Sonntag, 26. August 2012

Marie und der Mann vom Strand


Eines Morgens, ich war früh aufgestanden, sind Sie mir begegnet. Als die Sonne aufging, war ich bereits am Strand und hielt dort nach Ihnen Ausschau. Es war noch kühl. Und ich war glücklich. Und der Himmel war weit, weiter als alles.

Ich sehe Sie. Sie stehen auf und gehen einige Schritte aufs Meer zu. Dort betrachten Sie aufmerksam die Wellen. Und dann, für einen Moment, wirken Sie konzentriert und überhaupt nicht mehr betrunken.
Und ich sehe: Sie warten noch, Sie wissen nicht worauf. Und dann betreten Sie das Meer wie einen Raum und laufen lange hinein. Eine große Welle kommt, nimmt Sie, wirbelt Sie nach oben und läßt Ihren Körper kurz in der Luft tanzen. Es sieht aus, als versuchten Sie die Welle hinaufzuklettern. Und dann schlägt Ihr Körper schwer auf das Wasser. Unbeeindruckt davon, gehen Sie weiter ins Meer hinein. Und dann gehen Sie noch ein Stück weiter. Dabei bewegen Sie Ihren Körper, als gehörte er einem anderen. Und schließlich verläßt diesen zwar zu Ihnen gehörenden, aber Ihnen doch völlig fremd vorkommenden Körper die Kraft. Und dann lassen Sie sich widerstandslos zurücktreiben. Danach sitzen Sie am Rand des Wassers, ein einziger schwarzer Schatten, inmitten dieser Lichtfülle.
Ich sehe, daß Sie angestrengt auf Ihren Körper hören, als ob Sie versuchten, eine Liste der Schmerzen aufzustellen, unter denen er leiden müßte, nachdem das Meer ihn an den Strand zurückgeworfen hat. Doch Ihr Körper bleibt weiter stumm. Und nach einer Weile kriechen Sie auf allen Vieren über den Strand in Richtung der Whiskyflaschen, die Sie dort liegengelassen haben. Als Sie sie erreichen, zeigt sich so etwas wie Freude in Ihrem verwüsteten Gesicht. Und ich sehe: Sie sind erleichtert. Mehr noch, durch das Wiederfinden der Whiskyflaschen stellt sich ein großes Glücksgefühl bei Ihnen ein. Ihre Augen beginnen zu glänzen. Überhaupt steht der Ausdruck Ihres Gesichts, in dem Moment, als Sie die Flaschen wiederfinden, in einem ergreifenden Gegensatz zu Ihrem Körper, der unentwegt zittert. Dann, während Sie die eine Flasche in großen Schlucken leeren, zeigt Ihr Körper, der abwechselnd über den Stand kriecht und taumelt, längst das ganze Ausmaß seiner Zerstörung.
Mit einer bemerkenswerten Ausdauer trinken Sie sich in Richtung auf ein wie auch immer beschaffenes Ende. Womöglich wissen Sie das längst. Denkbar ist auch, daß Sie sich gleichzeitig diesem Ende entgegenstellen. Wenn man Sie genau beobachtet, bemerkt man, daß Sie keine Mühen scheuen, dieses Ende unentwegt hinauszuzögern. Sie werden sich wahrscheinlich fragen, wann Ihr Körper endlich aufgibt, die anhaltenden Bilder von etwas beherbergen zu wollen, über das keiner etwas Genaues weiß, auch wenn alle darüber sprechen: Bilder von einem großen Unglück vielleicht.
Dann beginnen Sie laut zu reden, mit niemandem. Ich kann nicht verstehen, was Sie sagen. Ich nähere mich Ihnen noch weiter. Sie bemerken mich nicht. Sie bemerken gar nichts. Ich könnte mich unmittelbar neben Ihnen aufhalten, ohne daß es Ihnen auffiele.
Erneut sagen Sie etwas, Sie sagen es in den Sand. Sie treten nach dem Gesagten, wie man nach einem Hund tritt. Dann lachen Sie kurz auf. Ihr Lachen hört sich an, als ob ein Tier schreit. Und dann beginnen Sie zu weinen. Unter Tränen begraben Sie die andere Whiskyflasche im Sand.
Danach stehen Sie langsam auf und entfernen sich rückwärtsgehend vom Meer. Und Sie weinen noch immer. Und gelegentlich zögern Sie. Und dann bleiben Sie stehen. Vielleicht wollen Sie sich gar nicht vom Meer entfernen, wegen seiner Schönheit. Oder weil Sie es zu sehr lieben. Vielleicht wollen Sie immer in seiner Nähe bleiben, um dort zu trinken. Und doch entfernen Sie sich heute, als ob Sie sich nur so daran hindern könnten, am Meer zu trinken.
Und an diesem Nachmittag scheitern Sie. Denn wenig später sehe ich Sie bereits zurückkehren. Sie graben die Whiskyflasche aus. Sie trinken hastig. Sie lachen laut. Und Sie sprechen. Sie sagen etwas, zu niemandem. Und Sie lachen erneut. Und dann bringt Sie Ihr eigenes Lachen so sehr aus der Fassung, daß Sie laut aufschreien. Danach lassen Sie sich in den Sand fallen. Und dann starren Sie auf das Meer. Und Sie trinken weiter.
Später, als die ersten Menschen zurückkommen, sitzen Sie noch am Strand, ganz nah am Meer, mit Blick auf die weite Ebene des Wassers.
Dann sehe ich die Kinder. Ich sehe, wie die Kinder Sie betrachten, mit dieser sonderbaren Ungeduld, die ihnen eigen ist.
Sie sind ein Ereignis für diese Kinder, so einen wie Sie haben sie noch niemals zuvor gesehen. Mit angehaltener Spannung nähern sie sich Ihnen, einige wagen sich so weit vor, daß sie Sie berühren könnten. Doch die Erwachsenen sind zu sehen, ihre Leute, die Mütter und Väter, Verwandte, die die Kinder beaufsichtigen und sie von Ihnen zurückrufen, während sie selbst sich absichtlich von Ihnen abwenden. Von alldem bleiben Sie unberührt.
Ich sehe Sie dort sitzen, in der Nähe des Meeres. Sie trinken, das ist alles, was man sagen kann. Sie trinken, bis die Flasche leer ist. Und danach sitzen Sie immer noch reglos vorm Meer.
Noch bei Einbruch der Dämmerung sitzen Sie dort, in derselben Körperhaltung wie am Mittag, völlig unbeweglich. Sie starren aufs Meer, auf den sich verändernden Himmel. Sie schauen. Sie warten. Und als sich im Vorübergehen für einen Moment unsere Blicke begegnen, spüre ich Ihren Schmerz so stark, daß mir schwindlig davon wird.
In dieser Nacht träume ich von Ihnen wie von einem Verschwundenen.

Seit ich Sie im Amerikanischen Hospital, wo ich meine Mutter besuchte, zum ersten Mal gesehen habe, war ich jeden Morgen am Strand, um Sie zu beobachten. Niemals sprachen Sie mit jemandem. Sie sind wie ich: Sie sprechen mit keinem.
