Sonntag, 26. August 2012

Lisa, Elisa, Anabelle


Was einem sofort auffiel, wenn man Yorck Berliner ansah, war sein Gesicht. Das war nicht das Gesicht eines Mannes in seinem Alter. Man selbst kannte niemanden, der Ende Vierzig war und ein solches Gesicht hatte. Es war ein gegeißeltes Gesicht, weil es Leid und Schwäche nicht mehr verhüllte. Überraschenderweise traf einen aus diesem zerstörten Gesicht ein kraftvoller Blick, der etwas Zerschmetterndes hatte und dem man auswich, weil man glaubte, ihn nicht ertragen zu können.
Dieser Mann blickte tausendfach konzentriert auf eine Welt, die ihn zurückgewiesen hatte und weiter zurückwies, vor der er aber gleichwohl nicht zurückwich. Die Anspannung, unter der er deswegen stand, war ihm anzumerken, mitunter konnte man sie körperlich spüren.
Leute, die ihn kannten, sprachen nach Anabelles Tod den Medien gegenüber von seiner beängstigenden Grobheit, von einer alles verschlingenden Kraft.
Greta bezeichnete ihn in einer Talkshow als ein wildes Tier, mit der Begabung, einen anderen bis in sein Innerstes hinein zu sehen.
Sie sagte, daß man das, was er sei, nie vollständig erfassen könne, weil er hinter allem, was er zeige, gleichzeitig immer alles verberge.
Nach Anabelles Tod wurde auch der Text wieder aus den Archiven hervorgeholt, mit dem Yorck Berliner Jahre vorher auf den Artikel eines bekannten Journalisten reagiert hatte und der als die Affäre Daniela B. in die Zeitungsgeschichte eingegangen war.
In einem Artikel mit der Überschrift Der gefährliche Mann behauptete dieser Journalist damals, daß Yorck Berliner auch außerhalb seiner Bücher zu allem imstande wäre. Er beschrieb Yorck Berliner als unbarmherzig, hinterhältig und egozentrisch, ohne jedes Mitgefühl. Dessen ewiges Herumreiten auf dem Thema des sexuellen Mißbrauchs nannte er erbärmlich und unappetitlich. Er beklagte, daß es sich bei Yorck Berliner so anhörte, als ob jedes Kind mißbraucht würde, wo man doch bestenfalls von Einzelfällen sprechen könnte.
An einer Stelle schrieb er auch über die Täter, bezeichnete sie als bedauernswerte Kreaturen, als Schwerstkranke, die gerade deshalb Verständnis, Milde und Nachsicht verdienten.
In einem unbegreiflichen Furor erklärte er Yorck Berliner zu einem heimlichen Täter, der, statt sich selbst über Kinder herzumachen, mit seinen Büchern über eine ganze Gesellschaft herfiel und diese schlimmer mißbrauchte, als jeder andere Täter dies jemals mit einem Kind tun könnte. Gewiß wäre es kein großer Verlust, wenn irgend jemand ihn abknallte wie einen tollwütigen Hund.
Yorck Berliner hat dem Journalisten damals geantwortet. Obwohl der Artikel weniger als achthundert Worte umfaßt, ist er jedem, der ihn gelesen hat, unvergeßlich geblieben.
Am Beispiel der fünf Jahre alten Tochter des Journalisten beschreibt Yorck Berliner ausführlich den sexuellen Mißbrauch und begibt sich dabei ohne erkennbare Abgrenzung in die Rolle des Täters. Am Ende des Textes fordert er den Journalisten auf, ihm nunmehr mit Verständnis, Milde und Nachsicht zu begegnen.
Wenige Tage nach der Veröffentlichung lauerte der Journalist Yorck Berliner in Trouville auf und schlug ihn krankenhausreif.
Daraufhin kam es zu einem Prozeß, bei dem das Gericht den Journalisten wegen Körperverletzung zu einer beachtlichen Bewährungsstrafe verurteilte. Zudem mußte er vier Wochen später in seiner Zeitung über die bekannten Statistiken zum sexuellen Mißbrauch informieren und sich im Fernsehen öffentlich dazu erklären.
Noch vor dem Gerichtsgebäude beklagte der Journalist den bereitstehenden Kollegen und Kameras gegenüber, Yorck Berliner nicht getötet zu haben. Jemand wie er habe mit jedem Wort, das er schreibe, sein Recht auf Leben verwirkt. Woraufhin Yorck Berliner mit bewegungsloser Miene erklärte, daß er es nicht bedauerte, die Tochter des Journalisten nicht mißbraucht zu haben. Nur im Gegensatz zu diesem, wüßte er wenigstens, wovon er redete.
Eine bekannte französische Psychoanalytikerin, die in dem Film von Jacques Winter zu der Affäre Daniela B. und zu seinen Kriegsbüchern gefragt wurde, war der Ansicht, daß nichts mehr darüber hinwegtäuschte, daß Yorck Berliner abgrundtief einsam war, fast blind vor Schmerz und Wut, mit einer vom Umherirren und Sehen im Dunklen gesteigerten Empfindsamkeit.
Sie sagte, daß Yorck Berliner niemand sei, der ein Schwert brauche oder eine andere Waffe. Er habe seine Sprache, und er mache mit ihr, daß sie einem widerfahre.
Sie glaubte, daß er sich nacheinander seine mit Schrecken tätowierten Hautschichten abzog und sie ausrollte wie Wandteppiche, um sie mit beiden Händen an die Stirn der Welt zu nageln.
Sie sagte, daß das, was die Menschen an diesem Mann alarmiere, weder seine Bücher, noch dieser beunruhigende Mann selbst seien.
Womöglich sei man an einem Punkt angekommen, wo einem gar nichts anderes übrigbleibe als angesichts dieser Kinderwunden, die er einem vorführe, aufzustöhnen.

