Er setzt sich neben die geschriebenen Seiten. Er nimmt die Fotografie in beide Hände und betrachtet dich darauf.
Er sagt: Wie ist sie so?
Ich spüre einen Schmerz und jenseits des Schmerzes so etwas wie Freude.
Ich sage: In all den Jahren gab es keinen einzigen Tag, an dem ich nicht hingerissen von ihr war. Manchmal konnte ich in ihrer Nähe kaum atmen. Als wir uns das erste Mal küßten, dachte ich, daß ich nie wieder jemand anderen küssen würde.
Matti wiegt die Fotografie in seinen Händen. Ich glaube, er stellt sich vor, wie du bist. Es gelingt ihm.
Er sagt: Sie sieht aus wie jemand, der große Angst hat, wach zu sein.
Matti legt vorsichtig die Fotografie zurück.
Er sagt: Sie ist schön. Ich kenne niemanden, der so schön ist wie sie.
Was er sagt, macht mich verlegen. Ich wende meinen Blick ab, jedoch nicht für lange. Denn sofort vermisse ich es, Matti anzusehen. Dieser kleine, tapfere Kerl, mit seiner Anmut und Zartheit! Ich möchte ihn die ganze Zeit anschauen, ihn bewachen und nicht aus den Augen lassen, nicht eine Minute. Ich blicke ihn wieder an.
Ich sage: Hast du schon mal ein Mädchen geküßt.
Er schweigt eine Weile. Wahrscheinlich überlegt er, ob er antworten soll.
Schließlich sagt er: Letzten Sommer, Dorothée, meine Schwester. Sie ist zwei Jahre älter. Sie hat mich geküßt, und ein bißchen habe ich sie wieder geküßt. Und noch ein bißchen mehr.
Er lächelt kurz. Er erinnert sich, er schließt die Augen dabei.
Er sagt: Küssen und das alles, das muß man üben. Das ist wie Traurigsein oder Bärenschießen.
Er hält die Augen geschlossen und läßt die Bilder in sich aufkommen, läßt sie von irgendwoher wieder zurückfließen, bis sie ihm von sich und Dorothée erzählen.

Während ich darüber schreibe, sehe ich dies: Sie, Dorothée, sie sitzt in Bluse und Unterhose auf dem Bett. Ihre Hände malen im Halbdunkel des Zimmers kleine Kreise auf die Bettdecke. Sie sieht aus dem Fenster, als Matti das Zimmer betritt. Er setzt sich neben sie. Er beobachtet abwechselnd sie, das Spiel ihrer Finger auf der Bettdecke und durch das Fenster, in der Ferne, das glatte Meer. Er will nur bei ihr sein, in der Abenddämmerung, und ein paar Worte reden. Er sagt etwas, woraufhin sie ihn ansieht und lächelt. Etwas an ihr überrascht ihn. Er kann nicht sagen, was es ist. Es sind nicht die Tränen in ihrem Gesicht, die kennt er. Ihre Tränen existieren neben allem, sogar neben ihren Lächeln. Ihr Körper, so glaubt er, ist voller Tränen, von Gewalt durchtränkt, wie sein eigener. Die Tränen kommen von überallher, aus ihren Augen, ihrem Mund, aus ihren Nasenlöchern, aus jeder Öffnung ihres Körpers. Sie kommen aus ihrem Lächeln, das über alle Maßen verwirrend ist, geheimnisvoll, von auffallender Schönheit, unvergeßlich, weil es sich mit dem anderen, dem opaken, vollkommen undurchdringlichem in ihrem Gesicht vermischt.

Ich sehe: Dorothée wendet ihr Gesicht wieder dem Fenster zu. Ihre Hände liegen ruhig auf der Bettdecke. Ihr Blick ist auf einen bestimmten Punkt des Meeres gerichtet. Sie ist weit weg, unerreichbar. Matti ist still. Er beobachtet sie, wie sie aus dem Fenster hinaus auf das ferne Meer schaut. Er versucht nicht in ihr Schweigen einzudringen. Er läßt sie, wie er sie schlafen lassen würde. Die Dunkelheit schreitet voran, sie dringt in das Zimmer. Das Meer in der Ferne ist bald nicht mehr zu sehen. Mit einer Handbewegung schiebt Dorothée das Fenster zurück, ohne es zu schließen. Sie zündet eine Kerze an. Matti sieht Dorothée im Licht der Kerze. Er glaubt, daß ihre Silhouette schimmert. Sie fragt ihn, ob sie ihm einen Kuß geben darf… Er muß keinen Moment darüber nachdenken, dazu ist das Einverständnis zwischen ihnen zu groß. Ja, du darfst… Aber danach ich, versprochen… Und Dorothée dreht sich zu ihm. Versprochen, ja… Er schaut in ihre Augen und findet Dorothée auf einmal auf andere Weise schön. Dorothée rückt näher an ihn heran. Sie beugt sich zu ihm. Ihre Arme umfassen seinen Körper. Er spürt ihre Wärme. Es ist anders als sonst. Durch das angelehnte Fenster hört er das Rauschen des Meeres. Dorothée küßt ihn aufs Haar, auf die Augen, auf den Mund. Er hat Tränen in den Augen, als er ihr Küssen erwidert, als ihre Zungenspitzen sich berühren, außerhalb ihrer Münder. Sein Herz klopft. Er zittert, als sie ihre Bluse öffnet und seine Hände auf ihre Mädchenbrüste legt. Instinktiv streichelt er ihre Brüste, er drückt sie, dann schmiegt er sich in Dorothées Arme. Er atmet den Duft der Haut an ihrem Hals, den Duft ihres Haares, bis ihm schwindlig davon wird. Er sieht seine Schwester im Licht der Kerze, ihr Gesicht, ihren Körper, zum ersten Mal seit Jahren nicht voller Tränen. Danach legt er seinen Kopf in ihren Schoß. Er liegt still dort und beobachtet sie. Er spürt die Wärme ihres Schoßes. Die Wirkung, die von dort ausgeht, geht über seine Kräfte. Er kann es sich nicht erklären, dieses seltsame Prickeln in seinem Körper. Er möchte so liegenbleiben, am liebsten für immer, und Dorothée betrachten, sie so lange anschauen, wie es geht, so lange es sie gibt. Obwohl er sich gegen den Schlaf wehrt, eingehüllt in der Wärme ihres Körpers wie in eine Decke, schläft er ein. Dorothée streicht über sein Haar. Sie bleibt bei seinem schlafenden Körper und hält ihn, betrachtet die Feinheit seiner Glieder, ihre unbeschreibliche Zerbrechlichkeit, die unglaubliche Zartheit seiner Haut. Sie beobachtet ihn und seinen Atem, wie seine Brust sich hebt und senkt. Sie beobachtet sich selbst dabei, wie sie ihn beobachtet. Sie spricht zu ihm, die ganze Zeit. Sie flüstert, sagt ihm, daß sein Herz zu ihrem geworden sei und ihr Herz zu seinem, jeder die Hälfte des anderen.

In Mattis Gesicht erkenne ich, daß er sich nach diesem vergangenen Sommer zurücksehnt. Jener Sommer, in denen die Nächte so warm waren wie die Tage, und er seine Schwester sah, ohne sie im mindesten wiederzuerkennen. Wie er bemerkte, daß ihre Haut, ihr Haar, ihre Gesten und Blicke anders waren als sonst. Seine Finger brannten von der Berührung ihrer Brüste, deren Existenz ihn in unbeschreiblichem Maße verzückte. Dorothées Lippen waren lange genug auf seinen gewesen, um jeden Morgen, wenn er vorm Aufstehen seinen Kopf in den Armen verbarg, daran zu denken. Die ganze Zeit hatte er ihren Geruch in der Nase. Sie roch wie manche Blumen in den Hügeln, deren Schatten er oft beobachtete, bevor die Sonne verschwand.

Matti öffnet die Augen. Nach mehreren Minuten sagt er: Danach hat sie ihn mit einem Feuer getötet.
Er spricht langsam. Als hätte er Angst, beim Reden zu stürzen. Er sagt nicht, um wen es sich handelt, wen seine Schwester getötet hat. Aber es ist offensichtlich ein Mann gewesen.
Ohne jede Vorwarnung sagt er: Nachdem er bei mir war.
Auch wenn er sich weiter ausschweigt über diesen Mann, der bei ihm war, auch über das, was geschehen ist, sehe ich ihm an, daß er nichts davon vergessen hat. Die Begegnung mit diesem Mann ist nach wie vor in ihm vorhanden. Ich sehe, daß sie unermeßlich ist. Sie ist wie der Sand am Strand, wie die kommende Unendlichkeit. Die Begegnung mit diesem Mann umhüllt seinen Körper mit einer Art Schattenkörper. In diesem Moment ist sein Gesicht von der Begegnung mit ihm gezeichnet, als würde sie gerade stattfinden. Ich sehe etwas, das nie genug Erinnerung werden kann, um Erinnerung zu werden. Matti muß jedes Wort in sich suchen. Seine Verzweiflung, es nicht zu schaffen, kommt wie ein Ersticken in ihm auf. Doch er schafft es.
Er sagt: So wie er bei ihr war.
Er würgt. Er wartet. Er legt beide Hände vor den Mund. Er würgt abermals. Er wartet weiter. Es vergeht Zeit. Etwas in ihm vibriert und macht, daß er zittert. Er bemerkt es. Sofort versucht er, es zu verbergen. Es mißlingt ihm. Er bemerkt, daß es ihm mißlingt. Er schämt sich deswegen. Er hört auf zu würgen. Er nimmt die Hände vom Mund.
Er sagt: Jede Nacht, jahrelang.
Matti zeigt mir seinen Schmerz darüber. Dieser Schmerz ist stark und düster. Die Art, wie er ihn mir zeigt, macht, daß ich ihn erkenne, daß er mir ganz nah kommt. Es ist so, daß sein ganzer Körper den Schmerz ausdrückt. Seine Bewegungen und Blicke sind wie ein Schneesturm, der aus allen vier Himmelsrichtungen gleichzeitig kommt. So ein Schmerz könnte den Himmel zum Wanken bringen, solche Spuren hinterläßt er. Matti sieht hinaus aufs Meer. Er spricht jetzt schnell.
Er sagt zum Meer: In der Nacht hat Dorothée mich geweckt und gesagt: Matti, wir machen einen Ausflug. Ich habe gesagt: Es ist noch dunkel. Sie hat gelächelt und gesagt: Dann macht es mehr Spaß. Sie hat mir beim Anziehen geholfen, und wir sind hinuntergegangen. Ich habe es sofort gerochen. Ich habe gesagt: Was ist los, es riecht nach Benzin. Sie hat nur weiter gelächelt und gesagt: Es muß sein, damit es aufhört. Ich wußte genau, was sie gemeint hat. Was aufhören mußte, daß war mir klar.
Matti schweigt, minutenlang, mit Blick auf den Ozean. Ich folge seinem Blick. Wir sehen gemeinsam den Ozean. Wir schweigen miteinander. Sein Schmerz heult die ganze Zeit. Sein Schmerz ist wie der Wind in manchen Nächten, er will beachtet werden.
Dann spricht Matti wieder zum Meer.
Er sagt: Als wir auf der Straße waren, hat sie gesagt: Warte hier auf mich. Ich habe ihr nachgeschaut, wie sie zum Haus zurückging. An der Eingangstür hat sie sich noch einmal zu mir umgedreht. Ihr Gesicht war ernst und schön, aber nicht so wie sonst. Da habe ich gewußt, daß das mit dem Ausflug gelogen war und daß etwas Schlimmes passieren wird.