Schon vom ersten Tag an redet man über Sie. Denn es ist wahr: Sie sind ein Mann, der auffällt. Man kennt Sie, man kennt den Fotografen. Man kennt Ihre Bilder. Vor allem erinnert man sich an die letzten Serien Ihrer Bilder, die aus Laand, diese schrecklichen Bilder, die plötzlich in ihrer aller Leben waren. Auch, daß man erstaunt darüber war, fassungslos, wie erstarrt, als man bemerkte, wie sehr sich diese Bilder verändert hatten, als wären Sie beim Fotografieren in einen Abgrund gestürzt. Etwas, das sich bereits in früheren Fotografien angekündigt hatte, ließ sich nicht länger verbergen, es hatte sich in den Vordergrund gedrängt und die Verhältnisse von Schwarz und Weiß verschoben. Unablässig erzählte es von einer bitteren Nacht, in der ein unbegrenzter Blick durch den Tod regelrecht erzwungen worden war. Es gab kein Darüberhinaus mehr, um diese Maßlosigkeit zum Verschwinden zu bringen. Die Zeitungen waren voll mit Ihren Bildern dieses Abgrunds. Ihre Bilder des Krieges in Laand erregten Aufsehen. Sicher sprach man auf der ganzen Welt von nichts anderem mehr. Diese Bilder könnten an nichts mehr gemessen werden, was man kenne, sie würden alles überschreiten, sagte man. Sogar die Bilder aus den Nazilagern wurden als Vergleich herangezogen. Schließlich zeigte man Ihre Bilder im Fernsehen, auf allen Kanälen sprach man stundenlang davon. Man sagte, es würde sich um Bilder handeln, die vor nichts mehr haltmachten, Bilder, die aus einer Welt stammten, die vor nichts mehr haltmachte. Man versuchte auch, diese Bilder abzuwehren, sie zu begrenzen. Instinktiv weigerte man sich zu glauben, daß die auf Ihren Fotografien abgebildete Welt mit der eigenen Welt in Verbindung stand. Gleichzeitig wußte man, daß man rein gar nichts hatte, um die einzigartige Wahrheit dieser Bilder zurückzuweisen. Als sicher galt irgendwann nur dies: man würde diese Bilder nie wieder loswerden. Und so sehr man auch unausgesetzt nach passenden Worten für Ihre Bilder suchte, entweder um ihnen einen Platz in der eigenen Welt zu verschaffen, oder ihnen diesen Einlaß zu verwehren, fand man nichts mehr. Denn es war so, daß die Worte, die man kannte, nicht mehr zu den Bildern paßten, die man sah. Und am Ende einigte man sich darauf, keine Worte zu haben für Ihre Bilder. Auch nicht für das, was von Ihnen fotografiert worden war. Auch nicht für Sie.
Und dann sagte es jemand: daß Sie gestorben sein müßten, um solche Bilder machen zu können.
Seitdem haben die Leute eine gewisse Vorstellung davon, was es bedeutet, außer sich zu sein und den Vorrang der Person aufzugeben für etwas Ähnliches. Und daß es möglich ist, sich von sich selbst zu lösen, ohne sich dabei vollends zu verlieren. Sie haben es ihnen vorgeführt, zuerst mit Ihren Bildern. Und dann mit Ihrer Ankunft.
Und die Leute sagen:
– Der Mann vom Strand.
– Daß er einer von uns ist, das ist kaum vorstellbar.
– Daß er einmal ein normales Leben geführt hat wie Sie und ich, nicht auszudenken.
– Und jetzt ist er aus dem Leben herausgefallen, keiner weiß warum.
– Schauen Sie ihn sich an, ein verdammtes Wrack.
– Vielleicht ist es von einem zum anderen Tag geschehen, ohne jeden Grund.
– Oder es war nichts, bestenfalls eine Kleinigkeit, die dazu führte, etwas ganz und gar Unbedeutendes.
– Warum hat er sich dafür entschieden, hierher zu kommen, dieser Mann.
– Die Küste ist lang, warum ist er nicht in die nächste Stadt gegangen.
Was mit Ihnen geschehen ist, die Leute interessieren sich dafür. Man erkundigt sich, stellt Fragen. Und schon vermuten die Leute Verschiedenes. Etwa, daß etwas Ihr altes Leben ausgelöscht habe. Und daß Sie den Ort, an dem Ihr altes Leben stattgefunden hätte, zerstört haben, um nicht mehr dorthin zurückkehren zu müssen. Anschließend könnten Sie nach Talassa gekommen sein, um zu vergessen. Dennoch: es wäre Ihnen nicht gelungen, sich zu entkommen. Immerhin sei das Gedächtnis kein Spiegel, auf dem sich die Dinge verflüchtigen, sobald man sich abwende. Die Welt der Erinnerungen sei dauerhaft, egal, ob und was Sie versucht hätten zurückzulassen. Sie seien einer, der sich davongemacht habe, vielleicht nach einem Verbrechen oder nach einem Unglück, etwas, das von Ihnen selbst verschuldet worden sei. Der Schmerz halte Sie noch in der Welt, sonst halte Sie nichts mehr in der Welt.
Und die Leute sagen:
– Niemals wird er diesen Schmerz aufgeben, so einen unerhörten, grauenhaften Schmerz über etwas abschließend Schreckliches.
Einer nennt dieses Schreckliche dann beim Namen.
– Der Mord an einem Kind und der Selbstmord einer Frau.
Es habe in den Zeitungen gestanden, im vergangenen Jahr, um die Weihnachtszeit.
Man müsse sich noch daran erinnern können, an diese Geschichte.
Die Frau habe zuerst das Kind und dann sich selbst umgebracht.
– Eine abscheuliche Sache, sein Kind zu töten.
– Wie groß die Not dieser Frau gewesen sein muß, unvorstellbar groß.
– Manche Frauen in Laand töten ihre Kinder, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen.
– Trotzdem, das eigene Kind zu töten, es bleibt eine abscheuliche Sache.
Einige nennen Sie bereits den toten Mann vom Strand.
– Ein Mann in Ketten, am Ort des Todes.
Andere finden durchaus, daß Sie dem Fremdenverkehr schaden werden.
– Zuerst der Krieg und jetzt dieser Mann.
Ein paar Leute gibt es, die sich um Sie sorgen, wenn Sie mitten am Tag betrunken durch die Straßen der Stadt irren.
Und die Leute sagen:
– Er verliert öfter das Bewußtsein und liegt dann leblos am Strand.
– Manchmal ist es so, als ob er in sich zusammenfällt, dann sitzt er am Strand, mit einem starr auf das Meer gerichteten Blick.
– Und am nächsten Tag redet er ohne Unterbrechung, atemlos, wirres Zeug, mit einer Stimme, die seltsam leiert.
– Dann spricht er wildfremde Leute an, vor allem Kinder.
– Wir müssen die Kinder vor ihm schützen.
– Nein, die Kinder haben keine Angst vor ihm.
– Für die Kinder ist er eine Sensation, ein solcher Mann.
– Manche haben auch Mitleid mit ihm.
Und andere haben Vorahnungen. Etwa die, Sie könnten einen Unfall erleiden, indem Sie von den Kais betrunken ins Meer stürzen. Auch, daß Sie ins Meer gehen könnten, absichtlich. Jemand sagt es: Selbstmord.
Die Dinge in Ihnen erregen Aufsehen, während sie sich vollbringen, das ist immer alles, was man weiß. Und keiner, auch Sie selbst nicht, können das Ausmaß dessen, was sich in Ihnen hervorbringt, auch nur im Entferntesten ermessen. Ihre Wirkung auf die Leute hier ist mindestens so aufsehenerregend wie Sie selbst.
Sie hingegen können nicht anders, als außer acht zu lassen, was die Leute über Sie denken und reden. Wenn Sie sich stundenlang am Strand aufhalten, um mit Ihren Blicken das Meer nach etwas abzusuchen, von dem allein Sie eine genaue Kenntnis haben, und dabei weinen, schreien oder laut mit sich selbst sprechen, erfordert das Ihre gesamte Aufmerksamkeit. Und dann ist es Ihnen egal, wie man über Sie spricht, oder daß Ihre Schreie durch die Straßen von Talassa ziehen und alle erschrecken. Würde man Sie in der Stadt darauf ansprechen, wüßten Sie wahrscheinlich nicht, was man von Ihnen wollte. Sie würden abwehrend den Kopf schütteln und sich abwenden und erneut den Weg zum Strand einschlagen. Und dabei gäbe es gewiß noch etwas in Ihnen, das sich zur selben Zeit wünscht, Sie wären angesehen bei den Leuten. Etwas, das zumindest das Mitgefühl der Leute und vielleicht ihre Nachsicht erhofft. Doch Sie haben jede Kenntnis davon verloren. Und so ist es Ihnen gleichgültig, ob die Leute Mitgefühl für Sie aufbringen oder nachsichtig mit Ihnen sind, oder ob sie Sie verstehen oder nicht, das alles ist für Sie kaum noch von Interesse. Gleichsam würden Sie darauf bestehen, daß die Dinge, von denen Sie befallen sind, das unbedingte Recht hätten, sich auszuwirken.
– Er ist ein Verlorener, er ist für uns verloren, lassen wir ihn, sagt jemand über Sie.
Doch ich will nicht, daß Sie für uns verloren sind. Und wenn Sie für uns nicht verloren sein sollen, muß jemand Sie sehen und schön finden. Warum nicht ich?