Was ich zuerst an Yorck Berliner geliebt habe, war sein brennendes Verlangen nach jemandem, der ihn in seiner tiefen Einsamkeit berührte. Sein Verlangen war wie eine Anrufung, ein Flehen, das um so heftiger war, je mehr er es verbarg.
Erst danach liebte ich seinen Mut, seine große Intelligenz, seine Zartheit, seine Schönheit, die Weite seines Blicks, seine Großzügigkeit und eine so reine Empfindungsfähigkeit, daß es mich jedesmal überwältigte, wenn ich ihrer gewahr wurde.
Er war wachsam und aufmerksam und kam nie aufdringlich daher. Manchmal nahm ich sein Begehren kaum wahr, so leise und zögernd enthüllte es sich. Seine Zärtlichkeit war schmerzlich, als müßte er sie zuvor erst wiederfinden, um sie hervortreten zu lassen. Doch wenn er mich berührte und seine Hände an meinen Armen, Schultern, Schenkeln, meinem Bauch und Rücken entlangstrichen, hatten diese Berührungen etwas Unumschränktes. Seine Hände, sein Mund und seine Zunge ließen keine Stelle und keinen Winkel meines Körpers aus. Dabei waren seine Berührungen wie ein helles Licht, mit dem er in mich hineinleuchtete und machte, daß das Leben mich nicht wieder verließ.
Es ergriff und erschütterte mich wie bei keinem anderen Mann.
Ich erinnere mich an seinen schlanken, geschmeidigen Körper, der auffallend empfindlich war und an dessen Oberflächen es keine Spuren von Zerstörung gab, nur diese überall gegenwärtige Zerbrechlichkeit, die mich verwirrte und beunruhigte wie kaum etwas anderes in meinem Leben.
Als ich ihn das erste Mal berührte, dachte ich an eine hauchdünne Hülle, die bei einer falschen Berührung zerplatzen würde. Seine Haut war noch erfüllt von zarten Spuren einstiger Liebkosungen und Berührungen, die vielleicht von Lisa oder Elisa stammten und die jene unsichtbaren und unhörbaren Zeichen der erfahrenen Mißhandlungen allmählich zurückzudrängen begannen. Sein Körper erschien mir schön und voller Kraft und Ausdauer durch die Widerstände, durch die er hindurchmußte.
Und dann, in manchen Nächten, wenn ich nach der Liebe im Bett meinen Kopf auf seine Brust legte, konnte ich dieses Kind schreien hören. Das Kind, das er einst war und dessen Körper er in seinen Kriegsbüchern wie eine Leinwand ausgebreitet hatte, um darauf die schrecklichen Dinge auszustellen, die ihm widerfahren waren.
Seit Yorck Berliner verschwunden ist, habe ich viel über ihn nachgedacht. Auch darüber, wie es möglich war, daß er Dinge sagte, die sich kein anderer zu sagen getraut hätte.
Ich denke, es war wegen dieses Kindes, das er ständig in sich aufspürte, etwa wenn er, wie in einem seiner Kriegsbücher, die Not und Grausamkeit in den Kinderzimmern von heute mit dem Leid und dem Schrecken in Bergen-Belsen in Verbindung brachte.
Er sprach von den neuen Lagern, wie er die Kinderzimmer nannte. Er skandierte den Tod der Kinder mitten im Leben, er nannte sie Menschenopfer. Überlebende, deren Kinderzimmer man zu Vernichtungslagern gemacht habe und ihre Kinderbetten zu Folterorten. Er sprach von dem Gift, das sie ausströmten, das Gift ihres Überlebens.
Ein solcher Gestank, wie er sagte, daß man sich abwenden müsse, weil man nicht ertrage, was man angerichtet habe.
Kein anderer hat sich derart aufs Spiel gesetzt. Ich glaube, daß auch niemand sonst die Ungeheuerlichkeit des Mißbrauchs eindringlicher geschildert hat.
Wie sehr ein Kind durch jede Art von Mißbrauch seiner Menschlichkeit entkleidet wird, dafür fand er Beschreibungen, die so maßlos waren, daß sie über jede bekannte Vorstellung hinausgingen. Darin war er unversöhnlich bis zum äußersten.
In einer Art wilder Entschlossenheit hatte er all diese Dinge gesagt, die die vorhandenen Wunden noch vertieften. Dabei konnte man ihm immer ansehen, daß er wußte, worüber er sprach.
Ich weiß nicht, ob er glaubte, auf diese Weise das Wesen der Gewalt enthüllen zu können. Ob er dachte, so eine Erklärung finden zu können für den, wie er sagte, massenhaften Mißbrauch von Kindern.
In der bedrängten und bedrängenden Präsenz seiner ganzen Erscheinung in ihrem gefühlten, wirklichen Schmerz erschien er einem wie eine Naturgewalt, die jäh und mit unglaublicher Heftigkeit über einen hereinbrach und der man kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Keiner hätte mehr sagen können, was seine ganze Gegenwart ausmachte. Waren es die Verletzungen, die er überlebt hatte, oder vielmehr, in Folge davon, die langen Jahre der Extraterritorialität, sein Leben an den Rändern, zuerst in der Verleugnung seiner Wunden, dann in der ungebändigten Begegnung und Auseinandersetzung mit ihnen.
Keiner hätte das noch aufzuklären vermocht. Es war so, daß er ein Wissen über die Gewalt hatte wie kein anderer. Und dies nur aus dem Grund: weil sie ihm zugestoßen war und er überlebt hatte.
Auf einer Veranstaltung des Kirchentags, wo Yorck Berliner als Redner eingeladen war und über die Folgen des sexuellen Mißbrauchs sprach, bestand er darauf, daß es um alles ging, um das ganze Grauen, um das ganze Leben, um die äußerste Schwelle zwischen Menschlichem und Unmenschlichem, und daß, wo Tausende betroffen waren, es immer um die ganze Menschheit ging.
Wie auch in seinen Büchern sprach er von den durch diese bestialische Überwältigung entehrten Körpern der Kinder, von ihren Verwundungen bis in die Sprache hinein. Er charakterisierte die Körper dieser Kinder als frevelhaft, ausgehöhlt, schwarz von Schuld, demoliert, zerbrochen, unansehnlich, häßlich, kalt und unfreundlich, als Körperscherben und Reste von etwas, das einmal schön war.
Die Körper von Kindern, wie er sagte, zart und voller Anmut. Und so verführerisch, daß keiner sich zurückhalten konnte, wie er schneidend hinzufügte: ein Verbrechen, diesen Körper nicht in Besitz genommen zu haben, ein so wundervoller Körper sei doch wie dafür gemacht, ihn zu entweihen.
Er nannte die Kinder das Spielzeug der Männer, das diese kaputtmachten und wegwarfen, wenn es älter wurde und keinen Spaß mehr mit ihm machte.
Diese abscheulichen Männer, wie er sagte. Männer, die es fertigbringen, daß sich die Augen der Kinder nicht mehr mit Tränen füllen können. Daß die Kinder nicht mehr weinen, obwohl sie vom Schmerz abgeschabt sind bis auf die Knochen.
Und dann rief er: Seht nur hin, so machen sie es, die Kerle, so lassen sie die Kinder der Welt abhanden kommen, noch bevor sie richtig in ihr ankommen können.
Mit einer Geste, einem Blick, den geballten Fäusten, einem übersteigerten und gleichzeitig herablassenden Mienenspiel oder einem wie tollwütig wirkenden Blick war er imstande, einen Schmerz, eine Agonie, eine ungeheure Trauer oder das Vibrieren eines geschändeten Kinderkörpers vor einem entstehen zu lassen, daß es einem bis in den eigenen Körper hinein weh tat.
Nachdem man ihm einmal begegnet war, war einem klar, daß ihm alles zuzutrauen war. Man wußte, daß er bereit war, jedem anderen die Haut abzuziehen, damit derjenige einmal fühlte wie er oder eines dieser Kinder, von denen er unablässig sprach.
Er war ohne jede Nachsicht, weder sich selbst, noch anderen gegenüber. Er war auch niemand, der auf Mitleid hoffte oder Gnade erwartete. Niemals hätte er darum gebeten, daß man ihn schonte. Damit nötigte er vielen Respekt ab.
Einige wünschten sich, er würde verschwinden, am besten für immer. Nicht wenige erklärten sich bereit, deswegen selbst Hand anzulegen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Nur er verschwand nicht. Ganz sicher kehrte er mit dem nächsten Buch zurück.
Als Jacques Winter ihm in dem Film einige Fotografien zeigt, auf denen zu erkennen ist, wie ein Mann einen Jungen sexuell mißbraucht, und ihn fragt, was man mit so einem Mann machen, ob man ihn therapieren solle, meint Yorck Berliner, daß man so einen Mann nicht mehr therapieren brauche.
Er sagt, daß die Wahrheit sehr viel schlichter sei. Schließlich müsse man diesen Mann einfach nur töten.
– Denn wer will wirklich mit einem solchen Mann zusammenleben. Mit diesem elenden Mann, dem es in über dreißig Jahren nicht gelungen ist, eine solche Last abzulegen, und den es nach wie vor inspiriert, so etwas mit einem Kind zu machen.
In dem Film sieht man zwei Dinge: daß Yorck Berliner das, was er sagt, völlig ruhig sagt, wie nebenbei, und wie bestürzt Jacques Winter über das von ihm Gesagte ist.
– Wenn es sich dabei aber um den Vater des Jungen handelt, wenn der Vater der Täter ist.
Ob er auch dann dafür sei, ihn zu töten, will Jacques Winter von ihm wissen.
– Erst recht, wenn es der Vater ist, sagt Yorck Berliner, ohne daß sich seine Stimme verändert.
Und einen Atemzug später, als ob er ein Gesetz verkündet, erklärt er, daß diese Verbrechen an Kindern Kriegsverbrechen sind.
– Die Väter, sie sind die Kriegsverbrecher. Die Väter, die Männer, sie sind es, die den Kindern tausendfach den Tod bringen. Wenn man sich für die Kinder entscheidet, hat man keine andere Wahl. Man muß diese Männer töten, auch die Väter. Vor allem sie.
Und während die Kamera Yorck Berliner nicht losläßt und in einem scheinbar endlosen Moment sein Gesicht gefangennimmt, sieht man ihn fassungslos bis zur Stummheit im unverhofften Gewahrwerden seiner eigenen Anwesenheit und dessen, was er gerade gesagt hat.
Der Film von Jacques Winter ist voll mit solchen Aussagen, die wie die Spuren eines Wahnsinnigen wirken. Manches von dem, was Yorck Berliner sagt, wirkt scheinbar zusammenhanglos oder folgt einer Ordnung, deren Prinzipen niemand außer ihm kennt. Zeitweise hat man das Gefühl, daß er die Sätze regelrecht aus sich herausreißt. Was er sagt, ist derart heftig und von einer solch ungezügelten Roheit, daß es einen niederschmettert, noch Tage, nachdem man es gehört hat.
Gleich darauf kann man ihn Worte und Sätze sagen hören, die er mit einer beschwörenden Stimme vorträgt, fast wie ein Gedicht, in dem die Worte auf etwas Vergessenes verweisen, das sich aber niemals vollständig entfaltet.
Dort, in seinem Abgrund, sagt er zu Jacques Winter, wenn er wie stumpfsinnig aus den Fenstern hinaus aufs Meer starre, auf das Unsichtbare dahinter, oder wenn er schreibe, rücksichtslos, intelligent, brutal, zärtlich, sei er einer, der vergessen habe, was es bedeute, ein Mensch zu sein und sich in seinem Körper und im Umgang mit den Dingen auszukennen.
– Ein gefährlicher Irrer, in dessen innerem Aufbau alles durcheinandergeraten ist.
Er sagt, daß er zitternd all diese Erinnerungen durchquere, die nicht mehr nur seine seien, und daß er versuche, sie auszulöschen.
– Ich sehe all diese Kinder unter einem bleifarbenen Licht, das von dem Schwarz ihrer zertrümmerten Körper durchzogen ist, ein wahnsinniges Schwarz, das magisch zu mir zurückkehrt und das wie der verdammte Tod um mich herum ist.
Er sagt, daß er wie einer sei, der sich verlorengegeben habe, und der schreibe, in einer tiefen Nacht, um sich gerade nicht verlorenzugeben, um wieder dort herauszufinden.
– Und am Ausgang dieser Nacht stehen all diese Kinder und zeigen mir ihre Verwundungen.
An einer Stelle in dem Film spricht er von Anabelle und sagt leise, daß keiner sie haben wollte.
– Ganz am Anfang, gleich nach der Geburt, hat man sie weggeschafft.
Ihm ist anzusehen, daß er selbst kaum glauben kann, worüber er gleich sprechen wird.
– Stellen Sie sich das vor: Anabelles Mutter hat entschieden, sie nicht am Leben zu lassen. Ihre eigene Mutter hat das getan.
Dann fragt er Jacques Winter, wie man von so einer sprechen soll.
– Ist das die Mutter von Anabelle oder nur eine fremde Frau, die sie ausgetragen und entbunden hat, eine biologische Mutter, wenn man so will.
Er sagt, daß es ausgeschlossen sei, hier überhaupt von Geburt oder Entbindung zu sprechen.
– Herausgepreßt, mit einer Gartenschere abgetrennt, in eine Tüte gepackt und weggeworfen.
Er sieht eine Mischung aus Abneigung, Ekel und Angst bei dieser Frau. Er nennt mögliche psychische Defekte, führt das Milieu an, vermutet eine bestimmte Herkunft. Auch, daß man sie mißbraucht und mißhandelt hat, als sie ein Kind war.
– Eine Frau nimmt diesen kleinen Menschen, wickelt ihn in Decken und geht mit ihm durch eine Winternacht. Sie bleibt vor einem Müllcontainer stehen, schiebt den Deckel zurück und wirft das Bündel hinein.
Er sagt, daß er sie verstehen könne. Er sehe ihre innere Not. Er könne sich gut in sie hineinversetzen.
– Sie müßte nach einem Ausweg gesucht haben. Sie müßte verzweifelt gewesen sein, in einem verletzten Körper, am Ende ihrer Kräfte.
Er glaubt selbst nicht daran, daß sie das mit dem Kind jemals hätte auf sich nehmen können, ohne selbst daran zu zerbrechen.
– Doch muß sie nicht von einer entsetzliche Angst bedrängt worden sein? Fiel sie nicht, als sie zurückging, häufig in den Schnee, blind vor Tränen? Und später, als sie wieder in ihre Wohnung kam, war es da nicht so, daß die Decke sich senkte und diese Frau sich die Lippen blutig biß vor Scham? Hat sie nicht geschrien, so sehr, daß ihre inneren Organe fast zersprungen sind?
Er glaubt, daß sie, wenn sie den Tod ihres Kindes nicht unbedingt absichtlich wollte, ihn doch zumindest billigend in Kauf genommen hat.
– Wer war sie nur, diese unbekannte Frau, für die der Körper ihres Kindes keinen Wert hatte, keinen Geruch? Wer war sie, daß die diesen Kinderkörper nicht erkennen und ihn nicht lieben konnte.
Er sieht Jacques Winter hilflos an.
Man sieht, daß seine Hände zu Fäusten geballt sind.
– Sie hat gar nichts verstanden. Sie hat nicht begriffen, wie sehr diese im Körper ihres Kindes wiedererschienene Seele sie gebraucht hat.
Er macht eine ablehnende Handbewegung und sieht dann zu Boden.
– Alles hing von ihr als Mutter ab, um einen geschützten Ort zu schaffen. Sie war die wichtigste Person, um dieser Seele, die lange umhergeschweift und die von irgendwoher aus der Zeit in dieses Kind gekommen ist, um sich mit seinem Körper zu vermischen, einen Platz in der Welt zu geben, einen unsterblichen Sinn.
Als er wieder aufsieht, haben sich seine Augen mit Tränen gefüllt.
– Und sie hat diesen Körper weggeworfen. Wie eine Tüte mit Müll.
Obwohl er den letzten Satz wütend ausgestoßen hat, spürt man seine ganze Traurigkeit.
– Es läßt sich nichts weiter sagen über diese Frau.
Er sagt, daß man nicht zur selben Zeit für sie und für das Kind sein könne.
– Man muß sich entscheiden, das ist alles, was man darüber wissen muß.
Danach spricht er auch über die ganze Verachtung derer, die einmal entschlossen waren, Anabelle zu retten und ihr beizustehen und die ihr dann, wie er mutmaßt, ihre Hilfe versagt hatten, als es am nötigsten war.
– Keiner hat Anabelle geglaubt, als sie von den schrecklichen Dingen erzählte, die sich in der Adoptivfamilie ereignet haben.
Er erwähnt die gesellschaftliche Stellung des Adoptivvaters.
– Der Universitätsprofessor, diese Stütze der Gesellschaft.
Er stößt die letzten Worte mit großer Heftigkeit hervor.
– Dieser Kerl war ihr in jeder Hinsicht überlegen.
Dann behauptet er, daß zuletzt kaum noch einer begeistert darüber gewesen ist, daß Anabelle überlebt hat.
– Die Unerschrockenheit, die all diese Leute an den Tag gelegt haben, als Anabelle noch ein Säugling war, ihr ganzes Mitgefühl, ihre Fürsorge, das alles schlug in eine furchtbare Abneigung um, die zunahm, je älter Anabelle wurde.
Man merkt, wie erstaunt er darüber ist, daß dieselben Leute, die Anabelle einen Namen gaben, als sie noch ein Säugling war, sich hinterher so verhielten.
– Sie haben sich um Anabelle gekümmert, als sie ein Kind war, und danach, als es schwierig wurde mit ihr, war es ihnen zuviel. Sie waren wie diese Frau, die sie entbunden und anschließend weggeworfen hat.
Er läßt keinen Zweifel daran, daß er es unmenschlich findet, einem Kind Gefühle und Gedanken als scheinbar unvermeidliche Gewißheit einzuprägen und ihm später alles wieder herauszureißen.
– Weil sie sich angeblich nicht an die Regeln gehalten hat. Weil sie auffällig war. Ich meine, wie hätte sie sich an die Regeln halten sollen, wo man ihr gegenüber alle Regeln gebrochen hat, von Anfang an. Wie hätte sie da nicht auffällig sein sollen?
Dann spricht er über die Wirklichkeit der Straße.
Er macht klar, was es heißt, ohne Bleibe zu sein. Was dies bedeutet, für ein Kind.
Er weiß alles darüber, bis ins Detail.
Und dann spricht er wieder von Anabelle. Von ihrer Unterbringung in einem Heim für sozial gefährdete Kinder.
– Und danach wieder die Straße. Davor die Übergriffe durch diesen Kerl, den Adoptivvater, der jahrelang sein eigenes Sexualobjekt aufgezogen hat.
Es ist zweifellos sein unglaubliches Talent, daß, während er spricht, Anabelle vor einem entsteht, so als befände man sich mit ihr in einem Raum. Man glaubt wirklich, sie zu sehen, während er von ihr spricht. Man kann sie neben sich atmen hören.
– Zuerst war Anabelle Abfall für ihre Mutter. Und dann war sie Abfall für diesen Kerl, der sie zur Frau gemacht hat, und das in einem Alter, in dem andere Kinder noch mit Puppen spielen.
Seine Stimme wird laut.
– Sie war die Tochter von niemandem. Sie war immer nur Abfall.
Er sagt auch etwas zu den Männern, die ihr später, als sie auf der Straße lebte, Quartier angeboten haben. Er spricht von ihnen, als würde er sie kennen.
Er nennt sie die furchtbaren Männer.
– Die Macht dieser Männer über Anabelles junges Leben, das ist nicht einfach nur obszön. Das ist ein Verbrechen, und zwar eins der bodenlosen Sorte.
Er sagt, daß Anabelle, nur weil sie sich geweigert habe, ihr zwei oder drei Tage altes Leben in einem Müllcontainer zu vollenden, doch deshalb nicht wie geschaffen dafür sei, das Opfer der Männer auf deren Fleischmärkten zu werden.
– Man kann nicht ständig die Verbrechen der Vergangenheit beklagen und die Erinnerung wie eine Wollust betreiben und zur selben Zeit die Augen vor den Verbrechen verschließen, die sich gerade ereignen.
An der Stelle unterbricht ihn Jacques Winter und fragt, ob er seine Haltung zu dem Mahnmal für die ermordeten Juden in Berlin geändert habe.
Yorck Berliner schüttelt den Kopf.
Man merkt ihm an, wie überflüssig ihm diese Frage vorkommt.
Seine Antwort kommt widerwillig.
– Ich habe damals gesagt, daß ich glaube, daß sich ein solches Mahnmal hervorragend dazu eignet, die Erinnerungen an etwas, das man mit ihm angeblich beschwören will, gerade erst zu verdecken. Auch, daß ich solche Zeichen nicht brauche, um mich an dieses Verbrechen zu erinnern.
An dieser Stelle spricht er im Film zum ersten Mal über Lisa.
– Nachdem ich mit Lisa in Auschwitz war, hat sie zu mir gesagt, daß Auschwitz in jedem Kiesel ist. In jedem Glas Wein. In den Rücklichtern der Autos. Im Rot des Sonnenuntergangs. In der Zärtlichkeit eines Kindes für ein Tier. In den grauen Schatten, die die Sonne jeden Morgen vertreibt, wenn sie über der Stadt erscheint. In den erhobenen Kaffeetassen der Gäste in den Cafés. In den frisch geteerten Straßen, wenn es auf sie regnet. In dem Stottern eines Jungen, der zum ersten Mal in seinem Leben versucht, etwas mit einem Mädchen anzufangen. In den Filmen und Liedern, die von der Liebe handeln und davon, daß man zum Leben verurteilt ist. In den Kissen und Laken der Liebenden und in ihrem Haar und auf der Oberfläche und in der Wärme ihrer Körper. Und dann noch in den Büchern, zwischen den Sätzen und Buchstaben. Und in den Kindern armer Leute und in den Kindern reicher Leute. Überall in den Schatten, die in Hausfluren hängen und in Hinterhöfen und auf Treppen. Auch in den hellen und dunklen Nächten. In jedem Herzklopfen, jedem Weinen und jedem Winken. In all diesen gelingenden und verfehlten Leben. In jeder Krankheit. Eben in allem. Überall hat Lisa Auschwitz gesehen. Und sie hat gesagt, daß das so ist, weil das Entsetzen eine Tür hat und daß sie diese Tür in Auschwitz gesehen hat und daß es aus dieser Tür heraus blutet und daß Auschwitz macht, daß sich diese Tür nie wieder schließt.
Er redet schnell, mit einer Stimme, die wie abgewetzt klingt. Als könnte es bald zu spät sein. Oder als wollte er nicht zu lange bei Lisa verweilen. Als wäre da irgendwo ein Riß in ihm und er hätte große Angst, daß sein Leben durch ihn verschwindet, sobald er länger über sie spricht.
– Ich habe nur gesagt, daß es unbarmherzig ist gegenüber den Kindern, die heute um ihr Leben kämpfen und an ihren Träumen sterben.
Er erwähnt die Debatten um das Mahnmal, die Berichte darüber im Fernsehen und daß die Zeitungen über Monate voll davon waren.
– Ich habe damals gefragt, in welchem Verhältnis diese ganzen Polemiken über die nie heilenden Wunden der Vergangenheit und ihrem künftigen Zeichen aus Stahl und Beton in Berlin zu den Wunden stehen, die den Kindern geschlagen werden, die in diesem Moment nackt auf dem Bauch vor denen liegen, die ihre Körper entweihen.
Man sieht, wie er seine rechte Hand zur Faust ballt und sie mit seiner linken Hand umschließt.
– Ich habe erklärt, daß die Zeit keine Wunden heilt, die der Juden schon gar nicht. Und daß die Zeit eine Bestie ist, die einem nicht die Gelegenheit läßt, nachdem man sich den vermeintlich wichtigen Dingen gewidmet hat, anschließend die Kinder zu betrachten und sich zu wünschen, etwas anders gemacht zu haben.
Als würde in diesem Moment etwas von ihm Besitz ergreifen, das gleichzeitig existiert, neben ihm und in ihm, etwas, das er nicht erkennen kann und dem er entgegenläuft, um es zu verstehen, blickt er zum Fenster hinaus und schweigt lange.
Und dann, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, sagt er:
– Ich habe zu jener Zeit gesagt, daß dieses Stillschweigen über das Leiden der Kinder, die Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens brauchen, um es zu überwinden, hörbar werden und aus dem dunkelsten Schrecken gegen dieses Mahnmal schlagen wird, wie das Meer gegen die Felsen.
Mit schleppender Stimme erklärt er die Kinder zum Zentrum des Problems, jeden Problems.
Er sagt, daß seine Haltung hierzu unwiderruflich sei.
Er spricht von der unbekannten Nacht der Kinder, die diese verschlungen hat, von der erschöpfenden Angst der Kinder, von ihrer Einsamkeit und der äußersten Verzweiflung.
Abermals hebt er die Gefahr hervor, in der sie leben. Er erwähnt die zerrissene Diktion ihrer Sprache, ihr schreckliches Schweigen, die Schreie in ihren Körpern, deren Echos ungehört verhallen.
– Keine ihrer Äußerungen beruht noch auf einem Bezugssystem, welches wir kennen. Vielleicht sind sie schon tot, in jedem Fall sind sie verloren.
In dem Moment bemerkt man, wie er in diese Wahrheit stürzt, die er, würde man ihn danach fragen, nicht näher erläutern könnte.
Man glaubt, die Ströme seiner Wut zu spüren, und sieht, was er aufbringen muß, um sie zu bändigen. Man kann sehen, daß er das ganze Ausmaß der Bedrohung, die er empfindet, laut herausschreien möchte.
– Wenn in Berlin in ein paar Jahren dieses Mahnmal errichtet sein wird, werden Tausende von Kindern in ihrem Leid verschwunden sein. Obwohl sie noch am Leben sind, werden wir sie nicht wiederfinden. Es wird so sein, als befänden sie sich auf dem Grund des Meeres, in dieser tiefen Einsamkeit. An manchen Tagen werden sie nach uns rufen. Wir werden den Nachklang ihrer Rufe hören, ohne zu verstehen. Und irgendwann werden sie verstummen.
Er blickt schweigend zum Fenster hinaus und gibt sich dem hin, was er dort sieht, bewegt sich innerlich darauf zu.
Man gewinnt den Eindruck, er weiß selbst nicht mehr genau, worüber er spricht.
Er sagt, daß er annehme, daß das Mahnmal in Berlin die Kinder verschlungen haben werde. Man werde später bemerken, daß er recht gehabt habe.
– Und jene, die ihre Ideen zu dem Mahnmal in Umlauf brachten und sie zirkulieren ließen und damit den traurigen Gesang der entehrten Körper der Kinder und deren äußerste Verzweiflung von sich fernhielten, werden ihren Beitrag hierzu geleistet haben. Das ist das, was ich gesagt habe: indem sie das Mahnmal nicht angefochten haben, haben auch sie diese Kinder angetastet.
Später versucht er mehrmals von dem für Anabelle verwirrenden Abgrund zu sprechen, den ihr Adoptivvater ihr bereitet hat.
– In dem Moment, als er das erste Mal zu ihr kam, hat er ihr Kinderzimmer zu einem Abhang gemacht. Als er sie hinterher beruhigte, indem er ihr sagte: du bist ein so braves und hübsches Mädchen, mein Mädchen, es ist nichts passiert. Als er ihr das sagte, in der ersten Nacht, in der er bei ihr war. Und als er ihr das dann immer wieder sagte, wenn er bei ihr war. Auch morgens, danach: ein so braves und hübsches Mädchen, mein Mädchen, dem nichts passiert ist. Und dann versuchte Anabelle so zu tun, als ob nichts passiert war. Es ist nichts passiert, sagte sie sich. Sie sagte sich: ich bin ein braves und hübsches Mädchen, zu dem jede Nacht sein Adoptivvater kommt. Ich glaube, daß sie wirklich versuchte, ein solches Mädchen zu sein. Und dann, als die Verwirrung zu groß wurde für sie, versuchte sie das Gegenteil. Sie versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie sich klarmachte, daß etwas passierte und was es war. Sie hörte auf zu versuchen, ein braves und hübsches Mädchen zu sein. Sein Mädchen, damit war jetzt Schluß. Sie wurde ein böses Mädchen. Nur das störte ihn nicht. Er kam trotzdem jede Nacht. Und nun nahm er sie wie ein böses Mädchen, roher, grausamer und mitleidloser.
Er spricht jetzt völlig ruhig, legt die Sätze in den Raum, wo sie unendlich warten, um jemanden zu erreichen.
Er handelt die Adoptivmutter in einem einzigen Satz ab, nennt sie eine tote Frau und ihre Liebe zu diesem Mann unheimlich, drückend, ungehörig.
– Eine Liebe wie eine permanente Mißhandlung Anabelles und ihr größtes Unglück.
Er erklärt Anabelle zu einer Gladiatorin, die nur bis zu einer gewissen Grenze etwas von ihrem Leben versteht.
– Sie schuf sich eigene Räume, in denen sie bestimmten Dingen den Vorzug gibt. Und es gibt andere Räume in ihr, unzugängliche Räume, die miteinander verschachtelt sind. Räume mit engen Durchgängen und unpassierbaren Gäßchen.
Er vermutet Schwellen in ihr, die sie niemals überschreitet.
Er sagt, daß ihr Körper immer gespannt sei, in einem anhaltenden Alarmzustand. Sie höre mit all ihren Muskeln und Nerven, mit allem, was zu ihr gehöre.
– Ein einziges großes Ohr, hinter dem sie sich verbirgt und alles empfängt, was draußen geschieht, ohne immer zu verstehen, was das Geschehene bedeutet.
Mit großem Respekt spricht er von Anabelle als einer erfahrenen Kämpferin, die ihre alten Wunden öffnet und sie dann offenhält, um sicher zu sein, daß der Schmerz, der ihre Wachsamkeit schärft, nie mehr nachläßt.
Und dann sagt er plötzlich, daß er dennoch glaube, daß sie ein Kind sei, das genug habe von den harten Klängen der Welt.
– Anabelle wünscht sich nichts mehr, als daß jemand kommt und das Dröhnen und Donnern und die Kälte aus ihrem Kopf und ihrem Körper herausnimmt. Jemand, der sie weich macht, weich und sanft, bevor sie von dem Lärm in sich zum Schweigen gebracht wird. Bevor sie daran erstickt.
Yorck Berliner sagt zu Jacques Winter, daß jemand Anabelle mit Worten gegenübertreten müsse, die sämtliche Bedeutungen haben, die sie noch nicht kenne. Worte, die wie ein Lied seien, von dem sie verzaubert werde, sobald sie die ersten Töne höre.
– Eine Melodie, in die sie sich vertiefen und zu der sie tanzen kann, bis der Lärm in ihr nur noch ein sich mehr und mehr entfernendes Hintergrundrauschen ist und die Klagen ihres Körpers von einem Bogen aus Wärme umhüllt werden und verstummen.
Er bezeichnet Anabelle als ein Kind, das sich auf der Suche nach dem Kind, das sie nie sein durfte, in den Körper einer Hure verirrt hat und jede Nacht von einem anderen Mann getötet werden durfte.
Wenn man Yorck Berliner reden hört, möchte man vor Scham die Augen senken und sie nie wieder erheben. Man möchte die Worte, die er sagt, mit seinem Leben bezahlen. Man möchte, daß es seinen Worten gelingt, das eigene Herz zu verletzen, um es neu zu erschaffen.
In diesem Moment hört man, daß jemand leise den Raum betritt.
Gleich darauf tritt Anabelle ins Bild. Sie kniet sich neben den Stuhl, auf dem er sitzt und hört aufmerksam zu, was Yorck Berliner sagt.
Abgesehen von ihrer engelhaften Schönheit, die einem angst macht, wirkt sie wie flüchtig, kaum zu fassen, so als wäre sie gar nicht da.
Sie sagt kein Wort, als Yorck Berliner ihre Hand nimmt, noch gibt sie sonstwie zu erkennen, daß sie es überhaupt bemerkt.
Nur wenn man sich zwingt, nicht auf das zu hören, was er sagt und genau hinsieht, kann man den Moment erkennen, wo sie sich zeigt.
Es ist jener Moment, wo sie hinter ihrer Schönheit hervortritt und seine Berührung erwidert, indem sie ihren Daumen über seine Finger gleiten läßt.
Es gibt Szenen in diesem Film, wo Yorck Berliner mit Anabelle zu sehen ist. Wo Anabelle ungreifbar wirkt, unvorhersehbar, so als könnte sie im nächsten Augenblick alles tun, so als wäre alles möglich.
Und dann die Art, wie er ihr begegnet, mit einer Sanftheit und Zärtlichkeit, die voller geheimer Echos ist, auf die sie ihm antwortet, bis man nur noch möchte, daß alles, was jemals gut ist, dort ist, bei ihr, diesem Mädchen, und bei diesem Mann.