Nachdem erneut Zeit vergangen ist, wendet Matti seinen Blick vom Meer ab. Er sieht mich direkt an.
Er sagt: Von der Straße aus habe ich ihn gesehen. Er wollte oben aus dem Fenster klettern. Ich glaube, Dorothée hatte die Schlafzimmertür abgeschlossen. Die Flammen waren überall. Dann ist im Haus etwas explodiert. An der Stelle, wo eben noch das Fenster war, waren die Flammen. Die Flammen waren so hoch wie das Haus und noch höher. Er ist ganz darin verschwunden.
Ich betrachte Matti, der aufs Meer blickt. Er wirkt erschöpft, wie zerschlagen. Er ist dreizehn Jahre alt. Ein dreizehn Jahre alter Junge, der etwas weiß, was er nicht wissen sollte.
Er sagt: Dorothée stand wieder neben mir. Sie legte ihren Arm um mich. Wir betrachteten das Feuer. Sie sagte: Jetzt ist es vorbei. Ich glaubte ihr. Ich war froh darüber. Ich merkte, wie müde sie war und blaß. Ich glaube, sie hatte Angst.
Er schweigt abrupt, er sieht nirgendwohin. Er wirkt wie ein Kind, das sich wünscht, daß etwas bleiben soll, daß nicht alles verlorengeht. Ich sehe, was ihm und Dorothée angetan wurde, ich erkenne es wieder. Ich kenne es so sehr, daß ich es in meinem ganzen Körper spüre. Von dem Moment an, als Matti mich ansieht, ist es so, als würde ich mir selbst in die Augen blicken. Ich sehe den Schrei hinter seinen Worten, der von allen Seiten in das Gesagte hineinragt, es aushöhlt und trotz der Worte nur den Schrei übrigläßt. Ich sehe nun auch, wer der Mann war, der in den Flammen verschwand, daß Matti von seinem Vater spricht. Der Mann am Fenster, jener Mann, der in dem Haus verbrannte, das war sein Vater. Und sie, Dorothée, sie hat ihn getötet.
Matti sagt: Dann sind die Feuerwehrautos gekommen. Und die Polizei kam. Und überall waren unsere Nachbarn. Und dann hat eine Polizistin Dorothée mitgenommen. Und danach kam meine Mutter, die eine Freundin besucht hatte. Sie hat geweint. Die Luft zitterte davon. Und ich schaute nach oben. Und da war der Himmel, wie eine große dunkle Wiese, auf der die Sterne blühten. Und für jede Träne, die meine Mutter weinte, kam ein neuer Stern. Und plötzlich habe ich sie wieder liebgehabt.
Die Art, wie Matti erzählt, macht, daß das Gesagte in meinem Körper ankommt, zuerst wie ein plötzlicher Lärm, der gleich darauf verschwindet, danach ununterbrochen, wie der Wind, der in Sturmnächten von draußen gegen die Wände und Fensterläden schlägt. Ich sehe Matti an. Ich rufe in mir seinen Namen, als wäre er nie beschmutzt worden. Ich rufe Matti wie jemanden, der zurückgekehrt ist, wie einen Heiligen, dessen feingliedriger Körper von einem Riesen zermalmt wurde und der wiederauferstanden ist, nachdem das Blut seiner zahllosen Wunden getrocknet war. Es geschieht, während ich seinen Namen rufe, daß sich ganz tief in meinem Herzen diese schreckliche Wunde abermals öffnet. Obwohl ich sie in- und auswendig kenne, habe ich das Gefühl, als käme ich zum ersten Mal dort an. Ich höre, wie ich meinen Namen flüstere, jenen schrecklichen Namen, mit dem man mich als Kind gerufen hat und seither nie wieder. Einen Moment lang fühlt sich alles kalt an, kalt wie Stein. Es ist, als ob die Zeit nicht mehr fließt, als würde sich ein alter Weg in mir ins Grenzenlose öffnen und alles andere verschließen. Mein Bauch wird hart. Ich atme schneller. Ich fühle mich, als wäre ich gefroren, als ginge das Leben ohne mich weiter, außerhalb von mir. Dann höre ich in mir deine Stimme. Du sagst Worte, die du nie zu mir gesagt hast, als du noch da warst. Es ist vorbei. Du weißt, du hast es gut gemacht. Du hast überlebt. Du warst ein außergewöhnlicher Junge, der unglaublich viel Mut aufgebraucht hat, um am Leben zu bleiben. Du bist ein wunderbarer Mann. Es ist unfaßbar, wieviel du geleistet hat. Der Klang deiner Stimme in mir, das, was ich dich in mir sagen lasse, um es einmal von dir zu hören, ermöglichen mir einen neuen Blick auf mich. Ich sehe, daß ich nicht mehr auf dieselbe Weise in mir stehe wie damals. Es ist noch ungewohnt für mich, mich so zu sehen. Es ist gerade vierzig Jahre her, was wenig Zeit ist für einen Jungen, der die Gewalt überlebt hat, leben zu lernen. Es gibt Tage, da kommt es mir noch vor, als wäre es gestern oder vorgestern gewesen. Als würde ich gerade erst anfangen zu leben. Im Moment lerne ich, was es heißt, ohne dich zu sein. Ich lerne auch, was es bedeutet, mit einem Jungen zu sprechen, der so alt ist, wie ich es einmal war, und mit dem ich den gleichen Schmerz teile. Ein Wissen vom Schmerz, das nicht nur Erinnerung ist.
Matti schaut mich erneut an, jetzt mit großem Ernst. Zeit vergeht.
Er sagt: Als Dorothée in den Polizeiwagen gestiegen ist, hat sie alle, die dort waren, angeschaut. Sie hat laut gesagt: Ich war zehn, da kam er das erste Mal in mein Zimmer. Habt ihr das gewußt? Danach hat sich die Welt für immer verändert.
Noch bevor Matti selbst weiß, daß das mit der veränderten Welt auch für ihn gilt, weiß es sein Körper. Denn sein Körper ist vom ersten Moment an im Tiefsten gezeichnet durch das, wofür man ihn benutzte. Und er bleibt es, gezwungen, auf immer diese Wunde mit sich zu tragen. Dort, in seinem Körper, erzeugt das Geschehen ein unendliches Echo, von dem die Sprache nur ein Widerschein ist.
Matti würgt. Er atmet laut ein und aus. Er wartet, bis er sich wieder beruhigt.
Er sagt: Eine Nachbarin hat ihr zugerufen: Dein Vater war ein guter Mann. Du hast ihn umgebracht, du kleines Biest.
Matti schüttelt den Kopf.
Er sagt: Dorothée hat zurückgerufen: Du hast nicht auf Matti aufgepaßt, keiner von euch.
Matti sieht auf seine Fußspitzen.
Er sagt: Dorothée hat noch gesagt, daß man Gott manchmal helfen muß.
Matti denkt angestrengt nach.
Er sagt: Viele, die dort standen, haben den Kopf geschüttelt. Keiner konnte verstehen, daß sie das getan hat.
Ich kann ihm ansehen, wie erstaunt er darüber ist.
Er sagt: Dorothée hat doch nur gemacht, daß es aufhört. Sie hat verhindert, daß unsere Mutter zu ihm zurückgehen konnte.
Der Ozean bewegt sich nicht. Da ist kein Wind, der aufkommt. Obwohl alles still ist, fühle ich einen Luftzug, als hätte jemand im Unsichtbaren eine Tür geöffnet. Matti schweigt so lange, bis ich diese unfaßliche Leere spüre. Eine Leere, die womöglich in ihm bleiben wird, bis er eine Form findet für seine Geschichte und es ihm gelingt, sie für ihn und andere wiedererkennbar zu machen. Bis seine Geschichte von allen verstanden wird.
Irgendwann sagt er: Meine Mutter hat Dorothée und mir immer erzählt, daß sie uns liebt. Auch mein Vater hat es gesagt. Ich habe gehört, wie er es sagte, als er bei Dorothée war und ihr den Mund zuhielt, damit sie nicht schreit. Er hat es auch zu mir gesagt, wenn er in mir drin war und seine Worte anders wehtaten als sonst.
Matti schließt die Augen.
Mit geschlossenen Augen sagt er: Weißt du, sie lieben dich nie. Sie lieben immer nur sich selbst. Sie tun dir weh, wie nicht einmal ein wildes Tier das kann.
Ich setze mich neben ihn aufs Sofa. Ich schaue ihn an. Ich spüre seinen und meinen Schmerz, dem ich in diesem Moment ohne Angst begegnen kann. Matti öffnet die Augen wieder. Er sieht mich an. Sein Gesicht ist vollkommen reglos, als er von seinem Vater spricht.
Er sagt: Er warf Dinge durchs Zimmer, Teller mit Essen, wenn es ihm nicht schmeckte. Mama mußte sich auf den Boden knien und…
Matti unterbricht sich. Er kann es nicht aussprechen. Mit einigen Handbewegungen deutet er an, daß seine Mutter mit den Fingern vom Boden gegessen hat. Was immer er noch über seine Mutter denkt oder für sie empfindet, ich spüre sein großes Mitgefühl für diese niederhockende Frau, die vom Boden ißt, was ihr Mann ihr hingeworfen hat. Mit leiser Stimme spricht er weiter.
Er sagt: Oft hat er tagelang kein Wort mit uns geredet. Nur zu Dorothée war er immer freundlich. Wenn meine Mutter ihn angesprochen hat, hat er sie geschlagen. Trotzdem war sie ständig um ihn herum und hat versucht, es ihm recht zu machen.
Mattis Gesicht verzieht sich vor Anstrengung. Seine Lippen zittern.
Er sagt: Obwohl sie da war, hat sie uns nicht beschützt. Sie hat ihn beschützt. Sie war für ihn. Deshalb konnte sie nicht für uns sein.
Er zögert.
Dann sagt er: Sie hat uns im Stich gelassen, und sie tut es wieder. Sie ist oft bei ihrem neuen Freund. Ich bin die meiste Zeit allein.
Einen Augenblick steht er völlig mittellos vor dem, was er sagt, als ob er seine Worte über die ungenügende Mutterliebe in sich überleben muß. Ohne jeden Zweifel schämt er sich deswegen. Ich spüre seine Bangigkeit, weil er anzweifelt, was er glaubt nicht anzweifeln zu dürfen.
Schließlich sagt er: Aber vielleicht kann sie uns ja irgendwann wieder liebhaben, jetzt, wo er tot ist.
Matti schaut mich fragend an. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich weiß, daß es nicht leicht ist, in dieser Welt jemanden zu finden, den man lieben kann, dem man sich nicht nur aus Schwäche und Bedürftigkeit öffnet. Auch, daß man niemals damit aufhört, seine Eltern zu lieben, ganz egal, womit sie einen überwältigt haben. Die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern zieht nicht einfach weiter, nur weil sie nicht erwünscht ist oder nicht beantwortet, weil sie verraten oder ausgenutzt wird.