Am Morgen sind nur wenige Menschen am Strand unterwegs. Einige führen ihre Hunde aus. Andere laufen ihre tägliche Strecke ab. Und das Licht ist wie manchmal um diese Tageszeit. Aus der Entfernung sehe ich Sie. Sie wirken wie jemand, der etwas verloren hat und angestrengt danach sucht. Gleich darauf, als ich näherkomme, bemerke ich, daß Sie lediglich große Steine einsammeln und sie in Ihrem Rucksack verstauen. Ihre Bewegungen sind auffallend langsam. Ihr Gesicht ist verzerrt, Schmerz und Anspannung sind darin zu erkennen. Mehrere Male unterbrechen Sie sich, Sie schütteln den Kopf und schlagen die Hände vor Ihr Gesicht. Und nach einer Weile lassen Sie Ihre Hände wieder fallen, stehen da, schauen aufs Meer, bis es sich wiederholt, bis nichts mehr geschieht, außer daß die Zeit vergeht und Sie aufs Meer blicken und versuchen zu vergessen.
Dann, nachdem weiter Zeit vergeht, beginnen Sie aufgeregt zu gehen. Sie bewegen die Arme, ähnlich einem Seiltänzer, der sich in großer Höhe im Gleichgewicht hält. Schon laufen Sie los, zuerst langsam, dann schneller. Sie schauen sich mehrere Male um, heben abwehrend die Hände nach oben, laufen noch schneller und entfernen sich rasch, bis ich Sie kaum noch sehen kann. Und schon kommen Sie wieder zurück und laufen in die entgegengesetzte Richtung und steigern das Tempo Ihrer Schritte noch. Erneut schauen Sie sich um, heben Ihre Hände, um etwas zurückzuschlagen, das sich Ihnen nähert. Es muß sich um etwas sehr Großes handeln, das Sie über den Strand hetzt, etwas Außerordentliches, Mächtiges, das allein Sie sehen können. Und nachdem Sie einige Male so von der einen in die andere Richtung gelaufen und wieder zurückgekehrt sind, halten Sie unerwartet an und scheinen nun mit dem, was Sie verfolgt hat, zu sprechen. Sie strecken die Hände nach ihm aus, und Ihr Gesicht nimmt einen wilden Ausdruck an. Sie reden eindringlich auf dieses Etwas ein, das Ihnen da erscheint, schreien regelrecht auf es ein, und zuletzt greifen Sie mit beiden Händen nach ihm. Plötzlich scheint es verschwunden zu sein, sogar für Sie. Es hat sich davongemacht, gerade als Sie bereit waren, sich ihm zu stellen. Und die Enttäuschung darüber steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch Sie geben noch nicht auf. Denn Sie folgen diesem geheimnisvollen Etwas noch immer, reden dabei unentwegt auf es ein und versuchen, es zum Einhalten zu bewegen. Bis Sie anhalten, mitten in einer Bewegung, resigniert, erschöpft, den Kopf zur Seite geneigt, während wieder Zeit vergeht, in der Sie sich langsam, in einer unnachahmlichen Bewegung dem Meer zuwenden und erneut warten, bevor Sie sich auf Ihren Rucksack zu bewegen, ihn entschlossen schultern und völlig ruhig und mit großen Schritten ins Meer gehen, ohne jede Eile. Sehr schnell zerren die ersten Wellen an Ihnen, werfen Sie herum, lassen Sie stürzen. Doch Sie stehen wieder auf, gehen weiter, unbeirrt. Und Sie gehen weit, sehr weit ins Meer. Sie gehen ins Meer, bis Sie verschwunden sind.
Erneut vergeht Zeit, lange geschieht nichts. Dann werden Sie von einer Welle an die Oberfläche geworfen und an den Strand gespült. Sie liegen mit dem Gesicht im Sand, Sie bewegen sich nicht mehr. Und Sie haben Ihren Rucksack im Meer verloren.
Nach einer Weile stehen Sie auf. Sie schreien das Meer an. Sie strecken dem Meer Ihre Faust entgegen. Dabei ist in Ihren Blicken und Bewegungen eine furchtbare Unruhe zu erkennen, die Sie vollständig ausfüllt. Und dann sehe ich, wie der Tod darauf wartet, daß der Schmerz aufhört, Sie an das Leben zu binden.
Nach und nach hat der Tag die Nacht beiseite geschoben, und dann ist es richtig hell geworden. Im Licht des beginnenden Tages sitzen Sie am Strand, als wäre Ihr Körper in der Mitte gebrochen. Sie starren auf das Wasser, auf die endlose Weite des Meeres. Dabei wirken Sie leblos, wie in atemloser Spannung zwischen Furcht, Schmerz und Hoffnung. Es hat Ihren Körper nicht gewollt, das Meer, es hat ihm diese eine Last abgenommen, die der Steine. Wie die Tage zuvor, hat das Meer Ihnen auch heute Ihren Tod gestohlen. Als das Meer Sie diesmal zurückbringt, beschließe ich, Sie für immer zu lieben.
(…)

Es ist so: Mit dreizehneinhalb habe ich Sie schon gekannt. Nachdem Sie mich angesehen haben, durch Ihre Bilder, und mir so Ihre Geschichte erzählt haben, habe ich den Wunsch, Ihnen zu begegnen. Ich will Ihnen von mir erzählen, vielleicht alles. Ich will, daß Sie lesen, was ich schreibe. Und ich denke, ich werde es lieben, daß Sie dies tun, schon mit dreizehneinhalb dachte ich das.
Schon mit dreizehneinhalb habe ich mich entschieden, Ihnen zu schreiben. Ich habe Ihnen keine Briefe geschrieben, sondern in blaue Hefte, wie ich es für gewöhnlich tue. Und darin, in meinen blauen Heften, habe ich Ihnen meine Geschichte erzählt. Ich habe zu Ihnen gesprochen wie zu einem kranken Kind, das nicht einschlafen kann. Dann, während ich mich erinnerte, an die Geschichte, die ich Ihnen von mir erzählen wollte, war da wie immer die atemlose schwarze Nacht, die Nacht der Buchstaben, der Wörter, unterbrochen von der reglosen Schwärze des Wassers, auf die mein Blick heute wieder trifft, wenn ich aufsehe von dem weißen Blatt und hinaus aufs Meer schaue.
Einmal, beim Betrachten Ihrer Fotografien, zuerst im Château Casalas, dann, später, in den Büchern, sah ich, daß Sie viele Dinge gesehen hatten. Da gab es alle möglichen Tode von Kindern, Frauen und Männern, furchtbare Tode, die einen den Blick neigen ließen und es einem schwer machten, irgend etwas wiederzuerkennen. Und die zerstörten Städte, in denen nichts mehr wiedergefunden werden konnte, keine Spur der Verbrechen, die dort stattgefunden hatten. Nur Asche. Und Dämmerung. Und dann die Nacht. Und dann der nächste Tag. Und danach, am nächsten Tag, kein Wiederfinden und gar nichts, was über Nacht zurückgekehrt war. Und die Asche, wie am Tag zuvor, die ganze Asche, wie die Gischt des Meeres. Und blutgetränkte Landschaften, die ihr eigenes Licht erzeugten, das sich dem Licht des Himmels entgegenstreckte, und die einen vor Angst ersticken ließen. Und tausendmal Gerüche und Geräusche, die aus den Stätten der Verbrechen hervorquollen und sich im Zittern ihrer Bewohner verirrten. Und Träume von Menschen, in denen die Kinder wieder schliefen und die Frauen zurückkehrten, aus den Lagern, am Rande der Wälder. Und tausendmal Blicke auf eine riesige Sonne, die den gesamten Horizont ausfüllte, dort, über der Weite des Meeres. Und tausendmal Leere, in der nichts geschah, in der man wartete und der Leere zuhörte, ohne darüber traurig zu sein, ohne verstehen zu können. Und dann die Berührungen. Und die Schreie. Und die Stimmen. Und dann das Vergessen von allem. Und schwindende und wieder aufkommende Schmerzen, die machten, daß man das Leben vergaß. Und die Küsse. Und die Liebe. Und die Schönheit der schlafenden Körper der Kinder. Und dann noch die Schönheit der Frauen, die Magie ihrer Körper. Und die Herrlichkeit ihrer Gesichter. Und der Geruch ihres Haares. Und auch die Gezeiten der Lust, der ganze Wahnsinn des Begehrens. Und die Schreie des Verlangens auf den Oberflächen der Körper, die sich jederzeit daran erinnerten. Und dann wieder die Liebe, ihre Orte, die unmöglichen Orte der Liebe. Und dann ein erneutes Vergessen. Und tausendmal alles, auf jede Weise.