Wenn ich den Film heute wiedersehe, frage ich mich, wie Jacques Winter es angestellt, was genau er getan hat, damit wir wie durch eine jäh geöffnete Tür, von der wir vorher nicht einmal bemerkten, daß es sie gab, Yorck Berliners ganze Verwundbarkeit erkennen. Daß wir ihn mit Anabelle sehen, wie er sich ihr nähert, mit dieser unglaublichen Rücksicht, wie er auf sie achtgibt, in jeder Minute. Und seine Zärtlichkeit ihr gegenüber, wobei man beobachtet, daß sie ihr zustößt, und die einen deswegen sofort beunruhigt, weil man das Gesehene für sich nicht auflösen kann.
Es sind Momente, in denen er wie losgelöst von sich wirkt, ganz so, als würde er aufatmen. Als wäre er aus sich herausgetreten, klein wie ein Kind, das sich verlaufen hat, dort, am Strand, gegenüber dem Meer, wo es auf jemanden wartet, der es an der Hand nimmt und zu sich selbst zurückführt. Jemand wie Anabelle, die einem in diesen Szenen nicht wie nach einer Schlacht erscheint, sondern so jung und unverletzt, daß man ihr zulächeln möchte.
Vielleicht ist es zuerst dieses Gefühl, das man die ganze Zeit über hat, während man den Film sieht. Das Gefühl, daß die Kamera Yorck Berliner preisgibt. Daß sie seinen, durch die Gewalt eingeschriebenen Schmerz aufreißt.
Wenn einem dies endlich auffällt, ist es bereits zu spät. Denn in diesem Moment ist er schon eine geraume Zeit nicht mehr in den Kriegsbüchern eingeschlossen, nicht mehr darin eingesperrt.
Die Kamera hat ihn geöffnet und bewirkt, daß er sich dem überläßt, diesem Sichöffnen und der Welt, der Verwirrung über das Neue, das er in sich selbst und an der Welt wahrnimmt.
Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, daß er sich mit der Kamera verbündet, aber man bemerkt sein Einverständnis.
Genaugenommen ist es erst die Kamera, die ihn erschafft. Die Kamera bringt seinen Körper und sein Gesicht hervor, den Körper und das Gesicht des Schriftstellers, die einem entgegenkommen, ohne daß man sie je wieder vergessen könnte.
Dieses Gesicht mit seiner immer frischen Verzweiflung, seiner gleichzeitigen Zartheit, nicht darauf gefaßt, auf nichts, vor allem nicht auf diese Welt. Ein Gesicht, den täglichen Wiederholungen der Kindheit ausgesetzt wie einer Außenwelt, das einem zeigt, daß die Zeit vergeht und wie sie zur selben Zeit nicht vergeht. Und sein Körper, dieser Körper, der zwar an Ort und Stelle vorhanden ist, aber eher wie ein hermetisch abgeriegelter schwarzer Block, stumm und neutral, diesen Ort besetzt haltend, von uns getrennt, unerreichbar. Ein Körper, der die Sätze braucht, die Wörter, um sich zum Sprechen zu bringen, um die Getrenntheit uns gegenüber aufzuheben.
Und dann nähert sich die Kamera diesem Gesicht und diesem Körper und öffnet sie mit unendlicher Langsamkeit. Nach und nach erfaßt sie das darunterliegende, nach allen Seiten Offene und bietet Platz für etwas, das sich gerade verändert, in dieser Sekunde, für etwas Künftiges, von dem man noch nichts sagen kann.
In manchen Szenen wirkt dieses Offene wie eine Gnade, als ob es möglich wäre, daß Yorck Berliner im nächsten Moment ein anderer Mensch werden könnte, und dann wieder so zerbrechlich, als könnte alles jeden Augenblick zu Staub zerfallen.
Wenn ich Yorck Berliner in dem Film wiedersehe, wie er dort steht, an den großen Fenstern seiner Wohnung, und dann seine Stimme höre, wie sie die geschriebenen Worte sagt, den Text der Kriegsbücher. Wenn ich höre, wie diese Stimme spricht, ruft, verharrt, skandiert, während der Blick der Kamera ihn verläßt und den undurchdringlichen Horizont am Ende des Meeres einfängt. Wenn ich die von ihm gesagten Worte von dort zurückkehren, sie sichtbar werden sehe und spüre, wie sie mir entgegenprallen, bis ich glaube, an dem, was sie in mir bewirken, zu sterben, empfinde ich etwas, worüber ich kaum zu sprechen vermag.
Es ist das alles. Etwa, wenn der Blick der Kamera in sein Zimmer fällt. Auf den Ort, an dem er schreibt, mit Blick auf die Weite des Meeres. Auf nichts, wie man ihn sagen hört.
Zu sehen, wie er es mit der Angst bekommt. Ihn weinen zu sehen, seine Traurigkeit, wie bei einem Hund. Mit welcher Brutalität er die Worte aus sich herausschleudert. Ihm dabei zuzuhören, wenn er über seine Kindheit spricht, die spürbar wird, als nähme sie weiter zu, als könnte nichts sie jemals unbrauchbar machen. Als wollte er sagen, daß es danach nichts mehr gab, keine Fluchtwege mehr. Ein Wirbelsturm, und du brauchst dich nicht mehr umzugucken. Alles ist kaputtgegangen, niedergerissen, zerstört. Und in dem Moment zu erkennen, wie sehr er gelitten haben muß, um zu schreiben, was er geschrieben hat. Plötzlich seinen Schmerz zu durchschauen und zu verstehen, daß er ihn fortwährend ertragen hat, ohne sich von ihm zu entfernen. Daß er sich lange geweigert hat, ihn herauszuschleudern. Und was es letztendlich war, was sich in Wut umgewandelt hat, in Unerbittlichkeit, in diese nur schwer auszuhaltende Militanz, nämlich als er verstand, daß es nicht nur ihm widerfahren war, dieses Martyrium, daß dies überall geschah, auf der ganzen Welt, und daß es sich in genau der gleichen Weise entwickelte wie bei ihm. Nur daß er, im Gegensatz zu all den anderen, die ihm so ähnlich waren, in seinen Kriegsbüchern diese grausame, an den Kindern verübte Liebe auf eine Weise vibrieren ließ, daß man glaubte, an einem Bahnübergang zu stehen und ein nicht enden wollender Zug an Grausamkeit würde an einem vorbeiziehen. Und daß er nicht etwa schrieb, um sich am Leben zu erhalten, daß es nicht allein das war, sondern daß er der Gesellschaft den Prozeß machte. Daß er den Leuten mit jedem weiteren Kriegsbuch das Fell abzog oder es für lange Zeit unbrauchbar machte. Keine Lügen mehr, das Kind ist tot. Aber es lebt doch, außer sich! Wie ist das möglich? Wer hat sich des Kindes bemächtigt, es zum bluten gebracht? Was ist ihm widerfahren? Was hat man in seinen Körper eingeschrieben, was versucht auszulöschen durch seinen Tod?

Es gibt diese eine Szene in dem Film von Jacques Winter, die mich von allen am meisten berührt hat.
Sie beginnt damit, daß man Yorck Berliner sieht, der an einem der Fenster seiner Wohnung steht.
Die Kamera verweilt auf seinem Rücken, etwa solange, bis man etwas von dieser enormen Einsamkeit wahrnehmen kann, in der dieser Mann lebt. Bis man spürt, wie müde er ist, wie sehr er sich nach Geborgenheit sehnt, nach Ruhe, nach einem Ende seiner großen Müdigkeit.
Und dann holt die Kamera ihn näher heran, bis man bemerkt, daß er weint.
Und man hört das Meer und den Regen.
Und dann sieht man, wie Anabelle das Zimmer betritt.
Still steht sie in der Nähe der Tür, die sie kurz zuvor leise geschlossen hat, und betrachtet ihn eine Weile.
Dann sieht man, wie sie langsam zu ihm hinübergeht.
Sie muß in den Regen geraten sein.
Man erkennt es daran, daß ihr Haar naß ist, auch ihre Kleidung.
Sie stellt sich neben ihn und nimmt seine Hand.
Man kann nicht erkennen, ob es von ihm bemerkt wird.
Am Boden, zu ihren Füßen, bildet sich eine kleine Pfütze.
– Dein Haar ist ganz naß, sagt er irgendwann, als er sie ansieht.
Anabelle deutet aus dem Fenster, wo man sieht, daß es aufs Meer regnet.
– Der Regen, sagt sie.
Sie lächelt, ihm gegenüber weiter aufmerksam.
Er zieht seine Hand aus ihrer.
Dann geht er hinüber zum Schrank und holt ein rotes Frotteetuch hervor.
Als er zu Anabelle zurückgeht, sieht man, daß sie auf dem blauen Sessel sitzt.
Mit einem Mal wirkt sie erschöpft.
– Warum hast du geweint?
Er antwortet ihr nicht.
Man weiß nicht, ob er sie gehört hat.
Dann sieht man, wie er hinter sie tritt und damit beginnt, ihr Haar trockenzureiben.
Anabelles Augen sind geschlossen.
Plötzlich hört er damit auf, man weiß nicht warum.
Seine Hände liegen ruhig auf ihrem Kopf.
Dann hebt sie ihre Hände und berührt seine.
– Wenn ich mich so fühle, weine ich auch oft, nur ich mache es so, daß es niemand sieht.
Sie legt ihren Kopf an seinen Körper.
Und es vergeht Zeit.
– Ich muß aus den Kleidern raus.
Man sieht Anabelle aufstehen, sieht, wie sie beginnt sich auszuziehen.
Er schaut zur Seite.
– Du bist der einzige, der sieht, wenn ich in mir weine.
Die Kamera fängt ihren nackten weißen Körper ein, die Narben darauf.
– Sieh mich schon an, es ist doch nicht so schlimm.
Man kann ihm ansehen, daß er ihr nicht glaubt. Daß er die genaue Bedeutung der Narben für sie längst entdeckt hat. Daß er alles darüber weiß.
Man sieht nun, wie er an sie herantritt. Wie er, vielleicht wie ein Blinder, beginnt, ihren Körper zu streicheln, die Narben. Die auf dem Bauch, der Brust, dem Rücken, dem Schlüsselbein, den Oberschenkeln.
Für einen kurzen Augenblick glaubt man, die Wärme ihres Körpers zu spüren. Sein Mitempfinden, dort, in seinen Fingern, die zittern, als er sie berührt.
– Du schaust mich gar nicht an.
Daraufhin sieht man, daß er sie anblickt.
Er blickt abwechselnd in ihr Gesicht, in ihre Augen, auf ihre Narben, über die er weiter streicht, als wollte er sie vorsichtig ausradieren.
Unter seinen Blicken schließen sich Anabelles Augen.
– Bei dir kann ich meine Augen zumachen.
Nach einer Weile öffnet sie ihre Augen wieder und bittet ihn, sich mit ihr aufs Bett zu legen.
Man sieht Anabelle auf das Bett zugehen, sieht, wie er ihr folgt, wie er sich zu ihr legt.
Dann liegt sein Kopf auf ihrem Geschlecht.
Ihre Hände fahren durch sein Haar.
– Du hast vorhin an Lisa gedacht.
Sie fragt, ohne eine Antwort zu erwarten.
Ihre Hände sind weiter in seinem Haar.
Man sieht, wie er die Lage seines Körpers verändert, um ihr Berührung zu erwidern.
– Das war ein großes Unglück für dich.
Anabelle und er schauen einander lange an.
Es bewegt einen, wenn man bemerkt, daß sie ihren Blicken niemals ausweichen.
Er schweigt.
Man hört, wie sie ihm etwas über seine Augen sagt.
Sie spricht von der Schönheit seiner Augen.
– Wärst du jünger, ich könnte mich in dich verlieben.
Man wird von diesem Satz überrascht.
Man weiß gleich, daß es ihr ernst ist damit.
Dann fängt sie an, sein Gesicht zu streicheln.
– Hat sie das auch getan?
Er nickt kaum merklich.
– Ich möchte dich küssen.
Ohne seine Antwort abzuwarten, beginnt sie damit, sein Gesicht mit Küssen zu bedecken.
Sie preßt ihren Mund auf seinen, öffnet ihn mit ihren Lippen, fährt mit der Zunge über seine Zähne, berührt seine Zunge mit ihrer, küßt ihn so.
Angesichts ihrer Nacktheit und dieser Zärtlichkeit wird man verlegen.
Man möchte wegschauen.
Doch sofort kommt einem dies lächerlich vor.
Und dann läßt man es sein, schaut weiter, sieht, wie er sie gewähren läßt, wie er ihr Gesicht in seine Hände nimmt, wie er sie küßt, auf die Stirn und die Augen und den Mund.
– Bei dir fühle ich mich nicht dreckig.
Als sie es sagt, wirkt sie unversehrt.
Man vergißt die Verletzungen ihres Körpers, mit dem sie den Verlust ihrer Kindheit beklagt.
Man glaubt ihr sofort, daß es so ist.
Man ist unendlich bewegt.
Erneut sehen sie sich schweigend an, lange, ohne einander auszuweichen.
– Du bist jetzt meine einzige Welt.
Über das, was sie gerade gesagt hat, weinen sie beide.
Und dann lachen sie darüber.
– Ich frage mich, wie es wäre, mit dir zu schlafen.
Sie nimmt seine Hand und preßt sie auf ihr Geschlecht.
Er lächelt.
– Anders, sagt er.
Er streichelt sie dort unten und nimmt dann seine Hand weg.
Man kann nicht erkennen, ob sie darüber enttäuscht ist oder erleichtert.
Sie beginnt einen Satz, sie sagt:
– Plötzlich, im Abendlicht, am Strand von Trouville...
Sie hält seine Hand fest.
Er beendet den Satz, er sagt:
– ... konnte man die Abwesenheit Gottes sehen.
Sie lachen darüber.
Dann bittet Anabelle ihn, ihr Haar zu kämmen.
Man sieht, daß er ihr Haar kämmt.
Man hört, wie er von Lisa spricht.
Er erzählt Anabelle von dem Zettel, den Lisa ihm dagelassen hat.
– Was stand auf dem Zettel?
Er beginnt damit, es ihr zu sagen, und dann bricht er ab.
– Sprich weiter.
Und er kämmt Anabelles Haar und spricht weiter.
– Bin bei Pont Neuf in die Seine gegangen. Habe keine Angst, ich beginne es zu kennen. Die verlorene Zeit, mich endlich alleine zu lassen.
Minutenlanges Schweigen, das die Kamera festhält.
Und dann spricht er von dem Morgen ihrer Abreise nach Paris. Wie verändert Lisa da war.
– Sie saß auf der Fensterbank und starrte auf die Silhouette der Stadt. Sie sah müde aus, alt. Ich fragte sie: Was ist los mit dir? Sie sagte: Da ist ein Stern gewesen, letzte Nacht, der wollte hinunter, deshalb bin ich aufgewacht, ich wollte ihm helfen, den Himmel zu verlassen. Ich setzte mich ihr gegenüber und sah sie an. Sie trank den Kaffee, den ich ihr gebracht hatte. Sie sprach weiter leise mit sich selbst. Ich wollte ihre Wange berühren. Aber ihr Gesicht wich zurück. Ich nahm sie in den Arm. Sie schob mich von sich weg. Sie sagte: Du mußt damit warten, bis es wieder mein Körper ist.
– Sie war ein bißchen wie ich, sagt Anabelle.
Er hört auf, ihr Haar zu kämmen. Man sieht Tränen in seinen Augen, als er weiterspricht.
– In Paris war dieser hübscher Junge, der darauf aus war, mit ihr zu flirten. Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte zu ihm: Ich habe meinen Namen vergessen. Der Junge sagte zu ihr: Ich glaube dir nicht, keiner vergißt seinen Namen. Sie sagte zu ihm: Andere kennen meinen Namen. Ich sagte zu dem Jungen: Lisa, das ist ihr Name. Der Junge deutete auf sie, er lächelte sie an und sagte: Also, wenn das nicht Lisa ist. Und sie sagte zu ihm: Wo ist Lisa jetzt?
Man sieht, wie er abermals ans Fenster geht und hinaus aufs Meer sieht, auf den Regen.
Und dann hört man, wie er es dem Meer sagt, dieses für ihn nach wie vor Ungeheuerliche:
– Am nächsten Tag war sie tot.
Anabelle beobachtet ihn vom Bett aus.
Man bemerkt ihr Warten.
– Jedesmal, wenn ich denke, ich bin darüber hinweg, bin ich noch immer dort, wo ich zuvor war, sagt er.
Dann sieht man Anabelle aufstehen, sie geht zu ihm.
Sie ist bei ihm.
Sie stellt sich zwischen ihn und das Fenster.
Sie küßt ihn, streicht mit beiden Händen über sein Gesicht.
Man merkt, daß sie macht, daß er zurückkommt.
Er spricht, nirgendwohin. Er sagt:
– Elisa hat mir einmal gesagt, daß man die, die einem etwas bedeuten, innerlich freigeben muß, die Toten anders als die Lebenden, um so zu vermeiden, daß sie sich andauernd begegnen. Sie hat gesagt, daß man die Toten freigeben muß, um sie verlassen zu können, und die Lebenden, damit sie einen nicht verlassen.
Mit einer ungemein zärtlichen Geste, die einen anrührt, weil man nicht mit ihr rechnet, legt Anabelle ihre Hände auf seine Augen, auf seine Tränen.
– Man kann immer auf Elisa hören, das weißt du doch.
Man sieht sie in dieser Szene lange so, dort, am Fenster, vollkommen unbeweglich. Das nackte Mädchen mit den Narben und dieser Mann.
Anabelle hat ihre Arme um ihn geschlungen und er hält ihren Körper mit seinen Armen umschlossen, als wollte er ihre Nacktheit vor den Blicken des Meeres schützen.