Obwohl dies meistens so ist, habe ich vor langer Zeit damit aufgehört. Ich habe diese bestialische, erbarmungslose und Abscheu erweckende Liebe meines Vaters und meiner Mutter losgelassen, nachdem ich vierzig Jahre gebraucht habe, um sie anzunehmen. Es war eine nachhaltige Liebe, die in die Zukunft hineinragte wie eine eigene Welt. Als Kind und noch lange danach gab es keinen einzigen Tag, an dem ich mich geborgen gefühlt habe oder mit irgendeinem Menschen vertraut. Die Liebe meiner Eltern konnte mich nicht töten, aber sie hat das Kind, das ich war, entzweigerissen und heimatlos gemacht in der Welt. Sie war wie die Qual mancher Nächte, in denen ich mich ausgeliefert fühlte und vor Angst zitterte, weil ich wußte, er würde gleich in mein Zimmer kommen, oder weil er gerade bei mir gewesen war, mit seiner ganzen Liebe. An manchen Tagen war es so, als ob ich in einen Gewehrlauf blickte. Ich stand mit dem Rücken an der Hinrichtungsmauer, vor der ich im nächsten Moment liegen würde. Während ich schon spürte, wie mein Blut in der Erde versickerte, dachte ich daran, wie schön es wäre, jene, von denen ich gleich ermordet würde, zurückzurufen, um ihnen unter den weißen Wolken, die den Morgenhimmel bedeckten, die Hände reichen zu können.
Matti sieht mich nicht mehr an. Vielleicht versteht er, daß ich keine Antworten für ihn habe. Er betrachtet intensiv die Wellen. Er wartet lange, als ob er in sich erst wahrmachen muß, daß er es ist, der spricht, daß es sich um seine Stimme handelt.
Er sagt: Manchmal tragen die Menschen Masken, und oft gibt es gar kein Gesicht hinter der Maske. Bei Dorothée ist das anders. Sie hat mich lieb, sie trägt keine Maske unter ihrer Haut. Sie ist nicht wie meine Mutter oder wie mein Vater war.
Er deutet auf dein Bild und streicht mit dem Finger zärtlich über dein Gesicht.
Er sagt: Sie ist wie Dorothée.
Ohne jede Vorwarnung stößt Matti einen langgezogenen Schrei aus. Er preßt die Hand vor den Mund, aber das Schreien in ihm ist von solcher Kraft, daß es ihm die Hand wegreißt. Er springt auf und humpelt die Terrassentreppe hinunter zum Strand. Er läuft am Strand entlang, in den Ozean hinein. Ich laufe hinter ihm her. Trotz seiner Behinderung ist er schnell. Er ist schon im Wasser, als ich ihn packe. Ich ziehe ihn heraus. Er weint und schreit. Er übergibt sich, hustet. Er schlägt mit beiden Fäusten nach mir. Seine Fäuste treffen mein Gesicht. Ich spüre, wie meine Nase anfängt zu bluten. Ich schmecke das Blut auf meinen Lippen, während ich Mattis Körper fest umschlossen halte. Er schreit jetzt ohne Unterbrechung. Ungeheure Wellen von Schmerz rasen durch seinen Organismus. Sein ganzer Körper bebt von seinem Schreien. Weil ich ihn so fest halte, fühlt es sich an, als würde ich ständig Stromschläge verpaßt bekommen. Mein ganzer Körper ist angespannt. Ich atme ein und wieder aus. Ich versuche, mit meinem Atmen einen Raum zu schaffen für diese Kraft. Gedanken tauchen auf, Gefühle, Erinnerungen, die einen Moment bleiben, vorübergehen und zerfallen. Ich atme, bis mein Bauch weich wird, bis ich mich entspanne. Bis mein Atmen ruhig ist, ruhig und leicht, und alles, was in Matti ist, sich in mir entfalten kann. Bis Matti spürt, wie dies alles sich verwandelt, und er sich dem überläßt. Bis er atmet wie ich, ruhig und leicht und ohne Angst zu haben.
Es vergeht Zeit, in der nichts geschieht, außer daß wir atmen und aufeinander hören. Gefühle und Gedanken kommen auf, gehen ineinander über und enden irgendwo in uns oder in der unermeßlichen Weite über dem Meer. In diesem Augenblick haben wir uns von allem gelöst, was uns trennt. Wir haben einen gemeinsamen Körper, mit dem wir die ganze Welt durchmessen. Da ist niemand, der die Liebe mehr verdient als wir.
Nachdem abermals Zeit vergangen ist, sagt Matti: Du bist nicht wie dieser Psychologe, zu dem ich einmal die Woche gehe. Im Gegensatz zu ihm, weißt du, wie das ist, wie sich das anfühlt.
Er wartet. Er hält sich an mir fest.
Er sagt: An manchen Tagen ist das wie der Krieg, den du in den Nachrichten siehst.
Er wischt mir mit dem Ärmel seines Pullovers das Blut und sein Erbrochenes aus dem Gesicht. Dann legt er vorsichtig seine Wange an meine. Nachdem erneut Zeit vergangen ist, spricht er dort, am Meer langsam und leise in mein Ohr. Er wählt seine Worte mit Bedacht.
Er sagt: Als ich klein war, habe ich ihn zum ersten Mal mit Dorothée gesehen. Sie saß auf seinem Schoß und er hatte die Hände unter ihrem Kleid. Ich wußte nicht, was nicht stimmte, ob es sein Blick war, oder die Hände unter ihrem Kleid, oder daß ihr Höschen auf dem Boden lag. Vielleicht war es, wie Dorothée mich ansah. Als wäre sie zur gleichen Zeit da und in der unterirdischen Stadt, von der sie mir erzählt hat. Ich glaube, daß er mich da zum ersten Mal richtig wahrgenommen hat. Er hat mich angebrüllt, ich solle machen, daß ich rauskomme.
Matti holt einige Male tief Luft.
Er sagt: Es war immer Dorothée, die er gewollt hat. Er war dauernd um sie herum. Ich habe ihm gesagt, daß er aufhören soll, mit Dorothée diese Sachen zu machen. Das war, als ich verstanden habe, was es war, was nicht stimmte. Ab da war ich nicht mehr unsichtbar für ihn. Er wollte mir wehtun.
Matti wartet mehrere Minuten.
Er sagt: Eines Morgens waren wir allein, da hat er mich zum ersten Mal geschlagen. Er hat seinen Gürtel ausgezogen und mich damit durchgeprügelt. Ich bin zur Tür gekrochen. Als ich fast durch war, hat er sie zugeschlagen. Er hat sie immer wieder zugeschlagen, obwohl mein Bein noch dazwischen lag. Später hat er allen erzählt, daß es ein Unfall war. Ich hatte zuviel Angst, um zu sagen, was wirklich passiert war.
Matti zögert. Erneut wartet er mehrere Minuten.
Er sagt: An einem Sonntag hat er mich in seine Hütte mitgenommen. Er hat mich auf den Lattenrost von dem alten Bett im Schuppen gefesselt. Er hat seine Hose aufgemacht und mein Gesicht zwischen seine Beine gepreßt. Dann hat er mir sein Ding in den Mund gesteckt. Ich mußte ihm sagen, daß er mein Vater ist, daß ich ihn liebe und Respekt vor ihm habe.
Matti wartet, lange. Sehr lange.
Er sagt: Erst im Gericht habe ich erfahren, daß Dorothée uns an diesem Tag gefolgt ist. Sie hat alles gesehen. Sie hat zu dem Richter gesagt: Wenn mein Vater bei mir war, bin ich immer an den Rand von mir gegangen und habe mich ganz still verhalten. Aber als er dann zu Matti ging, da ging es nicht mehr, da konnte ich nicht mehr ruhig sein. Ich mußte tun, was richtig war.
Matti seufzt.
Er sagt: Sie kam zuerst für ein paar Monate ins Gefängnis und danach in eine Klinik, wo sie jetzt noch ist. Ich besuche sie da manchmal. Sie spricht nicht mehr, nur noch ihr Körper ist da. Ich glaube, sie ist längst in der unterirdischen Stadt und hält sich dort versteckt.
Matti schweigt mehrere Stunden. Er spielt mit einem Kieselstein. Er schaut übers Meer, wo sich seine Geschichte ausdehnt bis an das entfernteste Ufer, um dort von jemandem gefunden zu werden, in ein paar Tagen oder in Jahrhunderten. Das Meer ist heller als sonst, der Himmel größer, groß bis zum Erschrecken. In der Nähe lachen Kinder, Familien stehen am Strand, man beobachtet uns. Ein Kind weint, ein anderes tröstet es. Irgendwo wird gesungen. Man kann es deutlich hören: Frère Jacques, Frère Jacques/ Dormez-vous, dormez-vous?:/ Sonnez les matines, sonnez les matines,:/Ding ding dong, ding ding dong. Kinderlachen dringt aus den Zelten. Dann leert sich der Strand. Die Familien finden sich zusammen, um zu gehen. Irgendwann zieht sich das Meer zurück. Die Jungen kommen mit Decken, die sie ausbreiten, sie rauchen und trinken Wein. Ihr Radio spielt etwas von Suzanne Vega. They only hit until you cry/ And after that you don't ask why…Matti und ich sehen uns an. Wir lauschen Suzanne Vega, die von einem Luka singt: Yes I think I'm okay/ I walked into the door again/ Well, if you ask that's what I'll say/ And it's not your business anyway/ I guess I'd like to be alone/ With nothing broken, nothing thrown/ Just don't ask me how I am… Beinahe zur gleichen Zeit beginnen wir zu weinen. Wir umarmen und halten uns, ein Junge mit sehr blauen Augen und schwarzem Haar und ein anderer mit ebenfalls blauen Augen und blondem Haar, der heute ein Mann ist. Dieser seltsame Mann, der zu keiner Zeit aufhört zu wissen, was ein Kind in der Dichte seines Körpers und in den geheimen Regionen seiner Seele empfindet, nachdem man sich an ihm vergangen hat.
Irgendwann löse ich mich aus der Umarmung. Ich sehe Matti an. Sein Gesicht ist entspannt. Ich nehme es in beide Hände und streiche mit den Fingerspitzen über seine Wangen und Augenbrauen. Ich frage ihn, ob er Lust auf ein Sandwich hat. Er überläßt sich meiner Berührung. Er greift nach meinen Fingern, als könnten sie ihn über alles hinwegretten.
Er sagt: Sandwich wäre prima.
Wir gehen zurück. Wir laufen schweigend nebeneinander. Als wir die Wohnung betreten, läßt er die Tür weit offen. Ich gehe zurück und schließe sie. Er öffnet sie erneut.
Er sagt: Wir müssen jetzt die Zukunft hereinlassen.
Dann sitzen wir in der Küche. Wir trinken heiße Schokolade und essen Sandwichs mit Erdnußbutter, Marmelade und Käse. Er schneidet sich ein Stück von der Salami ab und schiebt es sich in den Mund. Während er kaut, betrachtet er die offene Wohnungstür. Plötzlich steht er wortlos auf und schließt sie. Er kommt wieder zurück, setzt sich.
Er sagt: Das war genug Zukunft für heute.
Später sitzen wir auf der Terrasse, auf dem Sofa. Matti nimmt sich eine Zigarette und zündet sie umständlich an. Er raucht wie jemand, der dies zum ersten Mal tut. Er wedelt mit den Händen den Rauch vor seinem Gesicht weg.
Er sagt: Gibt es jemanden, der dich braucht.
Seine Frage überrascht mich. Ich weiß nicht gleich, was ich antworten soll. Ich überlege.
Ich sage: Nein, nicht mehr.
Er sieht mich an und wartet einen Moment, er deutet auf die Fotografie von dir.
Er sagt: Auch sie nicht.
Ich schweige lange. Ich denke über dich nach und schüttele den Kopf. Matti verschluckt sich am Rauch. Er hustet und drückt die halbgerauchte Zigarette aus.
Er sagt: Wie kann man bloß rauchen.
Und gleich darauf: Ich brauche dich jetzt.
Ich blicke ihn an.
Ich sage: Um die Zukunft hereinzulassen.