Sie, Sie mußten dies alles vergessen, sogar vergessen, daß Sie es vergessen haben. Denn wie hätten Sie sonst weiterleben können.
Beim Betrachten Ihrer Bilder in Ihren Büchern entdeckte ich später ein immer gleiches Licht, das Sie sehr früh geprägt haben muß und das Sie überallhin mitnahmen. Dieses besondere Licht, mit dem es Ihnen gelungen war, unverwechselbare Bilder zu machen und eine universelle Sprache zu erfinden. Von Ihren Bildern aus sprachen die Menschen, die Sie fotografiert hatten, als wären sie lebendig. Es war so, als würden sie unmittelbar vor einem stehen und ihre Geschichte erzählen. Noch in den dunkelsten Schatten aus Trauer, Schmerz und Einsamkeit, die diese Kriege wie Netze in die Welt warfen, war in jeder dieser Fotografien etwas wiederzufinden, ein Geheimnis, etwas schlechthin Entscheidendes, das dem Vergessen angehörte. Keiner vermochte zu sagen, worum es dabei ging, oder um was genau es sich handelte. Dennoch war dieses Rätsel stark genug, um einen zum Schweigen zu bringen. Seither denke ich, daß Ihre Fotografien ohne jeden Hintergedanken waren, sie waren vergleichbar mit der geschriebenen Schrift. Gerade deshalb werden diese frühen Bilder unvergeßlich bleiben.
Dann, eines Tages, als ich nach dem Schwimmen im Meer zurückkam und auf dem Einband eines Ihrer Bücher eher unbeabsichtigt Ihren Namen geschrieben sah, der nichts preisgab als sich selbst, umgeben von den ganzen Fotografien, die ihn einschlossen und nahezu erstarren ließen, enthüllte sich mir Ihr Name. Danach begann ich, ohne daß ich damit aufhören konnte, diesen Namen zu denken und ihm dadurch Dauer zu verleihen. Und dann begann dieser Name, mich fortwährend zu rufen. Und damit begann ich, Ihren Namen zu lieben.
Während ich Ihnen geschrieben habe, in einem meiner blauen Hefte, konnte ich sehen, daß Sie das Grauen kannten. Sie haben immer davon gewußt, Ihre Kenntnis war präzise. Zuerst haben Sie von seiner Ausdauer gewußt. Auch, daß man das Grauen weder vor sich sehen, noch es hinter sich lassen kann. Ebenso lange schon haben Sie seine Gegenden gekannt. Solche Gegenden, in denen es jede Bleibe zerstörte. Und jeden Ort. Und die Menschen. Und alles. Auch, daß man die danach entstandene Leere mit nichts füllen konnte, weder mit Buchstaben, noch durch Fotografien. Auf diese Weise waren Sie jener anerkannte Fotograf geworden, von allen verehrt und hofiert, auch wenn Sie das nicht sonderlich interessiert hat. Denn Sie haben fotografiert, um der zeitweisen Ausdehnung des Grauens gegenüberzutreten, um zu versuchen, das Grauen zu besänftigen. Und noch während Sie versucht haben, das Grauen zu sich kommen zu lassen und diesen tiefen Abgrund, der das Grauen ist und gleichzeitig in einem verursacht, in einem gewissen Gleichgewicht zu halten, es vielleicht sogar zu überwinden, waren Sie ständig in großer Gefahr gewesen, zu jemandem zu werden, den das Grauen nun seinerseits kannte und wiedererkannte, und von ihm verschlungen zu werden. Mit einem Mal habe ich begonnen zu sehen, daß Sie schon lange am Rand einer wie auch immer gearteten Nacht gelebt haben. Und ein Unglück, etwas, das größer war als Sie selbst, hat Sie über den Rand hinaus in das Meer dieser äußersten Nacht getrieben. Und dort haben Sie dann eine gewisse Zeit verbracht, auf einem Floß sitzend und die fluoreszierenden Zeiger einer in der Dunkelheit dieser Nacht unsichtbaren Uhr betrachtend.
Ich erinnere mich an eine Serie von Fotografien, die Sie von Massengräbern im Winter gemacht haben, bei denen es Ihnen gelungen war, das Unsichtbare des Lebens einzufangen. Jede dieser noch gut erhaltenen Leichen hatte plötzlich wieder eine Geschichte, die Sie ihnen zurückgegeben haben. Diese Ermordeten, mit ihrer Geschichte, wurden zu einer Erinnerung, die man um jeden Preis bewahren wollte, das Gedächtnis der Welt. Und in dieser langen Meditation über das Leben und den Tod glaubten Sie vielleicht, das allen gemeinsame Schicksal verstanden zu haben, Sie nahmen an, daß das Unglück unteilbar ist.
Ich sehe: Sie sind ein Mann, dem ein großes Unglück widerfahren ist, einer, der alles verloren hat. Ein Mann, in der Mitte seines Lebens, der versucht, das Verlorene zu vergessen. Dabei angefüllt mit einem furchtbaren Schmerz, daß Sie kaum noch etwas außerhalb Ihrer selbst wahrnehmen. Dieser Schmerz muß es sein, der es Ihnen unmöglich macht zu vergessen. Doch Ihre Erstarrung ist nicht in einen Schlaf übergegangen. Sie haben nicht das Glück gehabt, in eine Art von Wahnsinn zu verfallen, in dem ein Schrecken leise bleibt und einen nicht mehr weckt. Noch immer bringen Sie diese ungeheure Kraft auf, die man von Ihren Fotografien kennt, die, hinzusehen. Sie werden nichts verbergen, vor niemandem.
(…)

Ich bin Marie Grinberg. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich spreche nicht mehr. Ich schreibe in blaue Hefte.
Ich bin Marie Grinberg. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Und ich schreibe.
Das Mädchen, das nicht spricht, nennt man mich. Die Kleine, die mit ihrer verrückten Mutter in Talassa Bay lebt. Die sogar einmal für sie sterben wollte. Das Mädchen, das zu alt ist für sein Alter. Das Mädchen mit den blauen Heften. Das Mädchen, das in den Dünen schreibt. Das schreibende Mädchen der Dünen.
Schon lange bin ich nicht wie andere Mädchen in meinem Alter. Manchmal scheint es so, als wäre ich gar nicht da. Doch ich bin da, ganz nah, auch wenn ich nicht spreche. Denn ich schreibe. Und schreibend erfinde ich mein Leben.
Ich gehe in die Schule, aufs Gymnasium. In der Schule sagt man über mich, ich sei die Klassenbeste, in allen Fächern. Obwohl ich nicht spreche, soll das so sein. Die das behaupten, die Lehrer, der Rektor, einige Mitschüler, ich glaube, was sie sagen, trifft zu. Doch die Klassenbeste zu sein, das interessiert mich nicht, das bedeutet mir gar nichts. Ich bin nicht empfänglich für die eigenartige Liebenswürdigkeit mancher Lehrer, was meine Begabung angeht. Es ist mir unangenehm, daß einige von ihnen ständig versuchen, mich gegen meine Mitschüler auszuspielen. Man solle sich doch ein Beispiel an mir nehmen, sagen diese Lehrer, wobei sie nicht müde werden, mich mit den anderen zu vergleichen und der gesamten Klasse meine schulischen Leistungen vorzureden. Ich verstehe nicht, warum man sich an mir ein Beispiel nehmen soll, ausgerechnet an mir. Dem Mädchen, das nicht spricht. Der Kleinen aus Talassa Bay. Dieser kleinen Fremden, die nackt im Meer schwimmt, sogar bei klirrender Kälte. Der mit der verrückten Mutter.
Während meine Mitschüler miteinander geredet haben, habe ich geschwiegen. Während sie abends mit ihren Eltern und Geschwistern beim Essen gesessen und anschließend etwas zusammen gespielt oder gemeinsam ferngesehen haben, habe ich gelesen. Später, als sie angefangen haben, sich zu verabreden, habe ich noch immer gelesen. Und ich habe geschrieben. Es ist doch nur natürlich, daß ich intelligent bin. Jemand, der nicht spricht, muß diese Hemmung auf irgendeine Weise ausgleichen. Das ist alles.