– An irgendeinem Ort zu sitzen und zu lesen, bedeutet für Anabelle, unerreichbar zu sein für die Dinge der Welt, sagt Yorck Berliner irgendwo im Film zu Jacques Winter.
Er sagt, daß sie auf diese besondere Weise lese, mit dem Bleistift in der Hand, wobei sie sich einzelne Wörter oder ganze Absätze und Passagen unterstreiche und die Ränder mit Anmerkungen und kleinen Zeichnungen versehe.
Ich erinnere mich daran, daß Yorck Berliner ihr regelmäßig Bücher mitbrachte. Anabelle stapelte sie überall in ihrem Zimmer. Er erzählte mir, daß sie niemals die Bücher aus seiner Bibliothek anrührte.
– Wenn ich mit ihr über das eine oder andere Buch spreche und ihr sage, daß ich es ihr geben kann, will sie davon nichts wissen.
Er sagte, daß sie ihn manchmal auffordere, ihr etwas aus einem bestimmten Buch vorzulesen.
– Und wenn es ihr gefällt, bittet sie mich darum, es ihr zu kaufen, damit es ihr eigenes Buch ist.
Er glaubte, daß sie die Wörter in den Büchern mit niemand anderem teilen wollte, nicht bevor sie sie zu ihren Wörtern gemacht hatte.
Einmal, als Yorck Berliner nach Deutschland gereist war, hatte ich während seiner viertägigen Abwesenheit nach Anabelle geschaut. Wegen der Landregen hatte sie kaum das Haus verlassen und die ganze Zeit mit Lesen verbracht oder damit, sich bis in die frühen Morgenstunden amerikanische Filme auf DVD anzuschauen.
Am Morgen seiner Rückkehr nahm sie ein kleines Päckchen von ihm entgegen. Sie tastete es ab und wußte sofort, daß es sich um ein Buch handelte. Es war Jeanne von Jacques Tournier.
Sie las, zuerst für sich, die ersten Zeilen, wobei sich ihre Augen langsam mit Tränen füllen.
Und dann begann sie laut vorzulesen:
– Sie ist klein. Sie ist vierzehn Jahre alt. Sie verbirgt sich noch immer in einem Winkel des Treppenhauses zwischen dem Geländer und dem gelben Hund, um den Garten besser beobachten zu können. So lang, daß sie manchmal den Kopf in ihrem Kleid verbirgt, damit es rascher dunkel werde. Und wenn die Nacht endlich die Terrasse erreicht, ist es, als richte sich plötzlich jemand hinter den Fenstern auf, ein Schatten, der sie zu suchen scheint. Sie macht sich noch kleiner, damit er sie länger suchen müsse, aber der Schatten findet sie immer, steigt Stufe um Stufe die Treppe hinauf und läßt sich neben ihr nieder.
– Dieser Schatten ist wie mein Adoptivvater, er hat mich immer gefunden, sagte sie weinend.
Yorck Berliner stand ihr gegenüber und schaute sie an, wie sie weinte und dabei den Einband des Buches mit ihren Händen streichelte.
Und er ließ sie.
Und er war ihr nah, er war von ungeheuerer Präsenz.
Minutenlang geschah nur dies.
Und dann hörte sie auf zu weinen, es ging vorüber.
Bevor Anabelle am frühen Nachmittag mit dem Buch im Café Strauss verschwand, umarmte sie Yorck Berliner innig. Sie legte ihre Arme um ihn und küßte ihn heftig auf den Mund.
Yorck Berliner lächelte. Er befreite sich und küßte sie zärtlich auf den Hals. Dabei wirkte er erleichtert, so als hätte nichts ihn jemals verletzt oder als hätte das, was ihn verletzt hatte, andernorts stattgefunden, fern von ihm.
Anabelle freute sich über sein Lächeln und küßte ihn wieder, und er machte sich abermals von ihr los.
Ich glaube, er hätte alles von ihr bekommen können. Über die wirkliche Größe seiner Macht über Anabelle konnte er nicht ahnungslos gewesen sein. Er hätte sie tragen können wie ein Kleidungsstück.
Vielleicht hat er sie gerade deshalb nur beschützt. Weil er wußte, welche Verletzungen es da gab, auf der gegenüberliegenden Seite ihrer Wünsche. Und weil er sie kannte.
Als ich ihm in irgendeiner Nacht, lange nach dem 11. September am Strand begegnete und er mir von Anabelle erzählte, waren seine Beschreibungen ihres inneren und äußeren Lebens derart genau und nachdrücklich, daß es mich schmerzte, ihm zuzuhören. Ich mußte ihn mehrere Male unterbrechen, weil ich es kaum ertragen konnte, ihn auf diese Weise über sie sprechen zu hören.
Er sprach von der Rückseite ihres Gesichts wie von dem verschlossenen Teil eines Hauses. Von den verschwiegenen Ängsten, die dort wohnten. Von den Mißhandlungen, die Anabelle erfahren hatte, und dem Rhythmus, in dem sich die erlebte Brutalität in ihrem Körper in dunklen Massen wiederholte. Von dem Schmerz, der in sie eingesunken war und der machte, daß sie Nacht für Nacht in ein Labyrinth voller scharfkantiger Steine hinabstürzte. Von den Narben an ihren Handgelenken, die sie im Schlaf manchmal umklammert hielt. So ein Schlaf, wo man sich nicht bewegte, die ganze Zeit nicht, in der Erwartung eines bevorstehenden Angriffs. Und daß sie es sich nur mit der eigenen Hand machte, wenn er ihr dabei zuschaute und sie alles vergessen konnte, sogar ihn und seine Blicke, weil sie sich in seiner Nähe sicher fühlte und wußte, daß er auf sie aufpaßte.
Er sprach auch von Anabelles großen Lust zu sterben. Davon, wie stark dieses Verlangen war, so viel stärker als ihr Widerwille gegen den Tod. Er sprach von den Männern, denen sie ihren Körper gebracht hatte, von seiner Unbeweglichkeit unter ihnen. Einer Unbeweglichkeit bis zum Verstummen. Vom Keuchen der Männer, ihren Rufen, ihren Schreien. Vom Blut auf dem Weiß der Laken.
Zuletzt sprach er von ihrem Adoptivvater, der Vaseline auf seine Finger tat, um ihre Vagina einzuschmieren, während sie sein Geschlecht rieb, bevor er in sie eindrang. Wie sie anschließend nackt auf die Straße rannte und schrie und der Adoptivvater sie brutal zurückholte und ihr sagte, sie solle still sein, sonst würde er sie zum Schweigen bringen. Und daß sie am Morgen ihres neunten Geburtstages daran dachte, eine Überdosis Tabletten zu nehmen, was ihr aber mißlang, weil ihr Mund zu trocken war, denn sie hatte sich die ganze Nacht erbrochen, nachdem er mit seiner wahnsinnigen Liebe bei ihr gewesen war.
Wenn Yorck Berliner im Film davon spricht, wie er Anabelle an jenem Nachmittag vom Strand aus auf der offenen Terrasse des Café Strauss beim Lesen beobachtete, muß ich hinzufügen, daß umgekehrt auch er oft von ihr beobachtet wurde, mit derselben Intensität und Wachsamkeit. Hätte Anabelle nicht mit dem Buch von Tournier dort gesessen und gelesen, hätte es mich nicht gewundert, wenn auch sie ihn zur selben Zeit heimlich angeschaut hätte.
Allerdings kann ich mir bis heute keinen Grund vorstellen, der Anabelle dazu hätte bewegen können, ihre Lektüre zu unterbrechen. Vielleicht hätte sie einen Moment lang aus Jeanne aufgeblickt und ihn angesehen, wenn er sich neben sie gesetzt hätte, ganz so, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Und dann wäre ihr wieder eingefallen, daß sie ihn kannte. Sie hätte das Buch und den Bleistift auf den Tisch gelegt und seine Hand genommen und ihn still und eingehend betrachtet, wie sie es oft tat.
Danach hätte sie ihm aufgeregt einige der Stellen gezeigt, die sie in dem Buch angestrichen hatte. Etwa die Stelle, an deren Rand sie seinen Namen und das Datum ihrer ersten Begegnung geschrieben hatte: Das damals war wirkliche, warme Zuneigung, die nichts jemals ersetzen konnte ... Oder jene, an deren Rand sie seinen und Elisas Namen gesetzt hatte: ...ihn allmählich zu dem hinzuleiten, was sie im Geheimen die Welt unter dem Schnee nennt: alles, was vergraben ist, aber pulsiert und was man lernen muß, zu befreien.
Ich weiß nicht mehr genau, wann er mir davon erzählte, von den Sätzen, die Anabelle in Jeanne unterstrichen hat. Es könnte ebenfalls in jener Nacht am Strand gewesen sein, als er nach ihrem Tod das erste Mal länger über sie sprach.
Besonders denke ich an diese eine unterstrichene Stelle: Soll man alles wieder in Ordnung bringen, versuchen, einen Plan zu erkennen...
Ich glaube, daß es darauf keine Antwort gibt. Falls es doch eine gibt, wird niemand sie jemals finden.
(…)