Er legt seine Hand auf meine. Er lächelt.

Einmal, gegen Ende des Sommers, sagt Matti: Der Psychologe, zu dem ich gehe, hat letztes Mal einen Stuhl hingestellt und gesagt, ich soll mir vorstellen, daß da mein Vater drinsitzt. Und daß, wenn ich ihm noch was sagen wollte, es jetzt eine gute Gelegenheit wäre.
Ich sage: Was hast du zu deinem Vater gesagt?
Matti sagt: Zu ihm nichts. Ich habe was zu dem Psychologen gesagt. Ich habe gesagt, daß ich vielleicht was sagen würde, wenn er sich in den Stuhl setzt.
Matti grinst.
Er sagt: Aber das hat er sich nicht getraut.
Ich sage: Würdest du denn deinem Vater gerne etwas sagen?
Matti zuckt mit den Schultern. Ich trete vom Fenster zurück und gehe in die Küche und hole zwei Stühle. Mattis Augen werden groß. Während ich die Stühle in einigem Abstand voneinander stelle, überlege ich, ob ich mich in den einen Stuhl hineinsetzen soll. Ich entscheide mich dagegen. Ich stelle mich dahinter.
Ich sage: Ich würde gerne hier stehenbleiben, wenn es dir recht ist.
Matti beobachtet mich hinter dem Stuhl.
Er sagt: Das kann ich verstehen.
Matti setzt sich langsam auf den Stuhl mir gegenüber. Er sieht mich hinter dem anderen Stuhl stehen. Sein Körper ist angespannt. Er preßt seine Lippen fest aufeinander. Er blickt unschlüssig neben sich. In diesem Moment bemerke ich, was nicht stimmt.
Ich sage: Soll ich mich neben dich stellen?
Matti öffnet seinen Mund. Er atmet hörbar aus.
Er sagt: Das wäre schon besser, glaube ich.
Ich gehe zu ihm hinüber. Ich stelle mich neben ihn. Er nimmt meine Hand und legt sie auf seine Schulter. Sein Körper lockert sich.
Ich sage: Siehst du deinen Vater?
Matti nickt kurz.
Er sagt: Er hat das karierte Hemd an und die schwarze Cordhose.
Matti wartet lange. Als er weiterspricht, macht er lange Pausen.
Er sagt: Ich habe gerade richtig Angst. Dich da so anzusehen, Papa. Weißt du, ich bin immer wach und habe Angst. Und es macht mich so wütend, dich zu lieben. Und dann tut es mir leid, weil ich so wütend bin. Und ich möchte bei dir sein und deine Hand halten, so wie damals, an meinem Geburtstag. Es war noch früh, du hast mich geweckt. Wo ist mein Geschenk, habe ich dich gefragt. Du hast gesagt: Warte ab. Und dann sind wir in der Küche gegangen. Und du hast die Kühlschranktür aufgemacht. Und da sah ich das Lebkuchenhäuschen. Und an dem einen Fenster stand ein Schneemann. Das Dach war voll mit bunten Schokolinsen. Und im Schornstein steckte ein Wattebausch. Und vor dem Haus stand eine Bank, auf der ein Junge und ein Mädchen saßen. Das Mädchen hielt eine Katze im Arm. Neben den Kindern stand ein Schlitten. Und hinter dem Zaun gab es Bäume. Das war ein richtiger kleiner Wald. Wo ist die Hexe, habe ich dich gefragt. Du hast mehrere Male mit dem Kopf genickt und gesagt: Ja, ja, die Hexe, die verdammte Hexe. Und dann hast du gesagt: Die muß wohl weggeflogen sein, als der Kühlschrank offen stand. Und dann habe ich deine Hand genommen, weil ich gewußt habe, daß du die Hexe vergessen hast. Und ich hatte keine Angst vor dir. Ich wüßte wirklich gerne, warum du Dorothée so wehgetan hast. Warum du mit mir so schlimme Dinge gemacht hast, das wüßte ich gerne. Warum du so böse zu Mama warst. Und warum du meinen Fuß kaputtgemacht hast. Doch jetzt bist du tot, und ich kann dich nichts mehr fragen. Ich kann dir nicht mal richtig böse sein, weil du auch anders warst. Aber nicht so oft. Ich finde, Dorothée hat alles gut gemacht. Sie hat die Dinge wieder in Ordnung gebracht, und jetzt ist wieder alles richtig.
Matti bleibt eine Weile still. Dann sieht er mich an. Er wirkt vollkommen konzentriert. Er steht auf und stellt sich auf die andere Seite des Stuhls. Er sieht mich unverwandt an.
Er sagt: Und jetzt du.
Er kommt auf meine Seite und nimmt meine Hand. Er läßt mir keine Wahl. Er läßt meine Hand nicht los, als ich mich setze. Ich betrachte den Stuhl gegenüber, bis ich meinen Vater sehe. Ich denke an all die Dinge, die ich seinetwegen gefühlt und gesagt habe. An die Bücher, die ich wegen ihm geschrieben habe, um ihn in mir zu überleben und um selbst am Leben zu bleiben. Ich weiß heute nicht einmal, wo er lebt, ob er überhaupt noch lebt, außer in mir. Ich spüre den Schmerz, den er in mir hinterlassen hat, ich spüre die Trauer. Ich atme die Trauer und den Schmerz in mich hinein, ich lasse beides in mir zu. Da ist viel Verlust und Sehnsucht, soviel Abscheu, Furcht und Schrecken und all diese verlorene Liebe. Das alles stemmt sich mir wie ein Fels entgegen und erdrückt mich, es umklammert mein Herz. Ich spüre den Druck auf meiner Brust. Ich warte. Dann atme ich den Druck ein, die Ungeborgenheit, die Sehnsucht, die Abscheu, die Furcht, den Verlust, den Schrecken, die Enttäuschung. Und dann atme ich aus, ich atme all das aus, das ganze Leid. Und dann atme ich wieder ein. Mit jedem Atemzug atme ich das Neue ein. Ich atme den Mann ein, der ich heute bin, seine Schönheit, seine Zärtlichkeit, seine Intelligenz. Ich sehe diesen Mann. Ich sehe, daß er liebt, daß er von dir geliebt wurde. Daß er keine Angst mehr davor hat, zu lieben und geliebt zu werden. Ich kann mich spüren, wie schön ich bin, wie zärtlich, wie intelligent, wie liebenswert. Ich atme das Neue ein, ich atme das Alte aus. Und während ich ausatme, sehe ich mich, wie ich dorthin gehe, wo das Neue ist. Es ist schön dort, geräumig. Hier haben seine Worte und Taten keinen Platz mehr. Hier fühle ich mich nicht mehr damit verhaftet.
Ich sage: Ich sehe dich, Vater. Ich sehe in deine Augen, sehe deinen Schmerz, deinen Zorn, deine erkaltete Liebe. Niemand hat so einen Schmerz verdient, soviel Kälte. Nicht einmal du.
Ich spüre, wie fest Matti meine Hand hält. Ich kann es jetzt endlich sagen, weil dieser wunderbare Junge neben mir steht und meine Hand hält.
Ich sage: Ich bin dankbar für alles, was ich von dir bekommen habe. Ich konnte erwachsen werden und das Beste in mir zum Vorschein bringen.
Matti nickt zufrieden.
Er sagt: Wow, das war gut.
Er sieht mich intensiv an. Ich fühle, wie sich etwas in mir löst. Es ist klein, undramatisch, wie der erste Schritt, den ich auf ein noch unbekanntes Ziel zugehe. Matti läßt meine Hand los.
Er sagt: Aber es reicht nicht, es nur zu sagen. Wir müssen es noch tun.
Er legt die Hand auf seine Brust, in Höhe der Herzens.
Er sagt: Hier in uns drin, jeden Tag.

Ich bin im großen Zimmer. Ich blicke hinaus. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Auf CNN erzählt ein palästinensischer Junge, wie ein israelischer Soldat seiner kleinen Schwester in den Kopf geschossen hat. Fünf Jahre ist die kleine Schwester alt gewesen. Das Kind erzählt, was mit dem Kopf der kleinen Schwester geschehen ist. Der Kopf sei zerplatzt, und dann sei von irgendwoher, aus einem der oberen Fenster, ein Schuß gefallen und habe den Soldaten in die Brust getroffen, er sei auf der Stelle tot gewesen. Ich nehme die Fernbedienung und schalte den Fernseher aus. Heute ist es so, daß ich mich erschöpft fühle von den letzten vierzig Jahren, die ich in mir mit diesem Jungen verbracht habe, der ich einmal war. Ich bin erschöpft davon, von dir getrennt zu sein, erschöpft von deinem Schweigen, das zu einem Teil meines Lebens geworden ist, wie die Nachrichten von ermordeten Kindern und Soldaten auf CNN. Vor den Fenstern sind das Meer und der Himmel, sie sind ruhig und alt, sie sind fünf oder siebenhundert Millionen Jahre alt. Sie wirken vollkommen. Sie sind wie mein Herz, das immer bleibt und niemals haßt, wie groß die Wunde auch ist. Ich schreibe, daß es nun bald aufhören wird. Es wird aufhören, daß der eine Junge sich mit dem Gesicht nach unten in den Sand legt und stundenlang so dort liegenbleibt. Auch das mit dem anderen Jungen, der tief in sich noch immer in die Parks geht, um verborgen zu bleiben oder um gefunden zu werden und der mit seinen Händen Löcher in den Boden gräbt und in der Erde Dinge versteckt, damit sie sich entwickeln können. Das wird nun aufhören. Jetzt, wo diese beiden Jungen sich gefunden haben, kann es aufhören. Und wenn das aufhören kann, wird auch das mit den ermordeten Kindern und den Soldaten aufhören können. Denn wenn der Soldat einen Menschen in diesem Kind sieht, wird er es nicht töten. Und alle werden einen Menschen in dem Soldaten sehen. Und wenn alle einen Menschen in dem Soldaten sehen, wer wollte ihn dann noch töten?
(…)

Am Nikolaustag bin ich in Paris. Ich kaufe in Karine Henrys Buchhandlung den neuen Murakami und in einer kleinen Confiserie in der Nähe einige Nikoläuse aus Schokolade. Danach fahre ich ins Panis. Charlotte ist nicht da. Ich setze mich ans Fenster. Das letzte Mal war ich mit dir hier, in der Woche nach deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Wir saßen in der Nähe der Eingangstür und schauten schweigend auf Notre Dame.
Vier oder fünf Monate davor, im Winter, warst du zu mir nach Trouville gezogen. Du hattest dein Zimmer in Le Havre aufgegeben. Es lag in der Nähe des Hospitals, in dem du deine Ausbildung machtest. Das Zimmer war winzig. Es gab keine Fenster, lediglich ein Oberlicht, durch das man hinaufklettern konnte auf eine Art Dachterrasse, die zur Nebenwohnung gehörte. Da der Mieter, ein norwegischer Fotoreporter, ständig auf Reisen war, verbrachten wir die meiste Zeit allein dort oben. Wenn er einmal ein paar Tage hintereinander da war, klopfte er ans Oberlicht und lud uns zu sich ein. Der Norweger, wie wir ihn nannten, las die Bücher von Juan Carlos Onetti und hörte Platten von Nick Drake. Er glaubte, daß es nur einen Weg ohne Spuren gab, und daß dies ein Weg war, auf dem man allein blieb und in sich schaute, und daß man an manchen Tagen am Meer, wenn es blau war und Wellen an den Strand warf, und am Himmel die Wolken herannahten, im Gesicht eines anderen etwas erkennen konnte, das einem vertraut war.