Es ist auch nicht so, wie manche Leute behaupten, daß die anderen mir unsympathisch sind, aber sie haben andere Interessen. Und obwohl ich mich mit anderen Dingen beschäftige, höre ich ihnen aufmerksam zu. Man hat in diesem Alter offenbar viel zu erzählen. Ich bin erstaunt, worüber sie reden, was ihnen wichtig ist. Modische Kleider, Musik, aktuelle Serien im Fernsehen, Kinofilme, das Aussehen eines jungen Referendars, die erste Liebe, wohin man in die Ferien verreist, Streitigkeiten mit den Eltern, Schwierigkeiten mit Lehrern, von alldem verstehe ich nichts. Selbst wenn ich reden würde, wüßte ich nicht, worüber ich mit ihnen reden sollte. Und die anderen, die älter sind, die mich interessieren könnten, zögern, ich weiß nicht warum. Vielleicht ist es zu schwierig für sie, mich anzusprechen.
Ich treffe mich auch nicht mit den Jungen am Strand, um mich von ihnen anfassen zu lassen. Und obwohl sie sich mir gegenüber mit anzüglichen Bemerkungen darüber zurückhalten, merke ich an ihren Blicken, daß sie etwas von mir wollen. Doch da sie dabei nicht unfreundlich sind, stört es mich nicht. Sie fordern mich auf, mit ihnen auszugehen, zum Tanzen, in die Eisdiele, ins Kino. Und einige bitten mich, sie in den großen Ferien zu besuchen, auf dem Land, bei ihren Großeltern. Man wäre dort nahezu allein und hätte das ganze Haus für sich. Dabei behaupten sie, daß ich ihnen gefiele, ich wäre sehr hübsch. Und es machte ihnen nichts aus, daß ich nicht sprechen würde. Doch ich glaube ihnen nicht, nichts davon. Denn wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich ein blondes Mädchen mit blauen Augen. Dieses Mädchen ist groß und schlank und hat kleine feste Brüste. Weil dieses Mädchen im Spiegel viel am Strand geht und durch die Gärten, weil es im Meer schwimmt, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit, ist es robust. Jeder Muskel seines Körpers ist ausgebildet. Seine Haut ist die eines Mädchens, das sich viel am Strand aufhält. Das ist alles, was sie sehen. Und alles, was sie wollen, ist dieser Körper, den Körper der Klassenbesten, um das mit ihm zu machen, was sie in diesem Alter mit anderen Körpern für gewöhnlich tun. Sie wollen ihn berühren, diesen Körper, ihn streicheln, ihn penetrieren. Sie wollen sich diese kleine Fremde unterwerfen, sie aufsaugen und sie sich einverleiben. Den Körper dieser Kleinen wollen sie in Besitz nehmen, ohne sich dem Fremden in ihm annähern zu müssen, diesem Fremden, das macht, daß aus diesem Körper kein Wort nach außen dringt, das sie meint, oder das ihrem Begehren gilt. Es ist ihre Zeit, die Zeit dieser Jungen. Es ist die Zeit der Wetten, die Zeit eines unzweideutigen Begehrens, das einhergeht mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit, mit der sie versuchen, Körper in Besitz zu nehmen. Das geschieht nach genau festgelegten Regeln, wie bei einem Ritual, mit einer gleichzeitigen Unbeholfenheit, die seltsam wirkt, die aber mit ihrem Alter zu tun hat. Doch hinter dieser scheinbaren Unbeholfenheit ist bereits etwas Grausames aufzuspüren. Es ist, als ob sie eine Maske tragen, eine Maske, die notdürftig verdeckt, daß es die Bereitschaft gibt, Wunden in die Welt zu schlagen. Sieht man jedoch genau hin, ist bei den Jungen ein großes Zärtlichkeitsbedürfnis auszumachen, mit dem sie sich wünschen, in den Schlaf gewiegt zu werden, und das vor der nackten Begierde zurückweicht wie vor einer verschlossenen Tür.
Auch die Mädchen begehren, auch sie wollen genau das, was die Jungen wollen. Sie wollen es anders, nicht so ungestüm, aber doch ist es Leidenschaft, die sie wollen. Sie wollen nicht heimgesucht werden von der Angst vor einer Verletzung, der sie bis in ihr Innerstes ausgesetzt sind, vor Orten ohne Umgebung, in denen man sie begehrt und schön findet, um sich danach, nach dem Erreichen der Lust, von ihnen zurückzuziehen. Sie wollen nicht ohne Antwort bleiben und hören, daß man sie liebt, weil man sie liebt, daß sie jemanden Fest sind. Sie wollen nichts, was die Liebe entwertet, keine Einsamkeit, außer dieser einen, die unaufhörlich redet. Und gleichzeitig wollen sie etwas, eine Häufung von Liebeskümmernissen vielleicht, wie sie in den Fernsehserien, über die sie sprechen, zu einem guten Ende gebracht werden. Und doch überholen sie sich manchmal und stellen das Sexuelle an die Stelle des Gefühlsmäßigen. Dann gehen sie zur alten alte Mole, wo sie sich mit erwachsenen Männern verabreden. Dort spielen sie ein grausames Spiel, in dem sie erliegen und zugrunde gehen und zu einer Wunde eines Abgrunds ihrer Lust werden.
Ich bin Marie Grinberg. Ich spreche nicht mehr. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich schreibe in blaue Hefte. Die blauen Hefte sind das Fährtenbuch zu meinem Leben. Und die Schrift ist meine wehrhafte Haut. Schreiben ist ganz natürlich für mich, es ist wie Ein- und Ausatmen.
Da ich die meiste Zeit über in die Hefte schreibe, bin ich oft allein. Ich weiß nicht, ob es noch ein anderes Leben gibt. Manchmal glaube ich, daß es das gibt. Dann glaube ich es wieder nicht. Die meiste Zeit über glaube ich, daß es außerhalb des Schreibens gar nichts gibt. Dabei weiß ich nicht einmal, was das Schreiben ist. Während ich schreibe und das Niedergeschriebene in die Welt schaffe, bemerke ich, wie ich es gleichzeitig beseitige, indem ich nicht aufhöre, damit fortzufahren, weiterzuschreiben. Immer löscht sich die Schrift, sobald sie niedergeschrieben wird, im selben Augenblick, immer beginne ich von neuem. Und gleichzeitig gibt es etwas neben dem, was ich in die blauen Hefte schreibe, das ich nicht in sie schreibe. Ich weiß nicht, was es ist, denn bei dem, was ich schreibe, gelange ich immer zu spät zu dem, was ich schreiben könnte, hätte ich nicht bereits das geschrieben, was ich geschrieben habe, oder würde das schreiben, was ich gerade schreibe.
Ich beobachte viel, oft betrachte ich lange das Meer, auch nachts. Wenn ich das Meer betrachte, fühle ich weder Furcht noch Hoffnung. Und manchmal, in den Nächten, vergeht auf diese Weise die Zeit nicht, sie bleibt einfach stehen. Nachts, am Strand, sehe ich die Schiffe in der Dunkelheit, ihre Lichter. Ich höre auf die Geräusche, auf die Stimmen, die der Wind mir zutreibt. Ich fächere die Geräusche, parzelliere die Stimmen, löse die Stimme des Windes aus ihnen, bis ich nur noch eine Stimme höre, eine einzige Stimme, die Stimme eines Menschen, der schreit. Ein Schrei, der von weit her, der über das Meer kommt, anfangs noch von Wind durchströmt, dann ganz klar: Jemand in Laand schreit, leise, sehr leise höre ich seinen Schrei. Sein Schrei kommt über das Meer, über seine Weite, über diese ganze unermeßliche Weite. Sein Schrei, sehr, sehr leise, aber doch noch zu hören, über das ganze Meer. Und ich bin nicht allein.
Ich bin niemals allein, zu keiner Zeit. Es ist immer ein Körper in meiner Nähe. Und in dieser Nacht ist es ein Körper in Laand. Ein unbekannter Körper, der schreit. Ein namenloser Schrei, den ich einschließe in meinen Körper, in dem ich das Leben murmeln höre. Ich bin fünfzehn Jahre alt, ich schreibe, ich bin so alt wie die Welt. Ich war bereits vor der Welt, so alt bin ich.