Die erste Liebe in Anabelles Leben ist nicht ihr leiblicher Vater, den sie sowenig kennt wie ihre Mutter. Die erste Liebe ihres Lebens ist ein Fremder.
Er, dieser Fremde, begegnet ihr spät, am Ende ihrer Kindheit, die genaugenommen bereits zu Ende ist, bevor sie anfangen kann.
Plötzlich gibt es da jemanden, der sie kennt und der sofort alles von ihr weiß. Jemand, der sie mitnimmt, ohne etwas von ihr zu wollen. Und der da ist, wenn sie sich die Haare ausreißt oder das Gesicht und die Arme und Beine zerkratzt oder mit Rasierklingen blutig ritzt. Jemand, der sie festhält, wenn sie sich laut schreiend an die Wände ihres Zimmers wirft. Oder der sie verbindet, wenn sie sich ihrem Kopf an der Wand blutig hämmert.
Da gibt es jemanden, der sie sehen kann und der manchmal sogar schnell genug ist, um sich ihr in den Weg zu stellen, bevor sie sich ein weiteres Mal verletzt. Der ihr zeigt, daß sie, auf andere Weise als bisher, ertragen kann, was ihr vergangenes Leben in ihr hervorbringt. Und der an anderen Tagen, wenn sie sich unter ihrem Bett verkriecht und sich nicht mehr rührt, stundenlang bei ihr sitzt und mit ihr redet oder schweigt, bis sie wieder hervorkommt.
Unerwartet gibt es da also jemanden in ihrem Leben. Jemand, mit dem sie mitgegangen ist.
Es ist dieser Fremde, der Schriftsteller, der ihr von Anfang an zuhört, wenn sie ihm etwas erzählt. Sie kann sich nicht erinnern, daß jemals zuvor irgend jemand auf diese Weise aufgepaßt hat, daß jemand anders ihr zugehört hat, wenn sie etwas sagte. Nicht auf diese Weise.
Sobald etwas in ihr erstarrt und sie nicht mehr weiter weiß, spürt sie, daß er ihrem Schweigen lauscht wie kurz vorher ihren Worten, mit derselben Aufmerksamkeit. An der Art, wie er ihren Worten, wie auch ihrem Schweigen nachgeht, erkennt sie, daß er mit ihr fühlt und sich auf sie einstimmt.
Ohne daß sie daran zweifelt, aber auch ohne etwas darüber zu wissen, denkt sie, daß seine Gründe hierfür andere sind als die aller anderen, die ihr zuvor begegnet sind. Ihr fällt bald auf, daß er sich tatsächlich für das interessiert, was sie ihm erzählt, daß er wirklich Sympathie für sie empfindet.
Wie sehr er von dem, was sie ihm erzählt, berührt wird, verwundert sie zunächst. Auch, wie behutsam und konzentriert er ist, wenn er mit ihr spricht. Das alles ist neu für, sie kennt es noch nicht. In der Vergangenheit ist es immer so gewesen, daß man nur so getan hat, als würde man ihr zuhören. So wie man anschließend dafür auch immer etwas von ihr gewollt hat.
Schon nach ein paar Wochen wird ihr klar, daß er vor allem anderen weiß, wovon er spricht, und daß sie ihm vertrauen kann, wenn er ihr sagt, daß das, was sie erlebt hat, nicht alles ist, was sie ausmacht. Daß das Gräßliche, das hinter ihr liegt, nur halb so machtvoll ist, wie sie meint. Daß sie noch jung ist. Und daß sie doch alles erreichen, sich neu erfinden, alles mögliche aus sich machen kann.
Sie zweifelt keinen Moment an seinen Worten. Außerdem gefällt es ihr, wenn er so mit ihr redet und macht, daß sie sich gut fühlt, irgendwie wertvoll, als ob sie ausgewählt ist.
Dann glaubte sie ihm sogar manchmal, wenn er ihr sagt, daß er sie schön findet, schön und klug, ein schönes und kluges Mädchen.
Vor allem fühlt sie sich schön, wenn sie nackt im Badezimmer steht und dieses Mädchen sie aus dem großen Spiegel anblickt, mit einem von Narben entstellten Körper, und er hinter sie tritt und einige der Narben sanft berührt und sie sich dann an ihn lehnt und er ihr Haar streichelt und mit seinen Fingerspitzen über ihr Gesicht streicht und ihren Hals und anschließend über ihren Körper und ihr dabei etwas von der Blondheit ihrer Haut ins Ohr flüstert, der die Narben nichts anhaben können.
Noch bevor sie von Lisa erfährt, ahnt sie vielleicht, daß er das, was er ihr sagt, früher bereits zu irgendwem gesagt hat, auf ähnliche Weise. Sie kann nicht erklären, wie sie darauf kommt. Vielleicht eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen, verbunden mit einer unerfüllbaren Sehnsucht nach etwas, das er vor sehr langer Zeit verloren hat.
Als er ihr dann von Lisa erzählt, weint sie, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geweint hat. Sie weint, weil sie versteht, daß Lisa wie ein zerbrochener Stein gewesen ist, den er versucht hat wieder zusammenzusetzen. Ihr wird klar, daß es mit ihr ähnlich ist, daß er mit ihr dasselbe versucht wie mit Lisa und wie ernst es ihm damit ist.
In der Nacht, nachdem er ihr von Lisa erzählt hat, liegt sie neben ihm im Bett und ist sich gewiß, daß er sie liebt. Sie schlingt ihre Arme um seinen Körper und preßt sich fest an ihn. Sie fühlt etwas für ihn, daß sie noch nie zuvor für einen Menschen empfunden hatte, nicht einmal für sich selbst. Es fühlt sich an wie ein Druck auf die Innenseiten ihrer Rippen, ganz anders als die Last, die sie sonst dort spürt. Eher wie ein Gewicht, das ihren Körper anhebt, statt ihn niederzudrücken.
Wenn sie die Augen schließt, sieht sie winzige Wasserperlen, die sich hinter ihren Augen sammeln und dann durch ihre Kehle hinunter in ihre Magengrube stürzen und sich von dort aus einen Weg in das verwahrloste Feuchtgebiet zwischen ihren Schenkeln bahnen und dort alles zum Kribbeln bringen. Endlich fühlt sie, daß dort unten etwas vorhanden ist, das sie besitzt, etwas, das nicht den anderen gehört, obwohl es, seit sie denken kann, immer den anderen gehört hat.
Während sie einschläft, denkt sie, daß es darauf ankommt, sich jede Nacht so neben ihn zu legen und dort einzuschlafen und jeden Tag mit ihm anzufangen. Doch dazu muß sie bei ihm bleiben und darf nicht wieder fortlaufen.
Um den alten Fallen zu entkommen, muß sie sich an alles in ihrem Leben erinnern, was ihr einfällt, und sie muß es ihm erzählen, damit er die einzelnen Teile für sie richtig zusammensetzt. Er wird ihr schon zuhören, allem, was sie zu sagen hat. Und selbst wenn sie ihre innere Stimme verliert und mit der unvermittelten Stille nicht fertig wird, wird er, lange bevor der Schmerz einsetzt, ihren Kopf nehmen und ihn auf seine Brust legen und ihr vom Dämmerlicht über dem Fluß erzählen. Sie wird sich an ihn schmiegen, unterdessen er ihr Haar und ihren Hals streichelt, bis sie ihre Stimme wieder in sich hören kann.
Und dann, während sie fühlt, wie sie sich ihm nähert, wird er ihr sagen, wie sie zu sich hinkommt, damit sie sich selber sehen kann, und was sie tun muß, um sich zu erfinden. Er wird ihr erklären, warum sie nach rechts gehen muß, wenn ihr gegenüber jemand darauf beharrt, sie soll nach links gehen, nur weil alle nach links gehen. Auch, warum es für jemanden wie sie zwecklos ist, sich eine Karte zeichnen zu lassen, um sich besser zu orientieren. Warum sie vielmehr die Augen schließen und in sich in einen toten Winkel ihrer Erfahrungen kommen und dort alles wie Blindenschrift erspüren muß, damit die Dinge für sie einen Sinn ergeben können.
Sie muß ihm nur zuhören, wie sie noch nie jemanden zugehört hat. Niemand außer ihm kann ihr sagen, daß sie das, was sie erlebt hat, nicht einfach so abschütteln kann wie einen Alptraum, damit das Leben für sie weitergeht, sondern daß sie ihr Leben zuerst einmal gewinnen muß. Zudem wird sie keinem anderen glauben, wenn der ihr sagen würde, daß sie nach dem Unbekannten Ausschau halten muß, um nicht den Halt zu verlieren. Und daß es ausreicht, kleine Schritte zu machen, weil schon die kleinste Veränderung an der Oberfläche die größte Veränderung in der Tiefe bewirkt.
Nur ihm, ihm glaubt sie. Sie glaubt ihm alles, was er zu ihr sagt. Nicht wie so eine Dumme, die aufhört zu denken, wenn ihr einer etwas sagt. Vielmehr weil sie sieht, daß er immer weiß, wo etwas herkommt.
Und während sie ihm mit ihren Augen überallhin folgt, ist sie nun nicht mehr erstaunt darüber, daß er sie zu einem Teil seines Lebens macht und dabei zu einem Teil ihres Lebens wird.
Jeden Morgen frühstückt er mit ihr, sie machen gemeinsam Besorgungen, kochen am Abend und sehen sich Filme auf DVD an, hören Musik oder lesen. Sie gehen oft am Strand entlang und beobachten das Meer und den Himmel.
Am Anfang nimmt er ihre Hand, bis sie es irgendwann wagt, seine zu nehmen.
Sie geht wieder zur Schule, fährt jeden Morgen mit dem Zug nach Lisieux, erzählt dort, daß sie bei ihrem Onkel lebt.
Dieser Fremde, denkt sie sich an manchen Tagen, wenn er ihr bei den Hausaufgaben hilft oder ihr geduldig etwas erklärt, bis sie es versteht, ist vielleicht wie ein Vater oder ein entfernter Verwandter, von dem sie lange nicht wußte, daß es ihn gibt, und der in ihrer größten Not unangemeldet aufgetaucht ist, um sich um sie kümmern. Sie vergleicht das, was er tut, mit dem, was ihre Kameradinnen aus der Schule über ihre Väter erzählen, und findet, daß er seine Sache gut macht.
Dann, nach einer gewissen Zeit, die sie mit ihm verbringt, stellt sie fest, daß er doch nicht wie ein Vater ist, auch nicht wie ein Onkel oder ein anderer Verwandter. Sie findet heraus, daß sie ihn mit niemandem vergleichen kann, daß er anders ist als alle anderen, die sie kennt. In Wirklichkeit ist er nur ihr ähnlich. Auch die Beziehung, die sie miteinander haben, unterscheidet sich von allen anderen Beziehungen, die sie kennt oder von denen sie gehört hat.
Das, was sie mit ihm hat, kann sie nicht mit einem Vater haben. Das ist ausgeschlossen. Diese Nähe zu ihm, daß sie ihn berühren kann, auf diese Weise, und daß er ihre Berührungen erwidert, genauso wie sie es braucht, damit sie sich gut fühlt, das kann kein Vater. Außerdem kann kein Vater jemals ihre Wunden sehen, geschweige denn verstehen, was es bedeutet, auf diese Weise zu leben, so verletzt. Das kann nur jemand, der Vergleichbares erlebt hat.
Schließlich macht sie sich eigene Vorstellungen von ihm und dem, was sie mit ihm hat, und entscheidet sich dafür, daß dieser Fremde weniger ein Vater für sie ist als ein Freund, der mit ihr einen Pakt geschlossen hat und sich mit ihr verbündet, damit sie ein Leben, von dem sie alles weiß, aufgibt für ein Leben, das sie noch nicht kennt.
Ich sehe gewisse Dinge zwischen ihnen, die sie einander nicht verschwiegen und die sie annahmen und zuließen, innerhalb der Grenzen, die sie für sich ausgemacht hatten. Berührungen, Zärtlichkeiten, diese besondere Nähe, die außerhalb aller anderen Grenzen lagen. Dinge, die niemand von uns jemals verstehen, geschweige denn hätte anerkennen können, so sehr gingen sie über jede unserer Vorstellungen hinaus.
Man konnte es kaum glauben, nach allem, was man darüber gehört und gelesen hatte, daß einer von uns sich auf diese Weise seiner Tochter nähern würde, wie er sich Anabelle genähert hatte.
Eine solche Intimität zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, wie man das in dem Film von Jacques Winter mit eigenen Augen gesehen hatte, das war ausgeschlossen. Auch was er selbst darüber geschrieben hatte, über sich und dieses Kind. Und das dann noch in Caen aufzuführen. Wie skandalös. Gewiß hatten sie recht, sie ihm wegzunehmen.
Von alldem abgesehen, war es für die meisten Leute sowieso nur schwer vorstellbar, daß es Menschen wie ihn und Anabelle überhaupt gab. Menschen, die so schwer verletzt waren, daß einen ihr Anblick, wenn er einen nicht sofort beschämte, nach kurzer Zeit aggressiv machte. Für einen selbst blieb es undenkbar, daß es andere Menschen waren, die ihnen diese Verletzungen beigebracht hatten.
Daß es tatsächlich Menschen waren, die den beiden das angetan hatten, wie sollte man erfassen, was das bedeutete, auch für einen selbst, der man dazugehörte. Vor allem, daß es eben diese Wunden waren, das ganze Ausmaß dieser Wunden, die seine und Anabelles Lebensweise beeinflußte.
Manchmal wirkten die beiden, als wären sie von allem abgetrennt, als wären sie von einem fremden Planeten auf diese Welt gekommen.

In dem aufgegebenen Manuskript habe ich über diesen Jungen geschrieben, den Anabelle aus dem Meer gerettet hat.
Ich schrieb, daß dieser Junge, Albert, später einmal, wenn er ein Mann wäre, sagen würde, er habe da draußen nicht allein um sein Leben kämpfen müssen. Ganz deutlich hörte ich ihn sagen, daß er an diesem Nachmittag nicht gezwungen gewesen sei, sich allein zu retten. Er habe den Körper Anabelles gespürt, dessen Wärme und Festigkeit. Bereits in dem Moment, als sie nach ihm gegriffen habe, sei von ihrem Körper eine Sicherheit ausgegangen, die sich auf ihn übertragen und ihn sein ganzes Leben nicht mehr verlassen habe.
Ich schrieb, daß er nie wieder Angst verspürt hat, zumindest nicht eine so entsetzliche Angst wie an jenem Nachmittag im Meer. Die Angst eines Fünfjährigen, der um sein Leben kämpfen mußte, im Körper eines Mannes, das ist ihm erspart geblieben. Ich hörte, wie er sagte, daß er manchmal noch zusammenzucke, weil er zu einer beliebigen Tageszeit Anabelles Herzschläge an seinem Rücken spüre. Ihr vor Anstrengung hämmerndes Herz, das er damals habe fühlen können, als sie mit ihm zurückgeschwommen sei.
Albert Kahnweiler, so habe ich geschrieben, würde diese Geschichte oft erzählen, den Kindern am Strand oder sonstwem. Gewiß würde er sie später seinen eigenen Kindern erzählen. Sogar nachdem er nicht mehr davon sprechen würde, bliebe die Berührung durch Anabelle an jenem Nachmittag im Meer die ganze Zeit über in seinen Körper eingeschrieben wie eine tiefe, unauslöschliche Umarmung.
In dem aufgegebenen Manuskript habe ich nicht darüber geschrieben, daß er und Anabelle sich nie wiederbegegnet sind.
Ich habe nicht darüber geschrieben, daß Albert, unmittelbar nachdem er von Anabelles Tod erfahren hat, alleine mit dem Zug nach Quimperle gefahren ist. Jemand hat ihn dort am Ufer stehen sehen, an der Stelle, wo man Anabelles Sachen gefunden hatte.
Er habe dort gestanden, als versuchte er zu begreifen, daß Anabelle tot war. Anabelle, die sein Leben gerettet hatte.

Einige der Leute, die an jenem Nachmittag am Strand waren, meinten später, Anabelle sei irgendwie vorbereitet gewesen. Als ob sie gewußt hätte, daß das passieren würde. Anders sei es nicht zu erklären.
Jemand sagte, er habe den Jungen in dem Boot gesehen und wie das Boot von den Wellen zum Schwanken gebracht worden sei. Im selben Augenblick sei Anabelle schon an ihm vorbeigerannt. Sie habe sich während des Laufens die Kleider vom Leib gerissen und sich dann ins Meer gestürzt.
Und dann sei sie hinausgeschwommen.
Die Leute blieben am Strand stehen und beobachteten nervös Anabelle, die lange, sehr lange hinausschwamm.
Plötzlich verschwand der Junge zwischen den Wellen. Man konnte ihn nicht mehr sehen.
Gleich darauf sah man ihn wieder, aber nur kurz.
Dann verschwand er abermals, dieses Mal länger.
Schon glaubte man, seine Angst fühlen zu können, zu spüren, wie sich seine Lungen mit Wasser füllten, wie er um sein Leben rang. Bis man sah, wie der Junge von Anabelle gepackt wurde. Bis man aufatmete.
Einige der Leute klatschten vor Erleichterung in die Hände oder schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Andere fragten sich, ob die Kleine es wohl schaffen würde, mit dem Jungen zurückzukommen. Was für die anderen überhaupt keine Frage war. Vor allem die Kinder wußten es. Selbstverständlich würde sie den Jungen retten.
Und dann, als Anabelle mit dem bewegungslosen Jungen zurückkam, applaudierten ihr die Leute, die am Strand waren. Und die Kinder, diese wunderbaren Kinder, die Anabelle so sehr liebten, blieben in ihrer Nähe. Sie bildeten einen Halbkreis, hinter dem die Erwachsenen stehenblieben.
Und dann ist es so, daß ich, während ich dies hier schreibe, sehe, daß da noch etwas anderes war. Etwas Besonderes, das sie mit diesem Jungen in ihren Armen verband. Daß sie ihn hielt, wie sie ihren kleinen Bruder gehalten hätte, hätte sie einen gehabt. Und daß jedes dieser Kinder am Strand ihr auf dieselbe Weise nahe war: ein Bruder, eine Schwester, alle aus jenem Geschlecht, dem der Kinder, um die sie sich sorgte, weil sie wußte. Wußte, was man ihnen antun konnte. Für einen Erwachsenen hätte sie keinen Finger gerührt, da bin ich sicher.
Ich sehe wieder, wie der Arzt sich einen Weg durch die Menge bahnte und ihr den Jungen aus den Armen nahm und mit zwei Sanitätern erste Rettungsmaßnahmen einleitete.
Anabelle stand auf, nackt, atemlos und so entkräftet, daß ihr vor Erschöpfung Tränen in den Augen standen. Ihr ganzer Körper zitterte. Er wirkte kraftlos, dieser Körper, als würde er im nächsten Moment zusammenbrechen. Während sie diese Schwäche überwand, wurden die Leute sprachlos ihrer Narben gewahr. Wie aus allen Himmeln gefallen, starrten einige ihren vernarbten Körper an.
Die ganze Zeit über blieb Anabelle gänzlich unempfindlich gegen die ihr dort am Strand unvermittelt zuteil werdende Aufmerksamkeit, mit der sie nicht das geringste anzufangen wußte.
Das Erschrecken, das ihre Narben bei einigen auslöste, interessierte sie nicht. Es ist schwer zu sagen, ob es überhaupt von ihr bemerkt wurde. Sie wirkte wie ein völlig verschlossener Raum, den man nur von außen betrachten konnte.
Während man ihr ein Handtuch reichte, mit dem sie sich trockenrieb und anschließend in ihre Kleider schlüpfte, beobachtete sie voller Mißtrauen den Arzt und die Helfer, die den Jungen mit ein paar geübten Handgriffen ins Leben zurückholten.
Als der Junge hustend und Wasser erbrechend zurückkehrte und sich ihre Blicke trafen, öffnete sich ihr ansonsten eher abweisendes Gesicht für einen Moment.
Ich sehe dieses feenhafte Lächeln wieder, das sie ihm schenkte. Es war ein Lächeln, daß er sein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Und die Kinder. Sie schlugen sich untereinander in die Hände und strahlten ihre Heldin an oder umarmten sie. Für sie war Anabelle eine von ihnen. Und nun hatte sie einen von ihnen vor dem sicheren Tod bewahrt. Sie hatte den Jungen hören können, noch bevor er um Hilfe gerufen hatte. Sie konnte alles sehen, schon bevor es geschah. Mit den Augen eines Adlers und dem Gehör eines Indianers, wie ich einen der halbnackten Jungen sagen hörte.
Und dann hörte ich jemand sagen: Das ist der Sohn des Richters.

Von der Rettung Alberts durch Anabelle erfuhr Yorck Berliner von Sandrine Landier, als er in der Woche darauf am Marktag an ihrem Stand den bestellten Fisch abholte.
Er erzählte mir, daß Sandrine Landier noch nicht einmal richtig begonnen hatte, über das Ereignis am Strand zu reden, als sie von ihren Kindern bereits unterbrochen wurde.
Während die zwölfjährige Paula die Augen verdrehte, verzog ihr drei Jahre jüngerer Bruder Paul das Gesicht zu einer mißmutigen Grimasse.
Die Kinder redeten unentwegt dazwischen und behaupteten, daß alles ganz anders gewesen war, als ihre Mutter es erzählte.
– Diese Geschichte.
– Also, sie handelt davon, daß Anabelle einen Jungen vor dem Ertrinken rettet.
– Und von den Cornflakes heute morgen.
– Und davon, daß die Milch sauer war und ich die Cornflakes trocken essen mußte, was voll eklig war.
– Auch von dem toten Fuchs auf der Route Nationale.
– Der Fuchs war nicht tot, ich habe es dir schon heute morgen gesagt.
– Und von der schönen Anhalterin mit den Rastalocken.
– Die gerochen hat wie die Fischreste in der Tonne hinter dem Haus.
– Und von den Chips und den Crepés, die wir verdrückt haben.
– Und von den zwei Flaschen Cola.
– Und von der Skulptur von Flaubert, die Paul angepinkelt hat, weil er es nicht mehr halten konnte.
– Und noch von unserem unendlich dicken Cousin Pierre aus Limoges.
– So dick, daß er die Sonne verdunkelt, wenn er vor sie tritt, echt wahr.
– Und davon, wie er im vergangenen Jahr beinahe ertrunken wäre, in der Rhône, als er am Ufer spielte.
– Und dann geht es in der Geschichte noch um Alberto, der früher in unserer Straße gewohnt hat und wieder zu seinem Vater nach Montpellier gezogen ist.
– Davor ist er bei Cherbourg von einer Fähre gefallen.
– Zumindest haben sie das behauptet.
– Aber er ist wohl eher gesprungen, das ist doch ganz klar.
– Er wollte bei seiner Mutter sein, die im Winter davor gestorben war.
– Kein Erwachsener versteht das: daß ein Kind so traurig sein kann.
– Für sie bleibt Alberto von der Fähre gefallen.
– Nie würden sie zugeben, daß er gesprungen ist, weil er bei seiner Mutter sein wollte.
– Erzähle endlich von Anabelle.
– Also, der Himmel war grau.
– Ein helles Grau, so eins, das man in keinem Wasserfarbenkasten findet.
– Und der kleine Albert da draußen, in seinem winzigen Boot.
– Und dann zwischen den riesigen Wellen.
– Und niemand in der Nähe, um ihn herauszuholen, auch Gott nicht. Nur Anabelle, die ganz weit hinausgeschwommen ist, bis man sie vom Strand kaum noch sehen konnte.
– Sie hat das ganze Meer durchquert, von einem zum anderen Ende, total kraß.
– Aber sie hat ihn zurückgebracht.
– Und vielleicht war Gott ja doch da.
– Wenn er da war, dann in Anabelle.