Ich denke heute, daß der Norweger sehr einsam war. Ein unaufdringlicher Mann ohne Freunde, der viel Schönes, aber nicht weniger Leid und Unglück gesehen hatte. Obwohl er gut kochte und uns beim Essen regelmäßig von Indien, China, dem Irak und anderen Orten erzählte, von denen er gerade zurückgekehrt war, waren wir zufrieden, wenn er wieder verreiste und wir die Dachterrasse für uns allein hatten. Bei gutem Wetter legten wir uns an den Nachmittagen auf die Liegen und sonnten uns. Abends stellten wir überall Kerzen auf und machten es uns auf seiner mondänen Hollywood-Schaukel gemütlich. Oft blickten wir über die Dächer der Stadt, tranken Wein und redeten über unser Leben und das der anderen. Wenn wir nicht redeten, starrten wir in die Lichter der flackernden Kerzen. An manchen Sommerabenden ließen wir die Füße am Dachrand herabbaumeln und beobachteten die Schauspielerin Yolande Coty, die bis zum Sonnenaufgang mit Kopfhörern auf dem Balkon ihrer Wohnung im Nachbarhaus saß und mit einem Beamer Filme auf die gegenüberliegende Hauswand warf. Da wir nicht hören konnten, was in den Filmen gesprochen wurde, dachten wir uns eigene Dialoge aus.
In einer dieser Nächte empfand ich zum ersten Mal deine Zweifel, was uns anging. Auch wenn deine Augen es zu leugnen versuchten, spürte ich einen wilden Strudel widerstrebender Gefühle in dir. Nach und nach fand ich heraus, daß du den Wunsch hattest, ganz auf dich gestellt zu sein, ohne mich an deiner Seite. Ganz frei zu sein, ohne den Boden zu verlieren, ohne den oft tief beunruhigenden Klang der Leere in dir zu spüren, den jede Freiheit mit sich bringt. Auch wenn wir davor die meiste Zeit zusammen gewesen waren, war das Zusammenleben in Trouville für uns beide noch ungewohnt. Ich hatte seit dem Tod von Patricia mit niemandem mehr wirklich zusammengelebt, und für dich war es das erste Mal.
An jenem Nachmittag im Panis redeten wir über das Wagnis des Zusammenlebens. Darüber, daß wir in manchen Dingen so unterschiedlicher Meinung waren, daß wir uns nicht selten nur auf unsere Uneinigkeit einigen konnten. Wie verwirrend das jedes Mal wieder war, und wie wir dann mehr und mehr darüber lachten und staunten, daß wir die waren, die wir nun einmal waren. Wieviel Spaß wir miteinander hatten, trotz unserer Unterschiedlichkeit, und langsam verstanden, daß sie kein Hindernis zu sein brauchte. Wir redeten auch über deine Arbeit im Krankenhaus, über dein bevorstehendes Staatsexamen, das dir Tag und Nacht im Kopf herumging. An manchen Tagen warst du verrückt vor Sorge, es nicht zu schaffen. Eine Sorge, die dann nur noch von deiner Besessenheit übertroffen wurde, es niemals dazu kommen zu lassen. Eine Expedition zum Mars hätte nicht besser vorbereitet sein können als dein Staatsexamen. In Trouville stapelten sich Bücher über Anatomie, Krankheitslehre und Krankenpflege. Überall standen große Leinwände, die du dir besorgt und mit Notizen zu den jeweiligen Themen beschriftet hattest. In der ganzen Wohnung gab es keine einzige Wand, an der keine Merkzettel hingen. Wenn du die Nacht über gelernt hattest und ich von dir geweckt wurde und schon am frühen Morgen alles über das Diabetische Fußsyndrom, über Phlebothrombose und Nebennierenrindeninsuffizienz, über Augenkomplikationen bei Diabetes mellitus, Hämorrhoiden, das Klinefelter-Syndrom oder die Pflege nach einer Colonresektion erfuhr, zweifelte ich keinen Moment daran, daß du das Examen schaffen würdest.
An dem Mittag im Panis hast du gesagt: Da ist immer der Gedanke, daß die anderen mich für dumm halten könnten.
Dein Lächeln war zaghaft.
Du hast gesagt: Es ist ziemlich dumm, daß ich das glaube, ich weiß.
Ich erinnere mich nicht mehr, was ich darauf erwiderte. Vielleicht, daß es nicht darum geht, wofür einen die anderen halten, sondern eher darum, herauszufinden, wer man selbst war, und es nie zu vergessen.
Mit weit offenen Augen erzähltest du von der Krebsstation für Kinder, auf der du zehn Wochen gearbeitet hattest. Über die Kinder, die an Krebs gestorben waren, und jene anderen, die überlebt hatten.
Du hast gesagt: Die Kinder haben sich mir anvertraut und mir Dinge erzählt, die sie niemandem sonst erzählten.
Ich sah dir an, wie bedeutungsvoll es für dich war, daß die Kinder sich dir anvertrauten.
Du hast gesagt: Da war ein Junge, Bela. Er kam aus Ungarn. Sein Vater hat ihn immer wieder verprügelt. Bela dachte irgendwann, daß er keine Haut mehr hat. Er fuhr ins Zentrum, in einen Park, und erschlug dort eine Katze. Er zog ihr das Fell ab, weil er dachte, er könnte es als zweite Haut verwenden, damit es weniger wehtat, wenn sein Vater ihn schlug. Dann kamen ein paar größere Jungen und haben ihn furchtbar verhauen und aus dem Park gejagt.
Eine Weile warst du still. Du lagst wie ein Pfeil auf einem gespannten Bogen, eingekreist von den Strömen starker Kräfte, die in dir arbeiteten.
Irgendwann hast du gesagt: Ich streichelte ein wenig Belas Rücken und cremte ihn mit einer Lotion ein, wie jeden Tag. Er sprach von Ungarn, wie er nach Le Havre gekommen war, und von seinem Vater, der keinen Job gefunden und mit dem Trinken angefangen hatte. Und er erzählte das von der Katze. Hinterher sagte er zu mir: Puh, das mit der Katze mußte ich noch loswerden.
Wie um dich abzulenken, schautest du eine Weile aus dem Fenster.
Ohne mich anzusehen, hast du mit leiser Stimme gesagt: An diesem Tag lächelte Bela mich kurz an. Er meinte, daß er sich jetzt nicht mehr wund fühlt, weil ein Engel bei ihm ist, der ihm jeden Tag eine schöne neue Haut macht. Zwei Stunden später ist er gestorben.
Ich sah, daß dir Tränen in die Augen traten. In allem, was du sagtest, konnte ich spüren, wie sehr diese Kinder und ihr Schicksal dich berührten.
Du hast gesagt: Es gibt so viele Kinder, die nicht jung an Krebs sterben, die niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können, und da ist nie jemand, der ihnen den Rücken streichelt oder sie eincremt.
Irgendwann hast du angefangen, über deinen Großvater zu sprechen, Alexander Brebant, den bekannten Kunsthändler aus Montpellier. Ich erinnere mich, wie du mit beiden Händen meine Hand nahmst. Da war die Härte deines Griffs, in dem ich etwas von der mit deinem Körper verschweißten Wut spüren konnte.
Ich glaube heute, daß du dich deiner Wut nie ausgeliefert hast. Trotz der Dinge, über die du an jenem Nachmittag sprachst, war da keine Bereitschaft in dir, dich von deiner Wut durchqueren zu lassen und sie auszuhalten. Auch später nicht. Der Wunsch, Schiffbruch zu erleiden, einen radikalen Bruch herbeizuführen, um aus der tiefsten Tiefe des Verlangens ein neues Verständnis von sich und der Welt entstehen zu lassen, diesen Wunsch gab es nicht in dir. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, daß du deine Wut zurückgelassen hast, daß sie irgendwo lag, in einem deiner inneren Räume, an einem sehr gewalttätigen Ort in dir, gefesselt und geknebelt, und daß du sie ersetzt hast durch deine Traurigkeit, die ich schon immer an dir kannte und die noch in der lebendigsten und übermütigsten deiner Lebensäußerungen steckte.
Ich weiß noch, wie lange ich dich ansah, nachdem du alles erzählt hattest. Wie ich dachte, daß du es womöglich nicht besser wußtest und daß es niemanden in deinem Leben gegeben hatte, der dir hätte zeigen können, wie du deine Wut durchbrechen läßt, um auf ihren Schwingen zu etwas anderem zu gelangen. Doch dann dachte ich auch, daß nun, nachdem du das Geheimgehaltene an all den Wachtürmen, Schutzwällen und dunkeln Gestalten in dir vorbei über den Todesstreifen gezerrt und preisgegeben hast, alles möglich war.
Du hast gesagt: Du bist der erste, dem ich davon erzähle.
Ich sehe wieder deine Unbeholfenheit und wie verblüfft du bist über deinen Mut, mir etwas zu erzählen, daß du vorher noch niemandem erzählt hast. Bevor du über deinen Großvater sprichst, erzählst du von Montpellier. Ich habe das Gefühl, daß du dich auf diese Weise an ihn herantastest.
Du sagst: Es gab einen großen Garten mit Palmen, Zitronen- und Pfirsichbäumen. Ich erinnere mich an den Geruch des Meeres bei geöffneten Fenstern, der sich mit dem Duft der blühenden Pfirsichbäume vermischte. Wenn ich mittags auf dem Bett lag und aus dem Fenster starrte, sah ich den blauen Himmel. Ich erinnere mich an das Licht, das morgens durch die Ritzen der Fensterläden fiel. An das Geklapper von Tellern und Bestecken, wenn Großmutter den Tisch deckte. An den Wechsel der Schatten an den Hauswänden, je nachdem, wo die Sonne stand. An die Wärme der Sommer in den Zimmern des Hauses. An die Unordnung aus Bildern, Büchern, Skulpturen und Büsten im ganzen Haus.
Dein Blick ist angestrengt, während du mit den Fingern imaginäre Figuren auf den Holztisch zeichnest.
Du sagst: Ich erinnere mich, daß ich mit Großmutter Marmelade einkochte. An Hunderte blitzender Gläser, die überall standen. An den Duft von frischem Obst und Zucker. Daran, daß Großmutter mich auf einen Stuhl stellte, damit ich die Marmelade in den großen Töpfen auf dem Herd umrühren konnte. Auf der Ablage über dem Herd standen viele Flaschen, in denen sich Schnäpse und Liköre befanden, mit denen sie die Marmeladen verfeinerte. Mir gefielen die bunten Etiketten auf den Flaschen und ihr farbiger Inhalt.
Dein Lächeln kommt unvermittelt und ist in seiner Natürlichkeit vollkommen.
Die Bedienung, die unsere Getränke bringt, beobachtet dich einen langen Moment. Als ob sie ahnt, daß hinter dem Nachhall von etwas Vertrautem, das dich so unerhört lächeln läßt, etwas anderes lauert, das dich von einer auf die andere Minute von dort wegreißen kann. Vielleicht denke ich da bereits, daß dieses Lächeln von einem Ort in dir kommt, über den du noch nichts weißt. Zumindest denke ich es, während ich dies hier schreibe. Ich glaube nämlich, daß dort, an diesem Ort, den es in uns allen gibt, auf die eine oder andere Weise, gelegentlich ein Wunder entsteht, das uns weitermachen läßt, obwohl sich unser Herz zusammenkrampft bei dem Gedanken, auch nur noch eine Minute länger am Leben zu sein.