Mich vergewissern: Das ist Marie Grinberg. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Sie ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie spricht nicht mehr. Sie schreibt in blaue Hefte. Sie schreibt, wie andere atmen.
Marie Grinberg. Fünfzehn Jahre alt. Die kleine Fremde, die nackt im Meer schwimmt. Die kleine robuste Fremde, mit der Haut einer Strandgängerin. Die Klassenbeste. Das schweigende Kind. Die ohne Vater. Die mit der verrückten Mutter.
Marie Grinberg. Fünfzehn Jahre alt. Die mit den Wörtern lebt. Die nicht spricht, nicht wie andere. Die spricht, wie man überhaupt nur sprechen kann, auf die einzig denkbare Weise: indem man schreibt. Die schreibt, daß die Wörter schon immer da waren, wie die Luft, sogar schon vor der Luft, daß die Wörter ihre Familie sind, daß diese Familie in eigenen Räumen lebt, denen des Schreibens, und daß sie so gelegentlich über die Dinge hinausgelangt, die sie festhalten. Die jeden Tag eine neue Reise beginnt, mit jedem Wort, mit jeder Seite, die sie vollschreibt. Die so lebt, unter Ausschluß jedes anderen Lebens. Die von sich sagt: Ich bin so alt wie die Welt. Ich war bereits vor der Welt, so alt bin ich. Das schreibt sie. Das liest sie.
Marie Grinberg. Die Kleine vom Strand. Sie ruft Beobachtungen in sich hervor und bewahrt sie auf. Sie hört niemals auf damit, selbst wenn sie damit aufhört. Jedes noch so kleine Geräusch wird in der sie umgebenden Stille unfaßbar laut. Jedes Bild, das ihren Blick einfängt, kommt ihr so nah, daß sie es bis in seine Nuancen erkennen kann. Sobald ein Sandkorn ihre Haut berührt, hinterläßt es einen tiefen Riß. Sie hat eine eigene Sonne, dort wo sie ist, ihr eigenes Licht. Und wegen der Wörter, die es dort gibt, ist diese Wüste in ihr niemals still.
Manchmal steht sie allein vor dem großen Ankleidespiegel in ihrem Zimmer und ruft ihren Namen, um den Klang ihrer Stimme nicht zu verlieren. Aber weder kann sie den Klang hören noch ihren Ruf nach ihm. Sie schreibt ihren Namen auf den Spiegel, um ihn zu sehen. Und dann ist ihr Name da, denn sie kann ihn lesen. Denn es gibt ihren Namen, weil sie ihn lesen kann, aber sie kann ihn nur lesen, wenn er geschrieben ist. Überhaupt gibt es die Dinge nur, wenn sie gelesen werden können. Und sie können nur gelesen werden, wenn sie zuvor geschrieben wurden.
(…)

Seit Jahren schreibe ich jede Nacht Wörter und Sätze auf das weiße Papier. Und während ich schreibe, lebe ich in dieser besonderen Nacht. Ich kann sagen, daß ich schon immer geschrieben habe. Ich habe nie etwas anderes getan. Davor habe ich gelesen. Zuerst habe ich die Tageszeitungen gelesen. Dann Zeitschriften. Ich las alle Zeitungen und Zeitschriften, die ich bekommen konnte. Und dann las ich die Bücher. Es waren Bücher aus der Bibliothek. Zuerst habe ich einige Bücher geholt. Ich las sie am Strand, im Laufe eines Nachmittags. Am nächsten Tag holte ich mir weitere Bücher, die ich noch am selben Tag las und am Tag darauf wieder zurückbrachte. Und dann nahm ich mir wieder andere Bücher mit. Ich las oft am Strand, bei gutem Wetter, die übrige Zeit las ich in meinem Zimmer. Ich las abends. Und nachts, in meinem Bett. Ich las, bevor ich in die Schule ging, schon beim Frühstück. Und später las ich in der Schule, in den Pausen. Ich war nie ohne ein Buch. Zuletzt habe ich die Bücher mit dem Handkarren aus der Bibliothek geholt. Man hat darüber viel gelacht, über meine Begeisterung für Bücher.
Sehr früh schon habe ich sehr gut lesen können. Lesen, ich konnte es schon immer, es war ganz natürlich. Ich habe es nie lernen müssen, ich konnte es von Geburt an, glaube ich. Das Lesen, es war immer da, in mir. Ich mußte es nur finden. Und eines Tages fing ich damit an.
Dann, mit dem Lesen, kam das Schreiben, wie selbstverständlich. Als ob die Wörter in den Büchern etwas in mir Vergrabenes angestoßen hätten, das ich erst noch erfinden müßte, indem ich darüber schriebe. Die ersten Buchstaben habe ich am Strand in den Sand geschrieben. Ich schrieb meinen Namen und war verwundert über die Stille meines Namens, wenn er nicht gerufen wurde, sondern geschrieben war. Und dann lag alles Vergangene und Zukünftige in meinem Namen verborgen, die ganze Welt. Denn ich konnte sie lesen, in meinem Namen, der in den Sand geschrieben war.
Bereits mit fünf Jahren lese und schreibe ich. Niemand hat es mir beigebracht. Als ich in die Schule komme, ist man darüber erstaunt.
Der Direktor kommt mit anderen Lehren ins Klassenzimmer und bittet mich, allen etwas vorzulesen. Ich lese die Geschichte von Ernesto, der nach dem ersten Schultag nicht wieder in die Schule gehen will, weil er findet, daß es sich nicht lohne, Dinge zu lernen, die er noch nicht weiß. Die Lehrer sagen, diese Kleine, schaut sie euch an, sie kann schon lesen. Und seht nur, die Kinder, wie aufmerksam sie ihr zuhören. Und dann sagen sie, ich solle ihnen das erklären. Worum geht es bei dem, was du uns vorgelesen hast, fragt der Direktor. Und ich sage ihnen, was ich weiß. Und dann fordern sie mich auf, an die Tafel zu gehen und etwas zu schreiben. Und ich schreibe etwas von Ernesto, etwas von dem, was ich gelesen habe und was mir gerade einfällt. Und die anderen Kinder klatschen begeistert in die Hände. Ein Kind sagt: Sie kann schreiben, sie kann lesen, was macht sie hier? Und ein anderes Kind sagt: Sie ist vielleicht nicht von dieser Welt, vielleicht ist sie ja ein Engel. Und das erste Kind entgegnet: Und wo sind dann ihre Flügel?
Mein Vater bekommt einen Brief, der Direktor bittet ihn darin um ein Treffen.
– Ob er sich das erklären kann, dieses Wunder, sagt der Direktor.
Daß der Direktor von einem Wunder spricht, bereitet meinem Vater Vergnügen.
Mein Vater findet, es gebe überhaupt kein Wunder.
– Lesen und Schreiben gehören zusammen, sagt er.
Das Lesen ziehe einen zum Schreiben, das Schreiben ziehe einen zum Lesen.
– Lesen und Schreiben ist übrigens das einzige, was man allein tun muß, sagt er.
Man müsse es eigenhändig tun.
– Es ist wie Sterben, sagt er.
Nur das Leben werde von anderen bestimmt.
– Und man muß lesen, um das zu begreifen, sagt er.
Das erste blaue Heft habe ich von meinem Vater bekommen, kurz bevor er verschwand. Ein Mensch, der schreibt, es gibt nichts Größeres, sagte mein Vater einmal.
(…)

Eines Tages, ich war ein Kind, ich war acht Jahre alt. Mein Vater ging nach Laand, in den Krieg. Sehr früh an einem Morgen, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als mein Vater fortging, begann für mich der Krieg.
Zwei Tage zuvor war ein Bote aus Laand gekommen, er hatte einen Brief für meinen Vater mitgebracht. Danach war mein Vater verändert. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie er in dem Haus mit den roten Ziegeln umherlief. Er wirkte angespannt und unruhig. Plötzlich hatten wir nur noch wenig Zeit, bevor er fortging. Ein Abend und die ganze Nacht, das war die Zeit, die uns blieb, für alles, wofür wir unter anderen Umständen, ohne den Krieg in Laand, ein ganzes Leben Zeit gehabt hätten.