Anabelle hatte einem Jungen das Leben gerettet und kein Wort darüber verloren. So als wäre ihr klar gewesen, daß sie, indem sie zu dem Jungen hinausgeschwommen war, bereits alles verändert hatte.
Selbst wenn sie Albert Kahnweiler nicht hätte retten können, wenn sie da draußen gescheitert wäre, hatte sie doch alles riskiert und ihr Leben für ihn in die Waagschale geworfen.
Yorck Berliner sah das große Risiko, das sie eingegangen war und war beeindruckt von ihrer Tapferkeit.
Obwohl es ihm sichtlich schwerfiel, vermied er es, Anabelle darauf anzusprechen, nachdem Paul und Paula ihm davon berichtet hatten.
Anabelle werde ihre Gründe haben, nicht mit ihm darüber sprechen zu wollen, sagte er zu mir.
Ich erinnere mich, wie wir ein paar Wochen, bevor er spurlos verschwand, noch einmal über diesen Vorfall am Meer gesprochen haben. Mit welchem Nachdruck er darauf bestand, daß man einfach daran glauben mußte, daß man immer nach dem Guten verlangte. Ganz egal, was einem widerfahren war.
– Sogar wenn man sich weigert, sich dem Guten näherzubringen, ist doch alles in einem darauf angelegt, ihm entgegenzugehen. Nach allem, was Anabelle widerfahren ist, welchen Grund sonst hätte sie haben sollen, den Jungen zu retten.
Er meinte, daß man sich dem Guten nicht verweigern konnte. Um dies zu tun, müßte man aufhören, es zu denken.
– Wie hätte ich in der Vergangenheit Lisa, Elisa oder Anabelle ansehen können, ohne dabei das Gute zu denken.
An dem Morgen war es ihm unnatürlich vorgekommen, nicht das Gute zu denken.
– Das Leben ist so kurz und für viele so wenig, wie kann da einer mehr Schlechtes als Gutes wollen.
Er fand sogar, daß jedes seiner Kriegsbücher ein Schritt auf dem Weg zum Guten wäre, auch wenn er wahrscheinlich der einzige sei, der es so sehe.
– Nach diesen Büchern blicke ich zurück und erkenne, daß ich nicht mehr der bin, der ich am Anfang war.
Plötzlich sagte er, daß Anabelle keine Kraft mehr zum Guten gehabt habe.
– Sie hat das Undenkbare möglich gemacht.
Ihm war anzumerken, daß er diesen Tod, ihren Tod, noch immer nicht begreifen konnte.
Er sagte, daß es keine Entfernungen gebe, schon gar nicht durch den Tod.
– Es ist immer alles hier.
Später sprach er noch über Elisa.
Er war enttäuscht, daß Elisa Hals über Kopf nach Montreal gezogen war, ohne ihm ein Wort davon zu sagen.
– Mit diesem Rockstar.
Er sagte, daß er Elisa vermisse und daß die Trennung ihn schmerze.
– Aber ich denke nicht mehr darüber nach, ob die Liebe etwas ist, das nur eine gewisse Zeit andauert und dann nie wiederkehrt.
Er sagte, daß er sich nicht mehr die Frage stelle, was mit ihrer Liebe in der Zeit geschehe, in der er nichts von Elisa höre oder sie nicht sehe.
– Es ist unsere gemeinsame Geschichte, in der wir fortfahren, mit derselben Zuneigung.
Er sagte, es sei diese Liebe, die für jeden von ihnen immer zu nah oder zu fern sei.
– Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß wir diese Geschichte so leben, weil wir keine andere Wahl haben.
Er sagte, daß er aus der Zeitung erfahren habe, daß sie mit dem Musiker nach Montreal gegangen sei – das habe ihn gekränkt.
– Doch wenn ich dann einen Moment ruhig bin, fühle ich diese tiefe Verbundenheit mit Elisa.
Er sagte, daß er von ihrer ersten Begegnung an keinen Tag ohne Elisa gewesen sei.
– Ich kann nicht anders, als in alles einzuwilligen, was sie tut.
Als er sagte, daß sie ihn aufgenommen habe, mit ihrer ganzen Liebe, spürte ich, daß er Elisa gegenüber voller Dankbarkeit war.
– Sie ist die Freundin, die mein Leben gerettet hat.
Er sagte, daß Elisa, schon als sie jung gewesen sei, mit ihrer Liebe dafür gesorgt habe, daß er an seiner Einsamkeit nicht zugrunde gegangen sei. Und er habe das alles erwidert, so gut es ihm möglich gewesen sei.
– Diese Liebe, in der einer den anderen sichtbar macht, das ist mit nichts zu vergleichen.
Er sagte, daß er wisse, was er immer gewußt habe, daß sie vereint seien, ohne je herauszufinden, was es sei, das sie vereine. Und solange er sie liebe, werde sie wirklich anwesend sein. Auch wenn sie in Montreal lebe, oder wenn er nie wieder etwas von ihr höre.
– Ich sage ihren Namen und schon ist sie da. Und sie spürt es, wenn ich ihren Namen sagen, ganz egal, wo sie gerade ist.
Er meinte zu mir, daß er ihren Namen jeden Tag sage, mehrere Male, so wie man bete.
– Diese Liebe war nie an Bedingungen geknüpft. Und das wird sie auch niemals sein.
Als er lächelte, wurde seine ganze Schönheit sichtbar.
– Wenn es nach alldem in meinem Leben soviel Liebe in mir gibt, bedeutet das für mich die Gewißheit, daß es einen Gott gibt.
Ich weiß noch, daß ich in dem Moment, als er das sagte, den Atem anhielt. Ich war mir nicht sicher, ob er sich über die Bedeutung seiner Worte völlig im klaren war. Vielleicht hatte er noch keine Zeit gefunden, das Gesagte zu begreifen.
An dem Morgen spürte ich, daß er nicht mehr der Mann war, der Angst davor hatte, daß Elisa ihn verließ. Er hatte etwas Verlorenes wiedergefunden: Vertrauen. Und er war bereit, die Dinge verstreichen zu lassen.

An einem Abend, einige Wochen nach dem Vorfall am Meer, kamen die Kahnweilers, um sich bei Anabelle für die Rettung ihres Jungen zu bedanken.
Als Yorck Berliner öffnete, wollte ich gerade gehen.
Hélène Kahnweiler kam ohne Umschweife auf die Rettung Alberts zu sprechen und wünschte Anabelle zu sehen.
Anabelle war von unbestimmbarer Höflichkeit, als sie die Begrüßung der Kahnweilers erwiderte. Ihre ganze Haltung war zögernd, als wäre sie von einer inneren Macht gezwungen, hinter sich selbst zurückzubleiben. Ihr Körper schien undurchdringlich. Er glich einer Rüstung, die sie sich angelegt hatte, um bei einem möglichen Kampf mit weiteren Ungeheuern vorbereitet zu sein.
Jeder, der sie so erlebte, fühlte sich augenblicklich unwohl in ihrer Nähe. Da gab es etwas, das einen zutiefst beunruhigte, wenn man ihr gegenüberstand. Allerdings vermochten die meisten, die ihr begegneten, nichts genaues darüber zu sagen.
Manche meinten, daß ihre ganze Erscheinung den Eindruck erweckte, als wäre sie von allen anderen getrennt. Andere fanden, daß man tun könne, was man wolle, um ihr nahezukommen. Es bliebe dennoch aussichtslos. Anabelle würde entfernt bleiben, nichts und niemanden an sich heranlassen.
Eine Ärztin, die Anabelle gekannt hatte, sagte vor wenigen Wochen zu mir, daß Anabelle eine junge, schöne Kriegerin gewesen sei, die von Geburt an gekämpft habe. Ihr Leben sei für sie wie eine Arena gewesen, in der sie sich ständig bedroht gefühlt habe. Und zur selben Zeit seien all die Kränkungen und Plünderungen, die sie früher erlebt habe, wie ein Sturm durch sie hindurchgezogen.
Diese Ärztin, die mehrere Male Anabelles Wunden versorgt hatte, nachdem sie überfallen oder von Freiern zusammengeschlagen worden war, machte auch noch eine Bemerkung über ihren Körper.
Rein äußerlich sei Anabelles Körper der eines jungen Mädchens gewesen, sagte sie. Aber ebenso ein Körper, in dem sie sich verbarrikadiert habe, nachdem man ihn schön gefunden und begehrt und gewollt und ihn sich genommen habe, ohne sie selbst in ihm wahrgenommen zu haben. Und zwar schon damals, als dieser Körper noch der eines Kindes gewesen sei. Als es noch nicht darum gegangen sei, sich mit ihm zu zeigen, gut anzukommen, schön zu sein.
Und dann fällt mir wieder ein, was Jacques Winter noch über Anabelle sagte. Daß sie auf einen wirke, als sei sie aus einem der Bilder von Jock Sturges oder Fabio Cabral herausgetreten und Wirklichkeit geworden. Als gäbe es keinen schöneren Körper als ihren, nichts Einzigartigeres als den Körper dieses jungen Mädchens, der auf etwas verweise, das noch kommen werde. Doch sei es zur gleichen Zeit unmöglich, die Zeichen zu übersehen, die einem ihr berührter Körper regelrecht vorwerfe.
Ich erinnere mich an Robert Kahnweilers Blick, als er Anabelle an diesem Abend das erste Mal sah. Wie ihm ihr Anblick den Atem stillstehen ließ. Wie er von dem Blau ihrer Augen und dem Ausdruck darin gleichzeitig angezogen und zurückgestoßen wurde.
Ihr Blick habe ihm an diesem Abend wie beiläufig enthüllt, daß sie angetastet worden sei, sagte er nach ihrem Tod zu mir.
Ihre Schönheit sei ihm vollkommen abwegig vorgekommen, denn er habe sie mit nichts von dem, was er sonst noch an ihr wahrgenommen habe, in Verbindung bringen können.
Auch Hélène Kahnweiler war sichtbar beunruhigt, wie sehr Anabelles Schönheit gebrochen wurde durch ihren Blick, der ihre Wunden in einem fort zum Vorschein brachte, sobald man einmal angefangen hatte, diese zu bemerken.
Obwohl sie unsicher war, wie sie sich Anabelle gegenüber verhalten sollte, überwand sie diesen Moment der Unentschlossenheit rascher als ihr Mann und wandte sich direkt an sie.
Als Anabelle erfuhr, weshalb die Kahnweilers gekommen waren, blickte sie minutenlang nach unten. Ihr Gesicht richtete sich wie gebannt auf den Boden. Auf die Frage von Hélène Kahnweiler, ob sie ihr etwas schenken könnten, schwieg sie anhaltend.
Ich sah, daß ihre Hände zu zucken begannen, als hätten sie ein eigenes Leben. Als hätte man ihnen angedroht, sie zu peitschen. Als hätte jedes einzelne ihrer Fingerglieder einen Namen, die von der Peitsche gerufen wurden und die bereits bei der Nennung ihres Namen zurückwichen.
Auch Robert Kahnweiler bemerkte erstaunt das auffällige Zucken ihrer Hände.
Vielleicht habe Anabelle ja einen Wunsch, den sie sich erfüllen wolle, fügte Hélène Kahnweiler freundlich hinzu.
Dann machte sie Anstalten, ihre Handtasche zu öffnen.
Ich denke heute, daß Anabelle, obwohl sie weiter wie unbeteiligt zu Boden blickte, diese Geste zweifellos registrierte. Demnach müßte sie sofort angenommen haben, daß man ihr nun Geld anbieten würde, weil sie den Jungen gerettet hatte, und dies wie einen Angriff empfunden haben. Anders kann ich mir das, was unmittelbar danach geschah, nicht erklären.
Unvermittelt sah Anabelle auf. Ihr Gesicht, in dem sich die Augen unnatürlich geweitet hatten, war zu einer Maske erstarrt. Da war etwas, das wie eine einzige Bewegung durch ihren Körper hindurchging und ihn zurückweichen ließ.
Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment der Schwäche bei ihr. Ich nahm ihre Erschöpfung war, spürte, wie wehrlos sie sich fühlte.
Sekundenbruchteile später entdeckte sie in ihrem Inneren diesen Funken Kraft, den sie benötigte, um den Ansturm von Schwäche zu überwinden.
Im nächsten Atemzug trat Anabelle energisch einen Schritt nach vorne. Mit großer Kraft schlug sie Hélène Kahnweiler kurz hintereinander auf die Hand und ins Gesicht, so daß diese mit einem Schmerzenslaut zurückwich, nach hinten stolperte und gefallen wäre, hätte ihr Mann sie nicht gehalten.
Anabelle war kaum wiederzuerkennen. Sie erschien einem wie eine andere Person, mit dieser Kraft, die sie in sich entfesselte, robust und kampfbereit.
Robert Kahnweilers Körper versteifte sich wie unter einer großen Gefahr. Auch in seinem Gesicht war deutlich die Anspannung zu erkennen.
Anabelle versuchte die richtigen Worte zu finden. Etwas, das wie ein harter Knebel in ihrem Mund steckte und ihr bis tief in ihren Körper hineinreichte, machte ihr das Sprechen zuerst unmöglich. Und während sich ihr ganzer Körper bewegte, als wäre er von dieser fremden Kraft ergriffen worden, preßte sie die Worte aus sich heraus, in Stößen, wie eine Gebärende ihr Kind.
– Erkennen Sie nichts wieder!?
Ihre Stimme klang in ihrer Wut dunkel und schroff.
An dieser Stelle sehe ich Anabelle wieder deutlich vor mir. Sie ist nun vollkommen außer sich. Sie stampft fest mit den Füßen auf, als wollte sie in den Boden unter sich ein Loch treten. Ihre Hände hat sie in die Hüften gestemmt. Sie sind verkrampft, zu Fäusten geballt, daß die Haut über ihren Knöcheln weiß schimmert. Ihr Blick hat einen wilden Ausdruck angenommen.
– Einem Kind zu helfen, wenn es in Not ist, das ist so selbstverständlich, da ist jedes weitere Wort überflüssig.
Und dann, schreiend:
– Hören Sie, ich weiß das, ich weiß alles, ich war einmal Kind, glauben Sie mir das.
Hélène Kahnweiler ist offensichtlich nicht bereit, lange über den Sinn dessen nachzudenken, was Anabelle gesagt hat. Sie geht von einem Mißverständnis aus und versucht sofort, etwas darauf zu erwidern, um die Dinge in ihrem Sinne zu klären.
Ich sehe, daß sie reflexartig eine versöhnliche Handbewegung in Richtung Anabelle macht, die diese erbost abwehrt.
– Dafür gibt es keine Gegenleistung, und ich will von Ihnen nichts haben.
Anabelle ist nicht bereit, das weiter zu erörtern. Allein der bedrohliche Klang ihrer Stimme läßt keinen Zweifel daran aufkommen, wie ernst es ihr damit ist.
Es sei genau derselbe Tonfall gewesen, mit dem sie zuvor angedeutet habe, daß sie kein Kind mehr sei, der ihn habe aufhorchen lassen, sagte Robert Kahnweiler nach ihrem Tod zu mir. Anscheinend habe sie genug darüber gewußt, was es bedeute, selbst Kind gewesen und nicht gerettet worden zu sein.
Ich sehe Robert Kahnweiler, wie er ohne zu zögern Anabelle an der Schulter berührt und sie zwingt, ihn anzusehen. Ich erinnere mich genau an den Ausdruck in Anabelles Gesicht. Ich sehe ihr Zurückweichen, den blanken Haß in ihren Augen, was seine Hand auf ihrer Schulter angeht. Auch, wie Robert Kahnweiler ihrer Bewegung folgt, wie er ihren Blick aufnimmt, ihn annimmt, ohne ihre Schulter loszulassen.
– Offensichtlich ist das nicht selbstverständlich, denn du bist hinausgeschwommen, niemand sonst. Du warst bereits im Wasser, noch bevor irgend jemand etwas bemerkt hat.
Nun schweigt er und sieht sie an.
Sein Blick ist erschöpfend.
Anabelle ist sichtlich überrascht, daß er seine Hand auf ihrer Schulter läßt, wehrt sie nun aber nicht mehr ab. Sie erwidert Robert Kahnweilers Blick lange und hält ihm stand.
Ich sehe ihren herausfordernden Blick, der sanfter wird, je länger der Blickkontakt mit dem Richter dauert.
Es ist, als ob Robert Kahnweiler Anabelles Situation begreift. Als ob er ihr eine Tür zu einem ganz bestimmten Raum in sich öffnet und sie auffordert einzutreten. Was immer Anabelle ihm nun sagen oder zeigen wird, er ist bereit, es mitzuerleben.
– Ich möchte trotzdem nichts von Ihnen.
Anabelles Stimme klingt so leise, daß sie kaum zu verstehen ist.
Robert Kahnweiler nickt.
– Hattest du keine Angst? Man hat mir gesagt, daß unser Junge ziemlich weit draußen war. Du hättest selbst ertrinken können.
Anabelle sieht ihn an.
Da ist ein Ausdruck von Verwunderung in ihren Augen, der mich heute noch niederschmettert. Es ist offensichtlich, daß Anabelle den Richter nicht versteht. Sie durchschaut nicht gleich, was gemeint ist.
Und dann sehe ich, wie sie langsam beginnt zu verstehen.
– Sie meinen, ob ich Angst hatte zu sterben?
Hier ihr Blick auf Robert Kahnweiler. Dieser besorgte Blick, ob sie ihn richtig verstanden hat. Ob ihre Antwort genügt.
Und dann, in ihre Unsicherheit hinein, Robert Kahnweilers erneutes Nicken.
– Ihr hättet beide da draußen sterben können.
Während ich sehe, wie Anabelle abermals zu Boden blickt, spüre ich ihre Hilflosigkeit, ihre große Verlorenheit, die sich ausbreitet wie ein Fluß, der über das Ufer tritt. Wieder sehe ich sie sich selbst überlassen, mit ihrem durch Drohungen und Gefahren aufgestörten Herzen, unter einem gewaltigen, rotumränderten Himmel, an die Kette ihrer Herkunft gefesselt, zerfressen von der Brandung bizarrer Bewegungen, mit denen man sich ihr einst näherte. Und ich höre ihre Schreie die Nacht zerreißen.
– Du hättest sterben können.
Anabelle blickt vom Boden auf und sieht Robert Kahnweiler wieder an. Sie hat die Besorgtheit in seiner Stimme gehört. Langsam begreift sie, daß die Sorge des Richters nicht nur seinem Sohn gilt, sondern ebenfalls ihr.
Sie kann es nicht nachempfinden. Es leuchtet ihr nicht ein. Sie kann einfach nicht verstehen, daß ihr Tod anderen etwas ausmachen würde.
Und dann sagt sie es:
– Dann wäre ich eben ertrunken, da ist doch nichts dabei. Das hätte doch niemanden gestört.
Hélène Kahnweiler zuckt unter Anabelles Worten zusammen.
Auch im Gesicht des Richters kann man erkennen, wie sehr ihn ihre Worte getroffen haben.
Ahnt Anabelle, wie bestürzt man über ihre Worte ist.
Sie zögert einen Moment.
Und dann sagt sie:
– Wir gehen kaputt bei dem, was wir tun. Jeden Tag kann man das sehen, überall. Ich habe es auch schon an mir selbst gesehen.
Ich sehe sie erneut warten, um die richtigen Worte zu finden.
– Der Tod ist doch nichts, man kann doch nicht vor nichts Angst haben.
Sie sieht Robert Kahnweiler an.
Ganz kurz ist ihr Blick, direkt, ohne jede Einschränkung.
– Und obwohl du glaubst, daß der Tod nichts ist und daß nichts dabei ist zu sterben, hast du unseren Jungen gerettet.
Ich erinnere mich deutlich an das Beben in seiner Stimme.
Dann sehe ich, wie Anabelle ihn anlächelt.
Sie legt ihre Hand auf die Hand des Richters, die noch immer auf ihrer Schulter liegt.
Und dann sagt sie:
– Aber ja, er ist ein Kind und er hatte große Angst.
Dann trat Yorck Berliner von hinten an Anabelle heran und legte beide Arme um sie.
Anabelle umfaßte seine Hände und küßte sie.
Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie dankbar nickte und sich verabschiedete.
Kurze Zeit später hörte man Musik aus ihrem Zimmer.
Wir gingen hinüber ins große Zimmer. Wir alle schwiegen. Wir schwiegen noch lange. Wir schwiegen wegen ihrer Worte. Wegen dem, was sie bedeuteten. Was sie für Anabelle bedeuteten. Und für uns. Und für die Welt.
Das Gewicht ihrer Worte und wie es auf uns lag, ich glaube heute, es war ihr nicht wirklich bewußt geworden.
Später, als wir wieder redeten, da, im großen Zimmer, warnte Robert Kahnweiler Yorck Berliner eindringlich davor, weiter mit Anabelle auf diese Weise zusammenzuleben. Hinsichtlich der Phantasie bestimmter Leute könnten die Auswirkungen fatal sein.
Der Richter riet ihm, die Beziehung zwischen Anabelle und ihm in einem Adoptionsverfahren von einem Gericht anerkennen zu lassen. Doch als er ihm sagte, daß es durchaus möglich war, daß er und Anabelle getrennt würden, winkte Yorck Berliner ab. Er wollte nichts mehr davon hören.
Schon lange davor hatte Yorck Berliner keinen Grund mehr gesehen, nach den Vorstellungen der anderen zu leben. Warum sollte er ausgerechnet jetzt damit anfangen. Überhaupt, warum sollte er nicht mit Anabelle leben, wo doch er es war, der für sie sorgte?