Jedenfalls sehe ich wieder, wieviel Mühe es dir macht, im Panis über diese Dinge zu sprechen. Wie du dich ablenkst, indem du verstohlene Blicke auf einen jungen Mann wirfst, der am Tisch gegenüber einen Café Crème trinkt.
Du sagst: Ich erinnere mich an die Spaziergänge mit Großvater. An den Geruch seiner Zigaretten, sie hießen St. Moritz und hatten am Filter einen Goldrand. An den Duft seines After Shave, es roch nach Holz, frisch und stark und ein bißchen süßlich.
Plötzlich bist du weit entfernt. Du scheinst mich vergessen zu haben. In deinem Gesicht ist etwas Fremdes, das mich beunruhigt.
Du sagst: Seine tastenden Hände auf meinem Körper, bevor er mich durchkitzelt. Sein Gesicht ist an mein Gesicht gepreßt. Ich spüre seinen Atem an meinen Lippen. Er steckt meine Hand in seine Hosentasche. Er legt seine Hand auf meine Schenkel. Ich trage eine helle Shorts, eine blaue Strumpfhose und meine Converse Chucks, die mit den bunten Schnürsenkeln. Da ist der Geschmack von etwas in meinem Mund, ich erinnere mich nicht mehr.
Dein Gesicht ist reglos, als wäre der passende Gesichtsausdruck für diese Geschichte irgendwo in dem Raum zwischen den Worten steckengeblieben.
Du sagst: Ich habe das Gefühl, daß der Boden unter meinen Füßen langsam aufreißt. Jedes Wort, das ich sage, brennt auf meiner Zunge.
Deine Stimme klingt rauh, als du weitersprichst.
Du sagst: Meine Großeltern waren aufmerksam und entgegenkommend, aber auf eine angestrengte Weise. Meistens wirkte es gekünstelt. Ich erinnere mich nicht, daß sie zärtlich oder liebevoll miteinander waren.
Du schaust aus dem Fenster. Du läßt Zeit verstreichen.
Dann sagst du: Da gab es eine Art Echo von etwas, das vielleicht zwischen beiden einmal da war. So etwas wie Liebe.
Du wendest deinen Blick vom Fenster ab. Du starrst auf die gegenüberliegende Wand. Dann siehst du zu mir. Ich sehe dich an. Unsere Blicke sind wie zwei Linien, die sich begegnen.
Du sagst: Es war ein empfindliches Gleichgewicht zwischen ihnen. Beide haben versucht, es aufrechtzuerhalten. Vor allem, wenn ich bei ihnen war. Aber sie konnten sich nicht die ganze Zeit verstellen. Oft gab es Blicke, Gesten und manchmal auch Sätze, die zufällig die Außenseite durchbrachen und etwas sichtbar machten, das darunter lag.
Unsere Blicke berühren sich nun, bilden Punkte aus Momenten, in denen ich mit dir warte.
Du sagst: Kurz vor ihrem Tod hat Großmutter gesagt, daß Großvater ihre Liebe nicht verdient. Ich wußte nicht, ob sie das ernst meint. Sie hat dabei gelächelt. Es war ein enttäuschtes Lächeln.

Es gibt ein paar Fotografien, die ich von deiner Großmutter gesehen habe. Du hast sie mir gezeigt, als ich dich das erste Mal in Marseille besuchte und wir entschieden, daß wir uns näherkommen wollten. Das war, als wir nicht mehr nur telefonierten, sondern anfingen, uns abwechselnd zu besuchen. Ich erinnere mich vor allem an das eine Bild, auf dem sie neben deiner Mutter steht, die zu der Zeit mit dir schwanger ist. Es ist am Strand, die Sonne steht hoch, es muß warm sein, Sommer. Deine Großmutter trägt ein leichtes Kleid aus roter Seide und einen ovalen Strohhut mit einem passenden Hutband. Ihr volles blondes Haar tritt darunter hervor. Ihr Gesicht ist glatt, von einer leichten Bräune überzogen. Auf dieser Fotografie geht eine unglaubliche Energie von ihr aus. Neben deiner Mutter, die etwas schwach und verloren erscheint, wirkt deine Großmutter kraftvoll und stark, fast unbesiegbar. Die andere Fotografie, an die ich mich erinnere, wurde nach deiner Geburt gemacht. Du bist darauf wenige Monate alt. Deine Großmutter ist zu sehen, wie sie dich hält. Sie lächelt gequält, als ob sie sich von der Kamera bedrängt fühlt. Wie eine Frau, die gerade vergewaltigt wurde. Die fotografiert wird, um zu dokumentieren, was man ihr angetan hat. Man sieht, daß sie etwas hat über sich ergehen lassen. Ich weiß noch genau, daß ich das damals dachte. Ich habe sie zuerst kaum wiedererkannt. Ihr blondes Haar ist dünn geworden, es ist jetzt weiß. Ihr Gesicht ist ernst und blaß, von einem Netz von Falten übersät. Ein Gesicht, in das irgend etwas wie ein Blitz eingeschlagen ist. Vermutlich hat sie gerade erst etwas erlebt oder erfahren. Der Schrecken darüber steht ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Die Augen, der Blick sind noch vollständig davon erfaßt. Man sieht ihr an, daß sie weiß, daß es unmöglich ist, zu etwas Früherem zurückzukehren. Sie sieht aus wie etwas Totes. Zwischen den beiden Fotografien liegt höchstens ein Jahr. Vielleicht sind es auch nur ein paar Monate. Die Zeit, in der deine Mutter mit dir schwanger war und du geboren wurdest. Als ich die Fotografie zum ersten Mal sah, fragte ich mich, ob dir irgendwann aufgefallen war, wie deine Großmutter dich da hält: von ihrem Körper entfernt, wie einen Topf, den man gerade vom Herd genommen hat und aus dem kurz vorher etwas auf ihre Kleider gespritzt ist. Ich weiß noch genau, daß wir über die Fotografien gesprochen haben.
Du hast gesagt: Ja, jetzt kann ich das sehen. Auch, was du gesagt hast, über die Zeit, die zwischen den Fotografien liegt. Das wird mir erst jetzt bewußt.
Du hast die beiden Fotografien lange betrachtet.
Irgendwann hat du gesagt: Ich kannte Großmutter nur wie auf dem zweiten Bild. Für mich hat sie nie anders ausgesehen.
Du hast danach kein Wort mehr darüber verloren. Auch später nicht. Bis zu dem Mittag im Panis haben wir nie wieder über deine Großeltern gesprochen.

Es gibt auch Fotografien, die deinen Großvater zeigen. Sie wurden auf der Beerdigung deiner Großmutter gemacht. Er steht dort neben deiner Mutter und ist nur von hinten und von der Seite zu sehen. Man kann sein Gesicht nicht richtig erkennen. Diese Fotografien haben befremdend auf mich gewirkt. Sie haben etwas Bedrückendes. Damals konnte ich nicht sagen, was es war, was mich derart bedrückte. Ich habe lange gedacht, es habe mit der Beerdigung an sich zu tun, mit all den schwarz gekleideten Menschen, die auf dem Friedhof zusammenkommen waren, um Abschied von deiner Großmutter zu nehmen. Nach allem, was du mir im Panis erzählt hast, vermute ich heute, daß mich etwas anderes zurückgestoßen hat. Daß es die Art war, wie dein Großvater neben deiner Mutter steht, oder wie er ihre Hand hält. Als wäre er ihr Mann oder ein Liebhaber. Jedenfalls nicht wie ein Vater. Deine Mutter scheint zuzustimmen. Womöglich ist es ihr gar nicht bewußt. Oder sie hat nie etwas anderes gelernt, als in seine Wünsche einzuwilligen. Ich sehe wieder, wie du an jenem Mittag im Panis versuchst durchzuhalten, während du weitersprichst. Wie du versuchst, dich zu besänftigen, und allmählich begreifst, daß es ab hier keine Besänftigung mehr geben wird, und daß sich erinnern ein steilerer Aufstieg ist, als die Dinge bei jedem Auftauchen wegzuschieben oder sie zu vergessen.
Du sagst: Nach Großmutters Tod lebte er allein in Montpellier, in dem großen Haus. Ich war gerade sechs geworden, als Großmutter starb. Es ist drei Tage nach meinem Geburtstag passiert. Ich sehe heute, daß er sich freier fühlte, nachdem sie gestorben war, auf eine andere Weise lebendig. Wir erleichtert er nach ihrem Tod war, das sehe ich erst jetzt.
Das Erstaunen über das gerade Gesagte steht dir ins Gesicht geschrieben.
Du sagst: Nach Großmutters Tod haben Mama und ich ein Jahr lang bei Großvater in Montpellier gelebt. Ich weiß noch, daß Papa deswegen ziemlich verärgert war. Mama und Großvater waren sich sehr nahe in dieser Zeit. Ich weiß, daß ich ihn ein paar mal versehentlich Papa genannt habe und wie ich einmal mittags in sein Schlafzimmer lief und Mama neben ihm lag und daß beide nackt waren.
Deine Stimme klingt wie die einer Verirrten.
Du sagst: Als ich eingeschult wurde, gingen wir weg aus Montpellier. In der Zeit verkaufte Großvater seine Galerien. Er fuhr allein mit dem Fahrrad nach Barcelona. Danach fuhr er acht Monate zur See und zum Nordpolarmeer. Einmal überquerte er die Alpen, mit einem Ballon.
Für einen kurzen Augenblick zeigt sich so etwas wie echte Begeisterung in deinem Gesicht.
Du sagst: Ich habe ihn bewundert. Er war gebildet, witzig, generös und schlagfertig. Er war elegant und charmant. Es gab nichts, was ich ihn nicht fragen oder worüber ich nicht mit ihm reden konnte. Er wußte auf alles eine Antwort. Auch meinen Freundinnen gefiel er. Er erzählte ihnen Geschichten, machte Komplimente, wenn sie etwas sagten, und über ihr Aussehen. Ich denke, sie fühlten sich geschmeichelt. Ich kannte ihre Väter und Großväter. Das waren dumme und frivole Männer.
Du erzählst, daß du elf oder zwölf bist. Ihr seid von Aix–en–Provence nach Marseille gezogen. Dein Vater hat sich gerade von deiner Mutter getrennt. Ich sehe in deinem Gesicht das Erstaunen des Kindes, das du damals warst. Ein Kind, das man überrumpelt hat. Da ist, noch Jahre später, eine Fassungslosigkeit bis zur Betäubung und eine große Verlorenheit, wie bei einem verletzen Tier, dem man nie den Pfeil aus dem Fleisch gezogen hat.
Du sagst: Er ist einfach verschwunden, über Nacht. Er hat sich nicht einmal verabschiedet. Mama und er kamen Sonntags aus Montpellier zurück, wo sie Großvater besuchten, und am nächsten Tag war er fort. Mama hat mir nur gesagt, er habe eine andere Frau kennengelernt.
Du erzählst, daß deine Mutter wieder in ihrem alten Beruf anfängt zu arbeiten, kurz nachdem dein Vater fort ist.
Du sagst: Sie arbeitete wieder für DIOT. Sie verdiente ganz gut. Sie machte wohl richtig Karriere. Aber sie war fast nie zuhause. Ich war die meiste Zeit allein. Ich habe mich ziemlich verlassen gefühlt. Nach der Schule zog ich mit Freundinnen durch die Stadt. Wir liefen bis zum Abend die Canebière hoch und runter oder hingen mit ein paar älteren schwarzen Jungens aus Les Rosiers am alten Hafen herum. Oft gingen wir ins Lafayette oder ins Bourse, klauten Parfums, Schmuck oder die neusten Platten.