Als mein Vater fortging, war ich ein Kind. Ich war ein Kind von acht Jahren, als mein Vater fortging. Mein Vater sagt mir, daß er mich liebt, daß er bald zurückkehrt. Er verspricht es mir. In unserer letzten Nacht, die wir gemeinsam am Strand verbringen, erklärt er mir, daß in seiner Heimat vor einigen Monaten ein Krieg ausgebrochen sei.
Zuerst sieht er mich lange an. Dabei hält er meine Hand. Und nach einer Weile berührt er sanft meinen Hals. Dann berührt er mich mit seinen Lippen am Hals, an derselben Stelle, wo seine Hände mich berührt haben. Und dann nimmt er mein Gesicht in seine Hände. Und dann berühren mich seine Lippen auf meinen Lippen, was mit einer unglaublichen Zärtlichkeit geschieht. Und danach sind wir ein Liebespaar. Wir sind aus dem Sichtbaren herausgefallen, in eine anderen Zeit, die nicht möglich ist.
Er sagt, daß Thio Kie Manson damit begonnen habe, alle großen Bibliotheken zu zerstören, viele Jahrhunderte alte Werke aus Wissenschaft und Kultur seien bereits in Flammen aufgegangen, vieles unauffindbar und verloren. Man habe ebenfalls damit angefangen, die Lehrer und Intellektuellen zu ermorden, um so zu verhindern, daß die die Pogrome überlebenden Kinder ihre Sprache und alles, was damit zu tun habe, lernen werden.
Die Geräusche eines ruhigen Meeres. Mein Vater starrt nun auf das Wasser, er rührt sich nicht. Dann sieht er mich wieder an. Vom Hafen hört man die Rufe der Schiffe. Man hört Sirenen aus der Stadt, die jäh von der Nacht verschluckt werden. Ich befeuchte meine Fingerspitzen. Dann fahre ich mit ihnen über seine Lippen. Er schließt seine Augen. So vergeht Zeit.
Er sagt, daß Thio Kie Manson Frauen und Kinder kreuz und quer durch das Land jagen lasse. Er lasse sie in die Berge und in die Wälder treiben, bis sie am Ende nicht mehr ein noch aus wüßten vor Hunger und Durst. Bis sie auf allen Vieren lebten, nackt, mit verkrusteten Körpern, zwischen Erde, Felsen, Blut und Schlamm. Bis ihr Gedächtnis, in der Starre ihrer Angst, in dem Wehklagen um ihre Kinder, über deren vor Erschöpfung sterbenden Körpern sie wachen, inmitten der Felsen und der weiten Ebenen ohne Schutz, löcherig geworden sei. Bis ihr Gedächtnis völlig zerfressen sei, ein Schwamm, ein Wort ohne Sinn.
Die Geräusche, die das Meer macht. Ich spüre das Leid, in das diese Geschichte meinen Vater stürzt. Am Strand ruft jemand nach seinem Hund. Erneut die Sirenen, die erneut abbrechen. Ich beuge mich vor und küsse seine Lippen. Dann seine geschlossenen Augen. Dann erneut seine Lippen. Wieder vergeht Zeit.
Er sagt, daß Thio Kie Manson mit jedem mehr, den er vertreiben und ermorden lasse, nach und nach das Gedächtnis eines ganzen Volkes auslösche, bis man für die Wiedererinnerung keinen Ausgangspunkt mehr fände, von dem aus man noch beginnen könnte, sich wieder zu erinnern. Bis alle Orte, an denen die Bilder, an die man sich erinnern wollte, ausgelöscht seien. Bis es keinen mehr gäbe, der sich an die Existenz dieser Orte und der dort in einer bestimmten Ordnung aufbewahrten Bilder erinnern könne. Und eines Tages würde es das, was es einmal gegeben hätte, nicht mehr geben, weil es keine Zeugen mehr gebe, keine Dokumente, keine Beweise. Und dann hätte es auch die Vernichtung nicht gegeben.
Die vergehende Zeit am Strand, nun mit Blick auf das Meer, das ruhig ist, als wäre es nie anders. Dann der abwesende Blick meines Vaters, auf mich gerichtet, ohne mich wiederzuerkennen. Dieser Blick, auf nichts gerichtet, alles verlassend, bis auf Laand. Und dann sieht dieser Blick mich plötzlich, erkennt mich wieder. Und mein Vater sieht mich an, als ob er mich liebt.
Er sagt, daß man ihn gebeten habe, nach Laand zu kommen. Er solle helfen, die Bücher zu retten, die Vernichtung zu dokumentieren. Er solle mithelfen, zu verhindern, daß die Opfer unauffindbar werden, daß es ein ganzes Volk nicht gegeben haben wird.
Ich sehe meinen Vater an, während erneut Zeit vergeht. Die Sätze meines Vaters durchqueren mich wie ein richtungsloses Lastschiff einen Fluß und türmen sich an einer Stelle, wo sie sich allmählich auflösen. Dann sage ich ihm, daß ich nicht alles verstanden hätte, was er gesagt habe. Aber ich hätte verstanden, daß man ihn gerufen habe. Und es sei wohl so, daß er keine Wahl habe.
Ich sage: So weit, weiter noch als das Meer, weiter als alles, noch vor der Erfindung des Wortes, noch davor, noch vor allem und nach allem, und noch danach, immer, die ganze Zeit über und durch die ganze Zeit hindurch werde ich dich lieben, liebe ich dich.
Jäh entsteht Stille. Die Geräusche der Stadt und die des Meeres entfernen sich, werden unsichtbar, unhörbar. Die entstandene Stille ist wie eine Grenze, ohne Berührungspunkte. Sie kann nicht überwunden werden. Vielleicht durch den Tod.
Am Morgen begleite ich meinen Vater zur Fähre und schaue ihr nach, wie sie mit ihm über das Meer fährt. Und danach, während ich lange über das Meer schaute, der Fähre hinterher, war da diese fortdauernde Spanne von Verlassenheit, die die künftige Zeit machte. Zuerst klammerte sie sie ein. Dann ließ sie sie nach und nach verschwinden. Und dann ersetzte sie sie durch diesen einen Augenblick, der sie endgültig zum Stillstand brachte.
In der folgenden Nacht bin ich allein im Haus. Ich bin in meinem Zimmer, wo ich weine und schreie, bis ich keine Tränen mehr habe, bis ich heiser bin. Ich zittere am ganzen Körper, ich verliere das Gleichgewicht und stürze. Ich hämmere mit dem Kopf gegen die Wand, bis meine Stirn davon blutet, bis ich mich übergeben muß.
Meine Mutter ist nicht da. Sie ist irgendwohin gegangen, um sich zu betrinken. Daß mein Vater fortgegangen ist, darüber ist sie außer sich.
Am nächsten Morgen laufe ich zur Fährstation. Und dann jeden Tag. Doch mein Vater kommt nicht zurück. Da weiß ich es noch nicht. Ich sehe ihn nie wieder.

Was ich immer sehe, ist dies: Ein Mann und ein Kind am Strand. Ihre letzte gemeinsame Nacht. Der Mann hält die Hand des Kindes, während er spricht. Der Mann spricht mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Das Kind ist sich dessen bewußt. Es hört zu, mit großem Ernst. Später nimmt der Mann das Gesicht des Kindes in beide Hände und berührt dessen Lippen mit seinem Mund. Einmal berührt das Kind mit seiner Hand das Gesicht des Mannes, um seine Tränen von dort wegzuwischen. Ein anderes Mal befeuchtet es seine Finger und fährt damit über seine Lippen. Ein weiteres Mal küßt es ihn auf seinen Mund. Dies geschieht mit einer so schmerzhaften Zärtlichkeit, daß mich dieses Bild heute manchmal noch zum Weinen bringt.
(…)

Als Kind war ich häufig mit meinem Vater auf den Hügeln. Von Mont d’or aus hat man einen guten Blick auf Talassa und seine Terrassenlandschaft, auf die kilometerlange Küste mit ihren Sandstränden und Felsen, die Buchten, Grotten und die kleinen Inseln. Es ist so, daß die ganze Stadt ihren Blick auf das Meer richtet, ausschließlich, als ob sie sich von allem anderen abwendet.