Ein Mädchen, das wir kennen. So hatte das Thema des Aufsatzes gelautet.
Folgendes hatte Anabelle geschrieben:
Für andere ist das Mädchen jedesmal etwas gewesen, das ihnen gehörte. Jeder von ihnen hat andere Gründe dafür gehabt, weshalb das so war. Doch für das Mädchen änderte das nichts. Auch wenn manche vertrauliche Sätze zu ihm gesagt haben oder nett zu ihm waren.
Am Ende der Freundlichkeit haben sie es immer bis in die Knochen aufgeschreckt. Vor allem die Männer. An jedem Tag seines Lebens haben sie ihm weh getan und das Mädchen und sein Leben schmutzig gemacht.
Das Mädchen hat keine Worte für das, was sie ihm angetan haben.
Früher hat es nach passenden Worten gesucht. Dabei hat es einen starken Schmerz gefühlt.
Danach hat es sich entschieden, daß es besser keine geeigneten Worte gibt. Und falls doch, wollte es sie um nichts auf der Welt hören. Und während das Mädchen weitergemacht hat wie zuvor, ist sein Leben schon bald weniger geworden.
Eines Tages, als sein Leben beinahe verschwunden war, stand das Mädchen auf der steinernen Mauer am Rande des Meeres. Es hat sehr leise gesprochen und sich gesagt, daß es keine Ende nimmt. Es sagte sich auch manche Dinge, die es sich ansonsten nicht sagte.
Danach fühlte es sich wertlos und müde. Und es weinte. Aus und vorbei, hat es sich gesagt, und daß sich ihm jetzt niemand mehr nähern soll.
Doch dann ist dieser Mann aufgetaucht.
Zuerst hat das Mädchen ihn beobachtet, wie er es aus der Entfernung betrachtete.
Während es noch überlegte, ob es ihn kannte, ist der Mann langsam nähergekommen.
Als er nahe genug war und das Mädchen ihn besser sehen konnte, stellte es fest, daß es ihn nicht kannte.
Der Mann hat es lange schweigend angesehen.
Dann hat er zu dem Mädchen gesagt, daß sein Leben nur im Leben enden kann und daß er es nun heimbringen wird. Dabei hat er dem Mädchen seine Hand entgegengestreckt.
Vielleicht sind es die Worte des Mannes gewesen. Die Art, wie er gesprochen und es dabei angesehen hat. Denn das Mädchen konnte sich nicht erinnern, daß jemals zuvor irgend jemand auf solche Weise mit ihm gesprochen hatte. Jedenfalls fühlte der Körper des Mädchens sich zum ersten Mal nicht mehr kalt an.
Noch bevor das Mädchen den Mann fragte, ob er ihm helfen kann, hat es ihm geglaubt, daß er es heimbringen wird. Es hat ihm geglaubt, bevor es ihm von den Dingen erzählte, die es sich gesagt hatte. Bevor es überhaupt wußte, was es bedeutete, daß sein Körper sich nicht mehr kalt anfühlte. Es reichte dem Mädchen schon aus, daß es spürte, wie sein Körper warm wurde und es innen nicht mehr fror. Und daß es vor allem anderen spürte, daß der Mann bei ihm war.
So hat das Mädchen die Hand des Mannes genommen und ist mit ihm gegangen.
Seit diesem Tag steht der Mann vor dem Mädchen wie ein großer Baum und wirft seinen Schatten auf es.
Der Mann nimmt das Mädchen mit zu sich.
Zunächst gibt er ihm ein eigenes Zimmer und richtet es nach den Wünschen des Mädchens ein.
Das Mädchen sagt ihm, daß es einen Schlüssel haben will, um sein Zimmer abschließen zu können.
Der Mann hat keinen Schlüssel für das Zimmer.
Er sagt zu dem Mädchen, daß es in der ganzen Wohnung keine Schlüssel gibt, für keines der Zimmer.
Das Mädchen erklärt dem Mann, daß es das schon einmal gehört hat, früher, als es noch ein Kind gewesen ist.
Deshalb telefoniert der Mann nach einem Handwerker, der das Schloß in der Tür austauscht.
Nun bekommt das Mädchen einen Schlüssel für sein Zimmer.
Im Beisein des Mädchen bittet der Mann den Handwerker, ebenso das Schloß an der Tür zum Badezimmer auszutauschen. Als der Handwerker sagt, daß das nicht geht, weil die Tür zu alt ist, fordert der Mann ihn auf, an der Innenseite der Badezimmertür einen soliden Riegel anzubringen.
Daraufhin verläßt das Mädchen die Wohnung und geht hinunter zum Strand. Der Mann soll nicht sehen, wie sehr es deswegen weint.
Das Mädchen fühlt sich wie aus allen Himmeln gefallen. Noch nie zuvor in seinem Leben hat jemand etwas so Großes für es getan.
Danach schließt das Mädchen niemals sein Zimmer ab, obwohl es jetzt einen Schlüssel hat.
Als nächstes findet der Mann, daß das Mädchen neue Kleider braucht, einen Rucksack, andere Dinge, die ein junges Mädchen benötigt.
Er fragt das Mädchen, was es davon hält.
Spontan sagt das Mädchen, daß es einverstanden ist.
Dann fällt dem Mädchen ein, daß es gar nicht weiß, was es braucht.
Es sagt, daß es dumm ist, weil es nicht versteht, was ein solches Mädchen, das es nie gewesen ist, anzieht.
Der Mann sagt zu ihm, daß man nun zu zweit ist in dieser Dummheit, der, nicht zu wissen, was ein Mädchen braucht, und daß es sich deswegen keine Gedanken machen soll.
So eine sagenhafte Dummheit, sagen beide gleichzeitig.
Und dann lachen sie laut darüber.
Danach ruft der Mann, der Schriftsteller ist, seine Verlegerin in Paris an.
Er will von ihr wissen, was junge Mädchen heutzutage tragen, in welche Geschäfte man gehen muß. Er fragt nach Alissa.
Seine Verlegerin verspricht ihm, Alissa anzurufen. Sie sagt, daß sie sich mit ihm in Verbindung setzen wird.
Der Mann sagt zu dem Mädchen, daß Alissa ihnen helfen wird.
Das Mädchen will von ihm wissen, wer Alissa ist.
Der Mann erklärt dem Mädchen, daß Alissa die Tochter seiner Verlegerin ist, daß sie ein paar Jahre älter ist als das Mädchen.
Am selben Abend ruft Alissa den Mann an, um sich mit ihm und dem Mädchen im Verlag zu verabreden.
Frühmorgens, am darauffolgenden Tag, treffen sich der Mann und das Mädchen mit Alissa in Paris.
Alissa ist freundlich und aufmerksam. Sie weiß, was angesagt ist. Sie ist hilfsbereit und nimmt Rücksicht auf die Unerfahrenheit des Mädchens, was diese Dinge angeht. Alissa sagt dem Mädchen, was gut an ihm aussieht, welche Farben zu ihm passen, was ansprechend ist und was vulgär. Das Mädchen ist erstaunt, was Alissa alles weiß, und daß sie all diese Geschäfte kennt.
Als der Mann mit dem Mädchen zurückfährt, ist das Taxi voller Tüten und Schachteln. Das Mädchen könnte platzen vor Entzücken.
Irgendwann danach glaubt der Mann, daß es gut für das Mädchen ist, wenn es wieder zur Schule geht. Er spricht mit ihm darüber. Zuerst will das Mädchen nichts davon wissen. Der Mann läßt die Sache auf sich beruhen.
Eines Tages hat sich das Mädchen die Sache mit der Schule anders überlegt. So sagt es dem Mann, daß es doch zur Schule gehen wird.
Bald fährt das Mädchen jeden Morgen mit dem Zug nach Lisieux, um dort zur Schule zu gehen.
Einige Male wartet der Mann vor dem Gebäude der Schule, um das Mädchen abzuholen. Man fragt das Mädchen nach ihm. Außerdem fehlen noch einige Papiere, um es anzumelden.
Das Mädchen sagt allen, daß der Mann, der es abholt, sein Onkel ist. Auch, daß seine Eltern kürzlich bei einem Brand ums Leben gekommen sind. Daß es bei seinem Onkel gewesen ist, als es gebrannt hat. Daß alles verbrannt ist.
Das Mädchen hält sich an das, was der Mann mit ihm besprochen hat.
Man fragt das Mädchen nicht weiter. Niemand hat einen Grund, ihm nicht zu glauben. Außerdem kennen die meisten den Onkel des Mädchens. Sie wissen von den Büchern, die er geschrieben hat. Sie haben in den Zeitungen über ihn gelesen.
Auch das Mädchen hat in den Büchern des Mannes gelesen, ebenso einiges von dem, was man über ihn geschrieben hat. Daher vermutet es, alle denken, daß es besser ist, man legt sich nicht mit ihm an. Nicht wegen einiger fehlender Papiere, die jederzeit nachgereicht werden können, wie das Mädchen in einem der Flure die Direktorin zu seiner Klassenlehrerin sagen hört.
Ein kluges Mädchen, aber noch weit davon entfernt, eine gute Schülerin zu sein, hört es die Direktorin sagen.
An diesem Kind ist etwas Tragisches. Schon wie es sich absondert. Und dann diese Traurigkeit. Wahrscheinlich wegen des unerwarteten Todes ihrer Eltern.
Die Direktorin nickt.
Man muß bei Gelegenheit mit seinem Onkel sprechen.
Die Klassenlehrerin stimmt ihr zu.
Hin und wieder findet der Mann das Mädchen zusammengekrümmt auf dem Boden liegen.
Dann legt er sich neben es. Er öffnet das Hemd des Mädchens und streichelt es. Er streichelt es hinab bis dorthin, wo sein Schreien anfängt. Bis sich das Mädchen in seinen Händen niederlassen kann. Bis es ihm gelingt, sein Schreien anzuhalten. Bis es vorübergeht.
Wenn es vorbei ist, legt der Mann sein Ohr auf die Brust des Mädchens und sagt zu ihm, daß es nicht fortgehen muß, daß es bleiben kann.
Er sagt, daß er jetzt mit ihm ist, dort, in seiner unteren Welt. Bevor das Unglück das Mädchen wiederaufnehmen und ihm erneut die Sprache verschlagen kann, wird er es ablenken.
Das Mädchen schließt die Augen und nimmt die Hand des Mannes und hält sie fest umklammert. Vielleicht versteht es nicht alles, was er zu ihm sagt, aber es spürt genau, daß dieser Mann anders ist als alle Männer, die es bisher kannte.
Das Mädchen sagt sich, er sieht mich, wenn er mich ansieht. Ich kann ihm alles von mir erzählen, ohne daß er erschreckt. Er weicht nie zurück. Und er glaubt mir. Und manchmal, nachts, wenn ich vor lauter Angst aufwache und nicht mehr einschlafen kann, gehe ich zu ihm hinüber. Ich lege mich unter die Decke und drücke mich an ihn und höre zu, wie sein Herz schlägt. Sein Herz, das niemals schlafen kann, weil es für mich wach bleibt, wie er zu mir gesagt hat. Und ich habe ihn nicht gleich verstanden, als er das zu mir sagte. Ich habe gedacht, was redet er da bloß und daß sein Herz schlägt, weil es nicht anders kann. Deswegen habe ich zuerst darüber gelacht. Und plötzlich habe ich ihn verstanden und mußte weinen.
Und so rückt das Mädchen noch näher an ihn heran und flüstert dem Mann ins Ohr, daß er allein die Antwort auf all seine Bitten ist.
(…)