Du erzählst, wie sie dich irgendwann im Lafayette beim Diebstahl erwischen und wie herauskommt, was in der Schule los ist, wie schlecht du wirklich bist.
Du sagst: Ich war eine gute Schülerin, doch ich hatte monatelang nichts mehr gemacht und auch die Schule geschwänzt. Die Lehrer hatten mir Briefe für Mama mitgegeben. Ich habe sie weggeworfen. Als Mama davon erfuhr, war sie wütend.
Schließlich entscheidet deine Mutter, dich zu deinem Großvater zu bringen. Sie kann sich nicht um ihre Karriere kümmern und um dich, zumindest nicht gleichzeitig.
Du sagst: Sie meinte, es sei eine Notlösung, bis sie wieder mehr Zeit hätte. Aber ich merkte, daß ihr die Idee, mich zu Großvater zu bringen, nicht wirklich gefiel.
Ich sehe wieder, daß du mir nicht mehr dazu sagen kannst. Es ist wohl eher ein unbestimmtes Gefühl, das du hast.
Du sagst: Heute weiß ich, daß ich manchmal etwas spürte, wenn ich mit Mama und ihm zusammen in einem Raum war. Es war die Art, wie sie sich nicht ansahen, wie sie ihren Blicken auswichen. Ich kann es dir nicht erklären. Damals war mir das ziemlich egal. Ich habe mich auf Großvater gefreut. Das Meer war nur eine Viertelstunde vom Haus entfernt.
Du redest lange über das Meer, über die große Einsamkeit des Meeres, über seinen Geruch, der dir männlich vorkommt, bis hin zu den Schaumkronen, die viel heller leuchten, wenn der Morgen dämmert. Du erzählst das alles, um nicht von ihm reden zu müssen, um das Reden über deinen Großvater hinauszuzögern.
Du sagst: Ich hatte keinen Vater mehr. Das Leben kam mir plötzlich gefährlich und unberechenbar vor. Niemand mehr, der mir ein Zahnpasta-Sandwich machte, oder der mit mir in den Park ging, um Schneckenhäuser anzumalen, und der mich gut in sich unterbrachte, wenn ich mich schlecht fühlte. Ich glaube, ich habe bei Großvater ein bißchen Nähe gesucht. Ich wollte mich geborgen fühlen.

Wenn ich heute daran denke, bist du jemand gewesen, der lange einen anderen brauchte, dem er sich nahe fühlen, bei dem er sich sicher fühlen konnte. Darin waren wir uns ähnlich. Bevor wir uns begegneten, hatten wir beide mehr oder weniger unbehaust gelebt. Der Schmerz über die Dinge, die wir erfahren hatten, lag Tag und Nacht sprungbereit. Anfangs bemerkten wir ihn immer zu spät. Mit der Zeit konnten wir ihn in einiger Entfernung sehen. Der Schmerz war wie ein Löwe, der auf eine Gazelle wartet. Wir hatten gelernt, in Deckung zu gehen, uns zu verbergen. Manchmal für so lange, daß wir uns selbst in unserem Versteck vergaßen. Meistens lebten wir so, daß wir aus uns selbst herauskamen und wieder dort verschwanden, ohne daß auffiel, daß wir da waren oder fehlten. Wir schwiegen so lange, daß wir beinahe vergaßen, wie man spricht. Nur manchmal, wenn wir weinten, hatten wir das Gefühl von Angemessenheit. Wenn wir weinten, wußten wir, daß wir mit unseren Gefühlen richtig lagen und daß alles mit uns stimmte. Das blieb so, bis wir uns begegneten und lernten, einander zuzuhören und zu vertrauen, wieder nach vorne zu blicken, in die Ferne, oder daß wir mit unseren Gefühlen auch richtig lagen, wenn wir lachten. Wir kratzten uns gegenseitig den Schmutz von der Seele, sahen dort hinein, wo gewöhnlich niemand hinsehen kann. Was das betraf, gingen wir weit. Wir entdeckten immer öfter, daß alles mit uns stimmte, auch wenn wir uns glücklich fühlten. Wir brachten uns gegenseitig zum Sprechen, bis wir irgendwann die Gewißheit hatten, daß wir keine Angst voreinander zu haben brauchten. Bis wir zwei Menschen waren, die nicht nur geliebt werden wollten, sondern die liebten, die wirklich lieben wollten. Jedenfalls glaubte ich, daß es so war. Daß wir beide nach und nach verstanden, was anderen womöglich schon lange klar war: daß wir alle doch jemandem suchen, dem wir uns nah fühlen, dem wir nah sein können, und daß, falls es einen Sinn im Leben gab, es möglicherweise der war, andere Menschen zu wählen, mit denen man zusammenblieb. Menschen, die noch da waren, wenn man abends zurückkam, die einem nicht wehtaten oder weggingen, nur weil man selbst wegging. Die einem die Tür öffneten und einen willkommen hießen, wenn man zurückkehrte. So etwas wie eine eigene Familie, die nichts mit der biologischen zu tun hatte, sondern nur mit einem selbst.

Während ich dies hier schreibe, höre ich wieder, wie du zu mir sagst: Du bist meine erste große Liebe, die alle künftigen Lieben für mich möglich macht. Wir sind in Rom, ein Jahr später, um deinen zweiundzwanzigsten Geburtstag zu feiern. Wir laufen auf der Via Condotti entlang und schauen uns die Auslagen der Designerläden an. Schließlich landen wir müde im Caffé Greco, irgendwo in der Nähe der Spanischen Treppe, wo ein Straßenhändler dir zuvor einen Armreif aus Perlmutt aufgeschwatzt hat. Wir drängeln uns durch den schmalen Gang bis ganz nach hinten durch und suchen uns neben einer der Trennwände einen schönen Platz. Wir trinken Cappuccino und Grappa, wir küssen uns die ganze Zeit, du bist glücklich mit deinem Armreif und weil du Geburtstag hast und wir ein Paar sind und zusammen in Rom. Vermutlich verstehe ich das, was du im Caffé Greco zu mir sagst, als Kompliment und beachte es nicht weiter. Jetzt sehe ich, daß du schon in Rom den Wunsch nach einem anderen Leben gehabt haben mußt, nach einem Leben ohne mich, und daß unsere Liebe für dich womöglich etwas anderes war als für mich.

An jenem Nachmittag im Panis verstehe ich, wie besonders dein Großvater lange Zeit für dich war. Er hat sicher gewußt, daß er für dich jemand war, der deine Träume erraten und sie erfüllen konnte. Ja, er wußte, daß du ihn nicht nur halb lieben konntest, daß er aus diesem Grund alles von dir haben konnte.
Ich sehe wieder, wie deine Hände zu Fäusten geballt sind, als du weitersprichst.
Du sagst: Hier drinnen ist es schlimm, auch wenn man mir nie etwas anmerkt. Wenn ich allein bin, fühlt es sich so an, als ginge es ganz tief. Dann fühle ich mich innerlich wie aufgerauht.
Du preßt eine Faust auf deinen Brustkorb, dorthin, wo das Herz ist.
Du sagst: Etwas in mir findet keine Ruhe, als gäbe es da ein zweites Universum. Ein Universum mit riesigen Schatten, die sich über alles legen.
Dein Atem verzögert sich, als ob du nach jedem Satz die Luft anhältst oder vergißt auszuatmen.
Du sagst: Großvater beobachtete mich beim Ausziehen und wenn ich duschte. Er sagte zu mir, wie schön ich sei. Was für ein hinreißendes junges Mädchen, eine solche Schönheit! Er sagte es sogar vor allen Leuten. Dabei legte er seine Hand auf mein Knie. Ich fühlte mich geschmeichelt. Bis dahin wußte ich nicht, daß ich schön war. Niemand hatte es vor ihm zu mir gesagt.
Als du es mir erzählst, bist du wieder das zwölf Jahre alte Mädchen, dem man sagt, daß es schön ist, und das sich deshalb traut, schön zu sein.
Du sagst: Eines Abend schauten wir uns einen Film an. Da küßte er mich auf den Mund. Er sagte zu mir, ich solle meinen Mund öffnen, es würde mir gefallen. Ich war unsicher und habe mich geschämt. Und es gefiel mir. Ich spürte es überall in meinem Körper. Ich war durcheinander. Es war mein erster Kuß.
Draußen beginnt es zu regnen. Die Leute spannen ihre Schirme auf oder halten Zeitungen und Jacken über ihre Köpfe, während sie über den Platz preschen. Ich schaue dich an. Du hast die Beine hochgezogen und angewinkelt auf den Stuhl gestellt. Dein Gesicht wirkt plötzlich schmal und traurig.
Ich verstehe mit einem Mal, daß es ab hier nicht mehr darum geht, dich kennenzulernen, daß es um viel mehr geht, als um die Dinge, die dich und dein Leben betreffen, gewöhnliche Dinge wie die, die man vom anderen kennt, wenn man ein Paar ist. Heute ist der erste Tag, an dem ich dich sehe. An dem du dich zeigst.
Ich bin erschrocken darüber. Auch, weil sich meine Vermutung bestätigt, daß dir als Kind etwas zugestoßen ist. Seit ich dich kenne, habe ich viele Nächte im Halbdunkel wachgelegen und mir den Kopf darüber zerbrochen, warum es Tage in deinem Leben gibt, wo du dich vor den Spiegel stellen mußt, um festzustellen, wer du bist, daß du liebenswert bist und schön. Und warum sich Niedergeschlagenheit und Freude bei dir ablösen wie Landschaften, die man überfliegt. Weshalb du der Liebe so viele Hindernisse entgegenstellst, obwohl dein Herz im ganzen Körper vor Sehnsucht danach klopft. Warum du mich heranholst und zurückstößt, als würdest du vom Bürgersteig plötzlich auf die Straße springen. Weshalb ich manchmal etwas sage, das dich so sehr aufmuntert, daß du meine Worte nimmst und sie auf dein ganzes Leben ausdehnst, und weshalb dieselben Worte, wenn ich sie ein anderes Mal sage, dir den Hals abschnüren.
Du sagst: Bald faßte er mich überall an. Das erste Mal war, als er mich in der Badewanne abduschte. Wir waren am Meer gewesen. Er verteilte den Duschschaum auf meinem Körper. Er faßte mir zwischen die Beine und streichelte mich dort. Seine Berührungen waren wie kleine elektrische Schläge, die ich überall in meinem Körper spürte. Ich glaube, ich schämte mich, weil es sich gut anfühlte, wenn er mich so anfaßte. Abends legte er sich zu mir und berührte mich erneut dort. Ich bin wie du, Lucia, und du bist wie ich, wir sind eine Familie, da gibt es nichts Verbotenes, das war schon so, als ich noch jung war. So etwas hat er zu mir gesagt. Wie abscheulich das ist!
Du nimmst meinen Kugelschreiber, der auf dem Tisch liegt. Du zeichnest etwas mit Stacheln auf den Rand einer Zeitung. Dein Lächeln ist kurz und traurig. Ich spüre den Abstand, den du zu dir einnimmst.
Du sagst: Es tat nie weh, wenn er mich anfaßte. Ich denke heute, das war das Schreckliche daran, daß es nie weh tat, daß es mir sogar gefiel, wenn wer mich da unten streichelte oder leckte. Hätte es wehgetan, hätte ich wahrscheinlich schreien und ihn wegstoßen können.
Stockend erzählst du, wie dein Großvater dich eines Abends aufforderte, ihn anzufassen, wie er seinen Penis mit Hershey-Sirup einrieb und dich ermunterte, ihn abzulecken und dabei zu reiben. Du weißt noch, wie unsicher du dich fühltest und daß du Angst hattest. Und wie du es dann getan hast. Wie hin- und hergerissen du warst zwischen Neugier, Scham und Widerwillen.