Ich erinnere mich daran, daß vor jenem Abend im Mai das Meer wie toll war. Und an den Regen.
Es regnete Tag und Nacht. Es hörte gar nicht mehr auf. Die Straßen waren wie leergefegt. Es war unmöglich, das Haus zu verlassen.
Vom Fenster aus konnte ich am entfernten Strand zwei Hunde sehen, die dort herumtollten.
Der schwere, vom Meer kommende Wind brachte die beiden Tiere zu dicht an den Rand oder sie wagten sich in ihrem Übermut zu nah heran. Und sofort wälzten sich mannshohe Wellen über sie, packten ihre Körper und zogen sie mit hinaus.
Nach einer Weile spuckte das Meer sie wieder aus, warf sie mit unvorstellbarer Wucht an den Strand zurück.
Dann, in den Tagen danach, als es aufhörte zu regnen und der Nebel verschwand, der den ganzen Himmel bedeckte, erwärmte sich die Luft plötzlich derart, daß von einem verfrühten Sommer gesprochen wurde. Die Cafés ließen ihre Türen geöffnet. Auf ihren Terrassen trafen sich die ersten Leute, um die unerwartete Wärme zu genießen. Nach und nach kamen sie aus ihren Häusern und aus den Hotels. Auf den Straßen, am Strand und in den Cafés, überall waren sie zu sehen. Die Erleichterung darüber, nicht mehr Tag und Nacht miteinander eingesperrt zu sein, diesem Übermaß an Nähe, das sie mehr voneinander entfernt als einander nähergebracht hatte, entkommen zu sein, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie waren glücklich, daß die Regen vorbeigezogen waren, ohne allzu großen Schaden angerichtet zu haben. Und daß das Meer, das nun wieder vor ihnen lag wie ein riesiger hingestreckter Körper, versöhnt war und darauf verzichtet hatte, seine Überlegenheit vollends auszuspielen.
Wenn die Leute später davon redeten, von jenem Abend im Mai, als die drei Wagen vor dem grünen Haus anhielten, wurde dieses Ereignis immer mit dem Regen, dem danach unvermittelt hereinbrechenden Sommer und den beiden toten Hunden in Verbindung gebracht.
– Plötzlich war der Sommer da, von einem zum anderen Tag.
– Nach dem großen Regen.
– Die Hunde, kann sich noch jemand an die beiden Hunde erinnern?
– Ja, wie sie da am Strand lagen, völlig zerfetzt.
– Die Kinder hatten noch nie zuvor etwas derartiges gesehen.
– Das Meer hat ihnen sämtliche Knochen gebrochen.
– Und wie weit aufgerissenen ihre Augen waren.
– Man glaubte zu sehen, was sie durchgemacht haben.
– Das war die nackte Angst. Und der Schrecken.
– Ich habe so etwas noch nie gesehen. Nicht bei einem toten Hund.
– Meine Kleine hat nächtelang von den verdammten Augen geträumt.
– Die Polizisten sind aus den Wagen herausgesprungen.
– Zivile und welche in Uniform.
– Sie sind sofort in das Haus eingedrungen.
– Sie haben die Terrassentür aufgebrochen und sind hineingestürmt.
– Sie waren geschickt und schnell.
– Einer filmte alles mit einer Videokamera.
– So ein Aufwand, ich dachte zuerst an eine Geiselnahme.
– Als ob sie gekommen wären, um einen bewaffneten Schwerverbrecher abzuholen.
– Die wollten es auf die harte Tour, von Anfang an.
– Und irgendwann kamen zwei von denen mit dem Mädchen wieder heraus.
– Die Kleine ist halbnackt gewesen.
– Die sind in ihren Körper eingebrochen wie kurz vorher in die Wohnung.
– Sie waren wie Tiere, ja, große, wildgewordene Tiere.
– Die Kleine hat sich gewehrt, und wie.
– Die mußten drinnen schon gekämpft haben, so ramponiert wie die beiden aussahen.
– Dem einen hat die Nase geblutet, und der andere hatte ein zugeschwollenes Auge.
– Dem mit der blutenden Nase hat sie in die Hand gebissen.
– Und dann, als er sie kurz losließ, um seine Hand aus ihrem Mund zu befreien, hat sie ihm mit voller Wucht ihr Knie zwischen die Beine gestoßen.
– Der klappte zusammen wie ein Taschenmesser, er quiekte wie ein Schwein, als er zu Boden ging.
– Dann konnte der andere sie allein nicht mehr halten, er stolperte und fiel hin.
– Und dann saß sie schon auf seiner Brust.
– Sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt und fest aneinadergepreßt und damit in sein Gesicht gehämmert.
– Die Kleine hatte Übung, das merkte man sofort, die hat nicht zum ersten Mal um ihr Leben gekämpft.
– Hat diese uniformierte Kanaille zwei Vorderzähne gekostet, recht so.
– Was für eine Kraft.
– Wie verzweifelt muß sie gewesen sein.
– Danach sind die anderen gekommen und haben mit ihren Stöcken auf sie eingeprügelt.
– Sie waren verrückt vor Wut.
– Ich habe gerufen: Das könnt ihr nicht machen, das ist ein Kind.
– Sofort kamen zwei von ihnen angelaufen und drohten meinem Mann mit ihren Knüppeln.
– Die Kleine blieb am Boden liegen, sie hat sich nicht mehr gerührt.
– An der Stirn hatte sie eine Platzwunde.
– Und sie blutete aus dem Ohr.
– Anschließend hoben sie sie auf und warfen sie hinten in den Wagen.
– Wie einen Sack Kartoffeln.
– Davor war da noch der Arzt bei ihr, er stieß ihr eine Spritze in den Oberschenkel, nachdem die Polizisten sie niedergezwungen hatten.
– Sie haben an alles gedacht.
– Die Frau, die dabei war, lief nervös mit ihren Papieren herum und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
– Die war vom Jugendamt.
– Ich habe gehört, wie der Arzt zu ihr sagte, daß man das Mädchen nach St. Claire bringen wird.
Ein alter Mann sagte folgendes:
– Das war eine Deportation.
Und dann spuckte er auf den Boden.
– Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die für dich da sind, wenn du sie brauchst. Wenn du sie brauchst, schlagen sie mit ihren Knüppeln gerade auf ein wehrloses Kind ein.
Und dann spuckte er ein weiteres Mal aus. Diesmal voller Verachtung.
– Obwohl wir die deutschen Nazis damals weggejagt haben, hören sie nicht auf, da zu sein. Die haben uns ihr verdammtes Gift dagelassen und es frißt uns auf.
Er fluchte.
– Du mußt das Nazigift in dir drin haben, um so was mit einem Kind zu machen.
Die Jungen, die zum Terrassenfenster hineingeschaut hatten, erzählten, wie die Polizisten im Inneren der Wohnung auf Yorck Berliner losgegangen waren.
– Die haben es ihm richtig gegeben.
– Er und Anabelle wollten sich gegenseitig helfen, aber die hielten sie fest.
– Dann konnte Anabelle sich losmachen.
– Sie ist wie eine Wahnsinnige auf die losgegangen.
– Hat ihr bloß nicht viel genutzt, nicht bei der Übermacht.
– Und wie die Polizisten ihn verdroschen haben.
– Dabei hat er sich nicht einmal gewehrt.
– Erst als sie Anabelle wegschleppten, als sie nach ihm rief, da ist er durchgedreht.
– Aber er hatte keine Chance.
– Zuletzt lag er auf seinem Bett, zwei Polizisten saßen auf seinen Armen und seiner Brust, zwei andere auf seinen Beinen.
Ein älterer Junge mit blauen Augen und schwarzem Haar, ein Eingewanderter, der abseits von den anderen Jungen stand, sagte dies zu mir:
– Ich kenne die. Ich weiß, was sie dir antun können. Zuerst greifen sie dich an. Und dann, nach einer Weile, fühlst du dich schwach. Und dann bemerkst du, wie dein Wille zerreißt. Und noch während du bemerkst, daß dein Wille zerreißt, ist er bereits zerrissen. Und dann ist dein Körper nicht mehr dein Körper.
Ich erinnere mich, daß er seinen Sweater nach oben zog. Auch, daß man eine Anzahl von tief in die Haut gehenden Narben sehen konnte, auf dem Rücken und auf der Brust.
– Wenn sie dich so weit haben, ist deine Schwäche wie eine Tür, die sich ständig vor dir öffnet, ohne sich wieder schließen zu können, und sie können alles mit dir machen.
Er bedeckte seine Narben wieder und blickte eine Weile schweigend zu Boden.
Und dann sagte er:
– Sie haben mit ihm dasselbe gemacht wie mit Anabelle. Sie machen das mit allen. Sie machen das, weil sie das können.
Und dann wieder die anderen Jungen, die sich nun um den Jungen mit den blauen Augen und dem schwarzen Haar herum aufstellten, nachdem sie seine Narben gesehen hatten:
– Erst als der Wagen mit Anabelle abgefahren war und ein Ziviler in das Innere des Hauses ging und den anderen ein Zeichen gab, ließen sie ihn los.
– Vorher schlug der Zivile ihm noch ins Gesicht, mehrere Male, mit beiden Fäusten. Er sagte: Du wirst jetzt schön hier liegenbleiben, du elender Kinderficker. Du bleibst jetzt hier, bis wir dich holen. Und dann schlug er ihm immer wieder ins Gesicht.
– Während die anderen ihn festhielten.
Ein marokkanischer Junge sagte:
– Das war so kraß, was die mit ihm gemacht haben. Und das haben die mit einem Weißen gemacht. Mit einem von ihren Leuten.
– Diese miesen Bullenschweine.
Die Stimme des Jungen mit den blauen Augen und dem schwarzen Haar klang leise, sie war kaum zu hören.
Erst als die anderen Jungen zustimmend nickten, wiederholte er es mit lauter Stimme.
– Diese miesen Bullenschweine.
– Dieser Mann, Yorck Berliner, er stürmte nach draußen und rief nach dem Mädchen. Er rief ihren Namen, andauernd: Anabelle, Anabelle. Er schrie. Er weinte. Er war außer sich.
Es war die Studentin aus Rouen, die das sagte.
– Die Polizisten waren von seinem Auftauchen überrascht, sie wußten zuerst nicht, wie sie sich verhalten sollten.
Ihre Stimme bebte geradezu, als sie weitersprach.
– Nachdem das Mädchen nicht antwortete, wiederholte er seinen Ruf.
Sie schwieg einen Moment.
– Ich werde seine Stimme bis ans Ende meines Lebens nicht mehr vergessen.
Um sich wegen der Erinnerung an seine Stimme am Weinen zu hindern, wandte sich die Studentin aus Rouen jäh ab und schaute in den Himmel über dem Meer.
– Und dann das Blut, überall sein Blut, es tropfte aus seinem Gesicht überall hin.
Die Studentin aus Rouen schaute weiter lange in den Himmel.
Sie wirkte in diesen Augenblicken wie eingeschlossen in jener hoffnungslosen Geste des Zurückbehaltens ihrer Gefühle, die ich jetzt beim Schreiben wiedersehe.
– Und als dann keine Antwort kam, warf er sich ohne zu überlegen auf einige von denen, die noch in der Nähe der Tür standen, und ging mit ihnen zu Boden.
Dann kehrte die Studentin aus Rouen ihre Blicke vom Himmel ab, um mich anzusehen.
– Er kniete über einem von ihnen und verabreichte ihm in rascher Abfolge mehrere Fausthiebe ins Gesicht. Ich sah, wie die Haut des Polizisten aufplatzte.
Erst jetzt, wo ich ein weiteres Mal darüber schreibe, fällt mir auf, wie schwer es der Studentin fiel, überhaupt davon zu sprechen, über diese Gewalt, die sie miterlebt hatte.
– Die anderen brauchten einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.
An dieser Stelle erkenne ich jetzt deutlich ihren Widerstand.
Sie wollte nicht weitersprechen.
Doch dann überwog ihr Wunsch, darüber zu sprechen.
– Sie standen auf und griffen nach ihren Knüppeln. Auch die anderen, die herangeeilt kamen, holten ihre Knüppel hervor. Und auch er richtete sich blitzartig auf. Er nahm den Knüppel des verletzten Polizisten an sich und drohte ihnen damit.
Ich frage mich, weshalb ich, als ich zuerst darüber schrieb, übersehen habe, wie bestürzt sie über die Gewalt war, die sie miterlebt hatte, wo es doch offensichtlich ist.
– Er schrie, so habe ich noch nie zuvor einen Menschen schreien hören.
Die Studentin preßte ihre Hände ineinander.
– Dann, plötzlich, hörte er auf, sich zu bewegen.
Sie schaute dorthin, auf jene Stelle am Strand, wo es passiert war.
– Wie irgendwo zurückgeblieben, legte er den Knüppel auf den Boden. Dann hob er beide Arme, bis seine Handflächen auf die Uniformierten deuteten. Er gab auf, tief in sich drin gab er auf. Die anderen verstanden das sofort.
Die Studentin aus Rouen war im Nachhinein noch darüber erstaunt.
Ein langen Moment, als könnte sie auf diese Weise etwas von dem Geschehenen rückgängig machen, deutete sie auf die Stelle, an der das alles geschehen war, unmittelbar vor dem grünen Haus.
– Während sie ihre Knüppel sinken ließen und betreten zu Boden blickten, ging er zurück ins Haus. Abends holten sie ihn dann ab, um ihn zu verhören.
– Er hat nichts mit Anabelle gemacht, was sie nicht wollte.
Die anderen Jungen bestätigten, was dieser Junge sagte.
– Einmal waren sie beide abends draußen.
Der Junge deutete auf Yorck Berliners Wohnung, auf die zum Meer hin offene Terrasse.
– Sie hörten Musik und lachten und er lackierte ihr die Finger- und Fußnägel und dann lackierte sie seine Nägel.
– Sie hatten viel Spaß an dem Abend.
– Er hat sich um Anabelle gekümmert.
– Nachdem sie bei ihm lebte, ging sie sogar wieder regelmäßig in die Schule. Wir sahen sie immer auf dem Schulhof.
– Sie gehörte irgendwie nicht dazu.
– Aber es schien ihr nichts auszumachen.
– In den Pausen saß sie draußen auf dem Schulhof oder in einem der Gänge. Meistens hat sie gelesen.
– Als ob sie es gewohnt war, allein zu sein.
– Und wenn man sie ansprach, hörte sie einem zu. Und manchmal sagte sie etwas.
– Sie gefiel uns allen, sie war was Besonderes.
– Ein Klassemädchen.
– Wir waren auch ein bißchen verliebt in sie.
– Keiner hier kann sagen, woher sie kam, wie lange sie am Strand gelebt hat, oder wo sie war, wenn sie nicht hier war. Wir haben sie oft gesehen.
Der Mann, der das sagte, sah seine Frau fragend an.
– Ihre Schönheit und dann dieses Leben am Strand, wie eine Obdachlose, ich konnte das nie zusammenbringen. Und sie war offenbar klug, sie las Bücher. Ich habe sie nie ohne ein Buch gesehen.
Die Frau überlegte.
– Dieser Schriftsteller wußte, was er tat, als er sie mit zu sich nahm. Er war der einzige, der wußte, was zu tun war. Ich glaube nichts von dem, was man über ihn gesagt hat.
Und dann sagte der Mann dies:
– Für das Mädchen war es das größte Glück ihres Lebens, daß sie ihm begegnete.
Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau.
– Ich sprach einmal mit ihr, als sie schon bei ihm wohnte.
Seine Frau blickte ihn überrascht an.
– Du hast mit ihr gesprochen?
Der Mann erinnerte sich. Und dann gab er wieder, was Anabelle zu ihm gesagt hatte:
– Früher hat man mir die Haut heruntergerissen. Ich mußte alles tun, um ein bißchen geliebt zu werden. Das ist jetzt vorbei. Ich glaube, ich bin gerade zum ersten Mal glücklich.
Jäh preßte der Mann beide Hände vor sein Gesicht, um eine plötzliche Erschütterung zu verbergen.
– Da war ein solches Vertrauen. Manchmal, wenn sie seine Hand nahm, konnte man es bemerken.

Ich weiß heute, daß Anabelle sich mehrere Tage in Lyon aufhielt. Sie wurde in den ersten Septembertagen dort gesehen.
Genauer gesagt, war sie beim Diebstahl von Zigaretten und Lebensmitteln in der Abteilung eines Kaufhauses von einer Kamera erfaßt worden. Doch offenbar hatte sie die beiden Detektive, die sie durch die Stockwerke verfolgten, rechtzeitig bemerkt und konnte ihnen entkommen.
Falls sie vorhatte, nach Trouville zu fahren, hätte sie von Lyon aus den Zug nehmen können. Wäre sie gleich morgens gefahren, hätte sie am frühen Nachmittag in Trouville sein können.
Aber ich glaube nicht, daß sie den Zug genommen hätte. Mit dem Zug hätte sie über Paris fahren müssen. Sie hätte nach ihrer Ankunft am Gare de l’Est oder Gare du Nord den Bahnhof wechseln und von St. Lazare aus weiterfahren müssen. Wahrscheinlich hätte sie dort einen Aufenthalt gehabt. Und ich weiß, daß man sie auf dem Bahnhof St. Lazare einmal zusammengeschlagen hat.
Nein, ich denke, sie wäre per Anhalter gereist, wie früher schon. Höchstwahrscheinlich hätte sich jemand gefunden, der sie mitnahm. Von einer der Raststätten aus, bei Lyon. Vielleicht ein älteres Ehepaar, auf dem Weg an die Küste. Oder eine Familie mit Kindern.
Anabelle hätte sich auf einer Raststätte zuerst mit den Kindern angefreundet und die Kinder hätten anschließend ihre Eltern gedrängt, sie mitzunehmen. Sie hat mir einmal erzählt, daß es so am einfachsten sei, ohne belästigt zu werden: ein älteres Ehepaar oder eine Familie mit Kindern.
Doch weshalb Quimperle? Gab es dort jemanden, den sie kannte? Oder wollte sie nur so schnell wie möglich aus Lyon verschwinden und war irgendwo mitgefahren und schließlich in Quimperle gelandet? Hat sie damit gerechnet, in Quimperle jemanden zu finden, der sie nach Trouville mitnehmen würde?
Obwohl sie diesen Brief geschrieben hat, denke ich immer noch, er wäre ohne Bedeutung geblieben, wenn es ihr gelungen wäre, nach Trouville zurückzukehren. Denkbar wäre, daß sie Yorck Berliner von diesem Brief erzählt oder ihn ihm vorgelesen hätte. Oder der Brief wäre zufällig von ihm entdeckt worden, vielleicht wenn er nach ihrer Rückkehr ihren Rucksack ausgepackt hätte.
Schon die Tatsache seiner Existenz hätte ihn tief bestürzt. Er hätte ihre ganze Liebe darin gesehen und zu ihr gesagt, daß es völlig ausgeschlossen sei, mit soviel Liebe in sich sein Leben wegzuwerfen wie eine alte Büchse und diese Liebe zu verraten.
Komm, laß uns die Platte von Audrey Hepburn auflegen und miteinander tanzen, hätte er zu ihr gesagt.
Anschließend hätte man sehen können, wie er sich ihr genähert hätte, aufmerksam, als glaubte er, daß auch nur eine einzige falsche Bewegung von ihm sie unwiderruflich zerstören könnte.
Man hätte gesehen, wie sie bei seinem Näherkommen ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihn lange angesehen hätte. Er hätte sie liebevoll umfaßt und zärtlich über ihren Rücken gestrichen, eine Geste, die von ihr erwidert worden wäre.
Wie oft zuvor in ihrem letzten gemeinsamen Sommer hätte man sie auf der Terrasse tanzen sehen können. Und aus der Wohnung hätte man die Stimme von Audrey Hepburn gehört: Moon River, wider than a mile/ I'm crossing you in style some day…

Auszug: Lisa, Elisa, Anabelle
© RW; 2008, BoD
ISBN: 978-3837015065

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