Du sagst: Nachdem er gekommen war, legte er die Decke um mich, weil ich zitterte. Er umarmte mich und streichelte mein Haar. Er lobte mich und sagte, wie gut ich das gemacht habe und wie schön ich sei und wie sehr ich ihm gefiel. Ich merkte, daß er sich gut fühlte, daß ich ihm eine Freude gemacht hatte. Ich wollte ihm gefallen. Ich wollte, daß mich jemand lieb hat, ohne daß er mir wehtat oder wieder wegging. Ich schämte mich wegen dem, was ich getan hatte, und, wie soll ich das sagen, es erregte mich, und deswegen schämte ich mich ebenfalls.
Ich frage dich nach deiner Mutter, was sie wußte. Du sprichst von Komplizenschaft zwischen dir und deinem Großvater, von dem Geheimnis, das zwischen dir und ihm bestand, und daß du nicht wolltest, daß auch er dich sitzen ließ, wie dein Vater. Während du redest, fängst du an, dich an den Armen und im Gesicht zu kratzen.
Du sagst: Mama hatte in Marseille ihr eigenes Leben. Überwiegend haben wir telefoniert. Sie schenkte mir ein Handy und rief mich an, wann es ihr paßte. Manchmal rief sie mitten in der Nacht an. Wenn sie in der Nähe war, kam sie nach Montpellier. Sie kam in den Ferien und an den Feiertagen. Wir machten dann viel zusammen. Sie kaufte mir Kleider und Schuhe. Ich weiß, daß sie damals etwas mit dem Präsidenten von DIOT hatte.
Du bist dir sicher, daß sie in dieser Zeit nur sich selbst und ihre Karriere gesehen hat, daß sie sehr mit sich selbst beschäftigt war. Du weißt nicht mehr, ob es davor anders war.
Du sagst: An meinem vierzehnten Geburtstag kam sie nach Montpellier. Als Großvater die Geburtstagstorte anschnitt, erklärte ich, daß ich mit ihr zurückfahren würde. Ich will nicht länger hier bleiben. Ich sagte, daß ich meine Sachen bereits gepackt hätte. Beide sahen mich verständnislos an. Mama fragte mich nach dem Grund. Sie sah Großvater an und wollte von ihm wissen, was vorgefallen war. Aber er schwieg. Er war überrascht, daß ich weg wollte. Er sagte hilflos: Wir wollten doch morgen zu dem Konzert von Mylène Farmer gehen.
Du erwähnst, daß du die ganze Zeit über zu Boden schautest, weil dein Großvater neben dir stand.
Du sagst: Ich konnte ihn zuerst nicht ansehen. Obwohl ich Mama nichts erzählt hatte und auch nicht vorhatte, es zu tun, hatte ich das Gefühl, ihn zu verraten. Dann habe ich mir gesagt, sei stark, du mußt jetzt stark sein. Dann habe ich ihn angesehen, als hätte ich ihn noch nie gesehen, als wäre er nicht mein Großvater, und es wiederholt: Ich will nicht länger hier bleiben.
Du nimmst meinen Kugelschreiber. Du streichst das gezeichnete Etwas mit Stacheln auf dem Zeitungsrand durch.
Du sagst: Dabei habe ich mir gewünscht, mich an ihn zu schmiegen, daß er einfach mein Gesicht streichelt und mein Haar, wie früher.
Du hältst den Kugelschreiber wie ein Kind, mit beiden Händen. Du drückst fest auf, bis das gestachelte Etwas nicht mehr zu erkennen ist.
Du sagst: Wir haben jeden Tag diese Sachen gemacht. Ich wußte, wäre ich geblieben, er hätte mit mir geschlafen. Und ich hätte es vielleicht sogar schön gefunden.
Du siehst mich an und wartest.
Dann sagst du: In der Nacht bin ich aufgewacht. Ich habe sie unten streiten hören. Ich hörte Mama schreien. Warum Lucia? Warum sie auch? Konntest du nicht einmal vor ihr haltmachen?
Du erzählst, wie du am nächsten Morgen auf der Rückfahrt deine Mutter gefragt hast, ob dein Großvater dein Vater ist.
Du sagst: Sie hielt mitten auf der Straße den Wagen an. Ich erinnere mich gut daran, wie sie mir ins Gesicht schlug und schrie. Dein Großvater ist dein Großvater! Und dein Vater ist dein Vater!
Du wartest einige Minuten.
Dann sagst du: Wir haben nie wieder darüber gesprochen.

Da, im Panis, an jenem Tag, ich sehe es wieder, überfällt dich eine große Verlorenheit und Scham. Du wirst gleich weinen. Wir spüren es beide.
Du sagst: Ich glaube, daß Großvater mit Mama dasselbe gemacht hat wie mit mir. Und es war nicht zu Ende. Es ist weitergegangen, als sie kein Kind mehr war. Und Papa hat alles entdeckt. Er fand heraus, daß nicht er mein Vater ist, sondern Großvater. Deswegen ist er gegangen.
Du fängst an zu weinen.
Du sagst: Als Kind muß man doch immer mit dem Schlimmsten rechnen.
Später, nachdem du geweint hast, erzählst du noch, daß dein Großvater das große Haus an den Fernsehstar Lelee Schneider verkauft hat und ins Department Hérault gezogen ist, in sein Chalet in Ournonterral, zwanzig Kilometer von Montpellier entfernt, wo er seitdem lebt.
Ich erinnere mich sofort, daß Lelee Schneider sich im Jahr zuvor in einer Villa in Montpellier umgebracht hat. Ich frage dich, ob es sich um das Haus deines Großvaters handelt.
Du sagst: Ja, das war die Villa von Großvater. Lelee Schneider hat sich erschossen, in meinem ehemaligen Zimmer, das Zimmer, in dem das alles geschehen ist.
Du bist dir sicher, daß von allem, was Großvater dir und deiner Mutter angetan hat, unsichtbare Spuren in dem Haus übriggeblieben sind.
Du sagst: Man sollte das Haus abreißen. Niemand kann dort mehr glücklich sein.
Im Panis erfahre ich auch, daß dein Großvater an Alzheimer erkrankt ist und daß deine Mutter mit ihm in Ournonterral lebt und ihn pflegt.
Du sagst: Manchmal telefoniere ich mit Mama. Sie kümmert sich um Großvater, als wäre nichts geschehen. Sie sagt, daß sie jetzt in Einklang mit sich und der Welt ist.
Du starrst schweigend aus dem Fenster, wo der Regen aufhört.
Mit höhnender Stimme sagst du: Sie ist jetzt im Einklang mit sich selbst! Das ist so ekelhaft!
Nach und nach tritt die Sonne hervor. Licht bricht durch die Fenster und durchflutet das Panis.
Du sagst: Es ist verrückt, an was man sich als kleines Mädchen gewöhnt, was man alles normal findet. Die wenigen Momente in meiner Kindheit, in denen ich mich umsorgt und geliebt gefühlt habe, waren die mit Papa und Großvater. Der eine hat mich verlassen, der andere hat mich mißbraucht.
Das Sonnenlicht fällt auf dein Gesicht, in dem sich deine Augen abermals mit Tränen füllen.
Irgendwann sagst du: Im Jahr darauf habe ich dich kennengelernt. Du hast das mit Großvater nicht gewußt, und doch hast du mich angesehen und sofort alles verstanden.
Dein Mund verkrampft sich, als würdest du erneut anfangen zu weinen.
Und dann geht es vorüber.
Du sagst: Ich weiß noch, wie wir morgens am Strand entlanggingen. Ich erinnere mich an jedes Wort, das du zu mir gesagt hast, weil bis dahin niemand zuvor so mit mir gesprochen hatte. Du hast zu mir gesagt: Nicht wahr, dein Herz tut dir manchmal weh, du spürst, wie es überall in deinem Körper klopft, deine Kehle ist wie zugeschnürt, du weinst im Dunkeln, weil du dich allein auf der Welt fühlst, und du wirst jemanden finden, der sein Herz nicht vor deinem verschließt, der dir zeigt, wie du warst, bevor man dir wehgetan hat. Ich habe dich angesehen und gesagt: Warum nicht du.
Dein Gesichtsausdruck ändert sich plötzlich. Ich spüre dich ganz nah bei dir.
Du sagst: An diesem Morgen hast du liebevoll und zärtlich mein Gesicht gestreichelt. Ich war fünfzehn und habe das erste Mal erfahren, was Intimität bedeutet, wenn nichts Sexuelles dabei ist.
Du siehst mich eine Weile ernst an.
Du sagst: Weißt du, daß du der erste Mensch in meinem Leben bist, der mich die ganze Zeit umsorgt und liebt, ohne mir weh zu tun.
Du siehst mich noch immer so an, mit demselben Ernst.
Du sagst: Ich werde dein Leben nicht kaputtmachen.
Dann fixierst du die Schiefertafel an der Wand, als wolltest du die Tageskarte auswendig lernen. Dein Blick fällt erneut auf den jungen Mann am Tisch gegenüber, der sich einen weiteren Café Creme bestellt. Er erwidert deinen Blick. Du lächelst. Du drehst dich wieder zu mir um.
Du sagst: Wärst du mir nicht begegnet, wäre ich wie eine von diesen Pflanzen geworden, die ungesehen leben und sterben, ohne daß jemand sie schön gefunden hätte.
Deine Stimme klingt weich und samten. Da ist eine Mischung aus Nachdenklichkeit, Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit in deinen Blicken.
Du sagst: Du hast mir einmal gesagt, daß man nicht alles Leid und jeden Schmerz überwinden kann, daß aber durch Zuhören alles geteilt wird.
Du lächelst erneut. Deine Stimme hat noch immer denselben Klang.
Du sagst: Du hast mir auf eine Weise zugehört wie niemand sonst. Und mit dem, was du in den blauen Heften geschrieben hast, hast du meinem Schmerz Worte gegeben. Ich hatte das Gefühl, daß du dich von meinem Schmerz berühren läßt, lange bevor ich dazu fähig war. Ich wußte immer, daß du zuhörst, selbst wenn ich gar nichts sagte.
Dann lachst du, ein Lachen, das aus dir heraussprudelt. Als wärst du ein Mädchen von zehn oder elf Jahren, das lange warten mußte, um es sich zu erlauben, auf diese Weise lachen zu dürfen.
Nachdem du gelacht hast, sagst du: Ich war irgendwie getrennt von mir. Und jetzt lebe ich mit dir in Trouville und fange an, zu mir selbst zu kommen.
Du betrachtest dich im Glas des Fensters wie jemanden, der dir ähnelt.
Du sagst: Ich schäme mich nicht mehr, einen Körper zu haben und Lust zu empfinden.
Du zögerst.
Du sagst: Ich kann mich endlich wieder schön finden. Du wartest. Dabei schaust du mich an.
Du sagst: Ich habe keinen Vater, keine Großmutter, keinen Großvater, nicht einmal mehr eine Mutter. Und ich lache wieder. Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war.
Du wiederholst den Satz einige Male. Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war.
Du hörst dich erleichtert an, als du es sagst.
Daß du dich schön findest und das Gefühl der Erleichterung breiten sich aus und umschließen deinen Körper wie eine zweite schützende Haut.
Du lachst abermals.
Du sagst: Ich bin kein Kind mehr.
aus: Lucia oder die Liebe
© RW; 2009, BoD
ISBN: 978-3839116906

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