Auf der anderen Seite des Meeres liegt Laand. Dort ist das Tier vollends aus dem Winterschlaf erwacht und verursacht einen großen, dunklen und nicht enden wollenden Schmerz, der selbst uns erreicht hat, auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen. Je mehr der Schinder Thio Kie Manson die Richtung verloren hat, um so mehr beschleunigt er das Tempo. Dabei hat er jeden Lebensgrund derart verheert, daß nicht einmal der Tod noch einen Sinn hat. Und überall in Laand geschehen diese Dinge. Seltsame Dinge, die so grauenvoll sind, daß kaum einer sie aussprechen kann, ohne auf der Stelle daran zu verzweifeln.
Da es niemand gesagt hat, sage ich es, damit es gesagt ist: Heute ist der menschliche Körper nicht mehr als ein Stück zuckendes Fleisch, das man vertreiben, mißhandeln, vergewaltigen oder sonstwie schänden kann, bevor man es ermordet und in einem Massengrab verscharrt.
Und auch dies: Eine furchtbare Besessenheit hat Besitz ergriffen von den Menschen, sie alle befinden sich in einem Zustand entsetzlichsten Tobens.
Und dann, eines Morgens, geschieht es.
Eines Morgens, in aller Frühe, noch vor Tagesanbruch, ich sehe es ganz klar, rast dieses grauenvolle Toben über Laand hinweg wie ein schrecklicher Sturm, der vor nichts mehr haltmacht und alles unter sich begräbt. Nun dauert es nicht mehr lange, bis sogar Freunde und Nachbarn übereinander herfallen, um sich gegenseitig zu erschlagen, oder um die Frauen und Töchter ihrer Mitbewohner zu vergewaltigen und sie anschließend an die Wände ihrer Häuser zu nageln. Und da nun alles der Zeit enthoben ist, ist alles möglich geworden, sogar das ganz und gar Undenkbare. Bereits nach dem ersten Tag, bei Anbruch der Nacht, erscheint jeder Augenblick wie ein unbewohnter, von jedem Mitleid und aller Gnade befreiter Ort. Ein unmöglicher Ort, an dem alle Grenzen zertrümmert sind, an dem alle Ordnungen zu entgleiten drohen, wo die Überlebenden gezeichnet sind von einer sie völlig durchstoßenden, die Augenblicke der Folter überdauernden Wirkung, die jeden weiteren Augenblick ihres Lebens anhalten wird, vielleicht wie ein Fehler oder eine Narbe, wie etwas ganz und gar Entstellendes, das sich von außen an sie befestigt und sich von innen an sie geheftet hat, etwas, das sie fortan bestimmen und ihr Inneres nach und nach kolonialisieren wird, bis es sie ganz und gar eingeebnet hat, bis nichts mehr wiederzuerkennen ist. Eine Wirkung von solchen Ausmaßen, daß sie alles andere versiegeln wird, für lange, sehr lange, für eine sehr, sehr lange Zeit, für alle Zeit, ohne jedes Vergessen, ohne jede Ruhe. Und diejenigen, die heimfinden, werden in einer Schattenwelt existieren, die sie zurückkehren läßt, ohne daß sie zurückkehren können, ohne dazu noch fähig zu sein, weil das, was geschehen ist, unauslöschlich bestehenbleibt, in jeder beliebigen Zukunft, unvergessen: Dieses unvorstellbare Grauen in Laand, diese Bündel von Menschen, unrettbar verloren, zusammengepfercht in den Lagern, im Osten. Dieses ganze geschundene Fleisch der Körper, das Angstatmen und Angstweinen in diesen Körpern, das Angstschwitzen, das Angstbluten, das Angstpissen und Angstscheißen, das ganze Angstschweigen, die lauten und leisen und die stummen Schreie der Angst, die unaufhaltsam vorrücken und einen tiefen Riß verursachen. Ein so umfassender Riß, daß er die Ordnungen der Welt von der Welt trennt, sie wie mit einem Rasiermesser nach und nach zerschneidet, bis ihre einzelnen Teile durch die Zeit treiben, die sie vollständig zerstört. Auch in Talassa, wo dieses Grauen die Menschen unbemerkt durchstößt, in sie eindringt und sie im Verborgenen, unter ihren Oberflächen, in einem noch kaum vorstellbaren Ausmaß erschüttert.
Und dann, nachdem es gesagt war, schon ab den folgenden Tagen, kann man die Stimmen der Ermordeten, der wehrlos in Laand Zurückgelassenen, der Kinder über das Meer kommen hören. Und ihre gräßlichen Schreie erfüllen die Luft in einer unendlichen Dauer bohrender, hämmernder, zuckender und auseinanderreißender Martern, einem Gebilde aus bestialischen Schmerzen, zerstochenen und zerstoßenen Körpern, verbranntem Fleisch und einer unauflösbaren Vergehensangst, das den Himmel überquert wie eine dichte Wolkenformation, die so undurchdringlich ist, daß es nichts mehr jenseits von ihr gibt. Damit, mit diesen gewaltigen Wolken, die durch nichts bezwungen werden können und die von einem Töten und Leiden erzählen, das sich der Sprache entzieht und vielleicht jenseits von ihr liegt, kommen, von starken Winden erfaßt, mächtige Sandwolken mit den Luftmassen über weite Strecken von überall her und reiben sich an einer besonders rauhen Stelle, an der ich sitze und schreibe, für meinen Vater, der in Laand ist. Am Frachthafen legen die ersten Schiffe an, um beladen oder gelöscht zu werden. Und mein Vater ist wie ein besonders schöner Brunnen, dessen Wasser ich nicht trinken kann, obwohl ich sehr großen Durst habe. Ich warte. Ich weiß nicht worauf. Vielleicht warte ich auf Sie. Und ich schreibe.
(…)

Eines Tages, nachdem die Internationale Staatengemeinschaft Teile von Laand befreit hat, sieht man in den Nachrichten, in den gekühlten Tunneln von P. in Laand, auf hohen Regalen aus Holz, die weißen Plastiksäcke mit den Leichen der Männer aus einem Dutzend von Massengräbern zur Identifizierung liegen. Soweit die Menschen noch in Laand leben, kommen sie von überall her nach P. Die, die vertrieben wurden, oder die anderen, die zuerst gequält, gefoltert und vergewaltigt und anschließend vertrieben wurden und die nun als Flüchtlinge in der ganzen Welt verteilt leben, kommen nicht zurück nach Laand.
Zuvor waren Spezialisten der Gerichtsmedizin aus der ganzen Welt, Männer und Frauen, nach P. gereist. Sie hatten ihre jeweiligen Institute und Universitäten verlassen, wo sie arbeiteten und lehrten, hatten ihre Frauen, Männer und Kinder zurückgelassen, um ihren Teil an der Aufklärung der Verbrechen in Laand zu leisten. Denn in Laand seien der Geschichte der menschlichen Bestialität neue Kapitel hinzugefügt worden, sagte der Sprecher der Ärzte. Aber man werde jeden Schlag und jede Mißhandlung beweisen, jede Art der Folter, man werde das alles rekonstruieren. Man werde sämtliche Todesarten erfassen und sie detailliert beschreiben und so herausfinden, was schließlich zum Tod jedes einzelnen geführt habe. Wie es geschehen sei, an welchem Tag, zu welcher Stunde, man werde das lückenlos dokumentieren. Man werde jedes Opfer identifizieren, ganz gleich, wieviel Zeit dies in Anspruch nehme, ganz egal, was es koste. Letztendlich werde man die Täter überführen, jedem einzelnen von ihnen werde man anhand der Opfer seine Verbrechen nachweisen. Es werde Gerechtigkeit geben, keiner der Täter komme ungeschoren davon. Der Sprecher der Ärzte ist sich absolut sicher. Außerdem werde man eine Liste der Qualen aufstellen, die die Opfer zu erdulden gehabt hätten, bevor sie ermordet und in ein Massengrab geworfen worden seien. Dieses Mal werde man nicht allein den direkten Angehörigen alles sagen, sondern mit Hilfe des Fernsehens die ganze Welt zu Beteiligten machen. Man habe sich dazu entschieden, gerade mit Blick auf das letzte Jahrhundert, das ein Jahrhundert der aneinandergereihten Gruben gewesen sei, daß die Menschen begreifen müssen, daß sie einander keine Fremden seien, sondern miteinander verwandt. Auch, daß Verwandtschaft nicht mit der eigenen Familie aufhöre, sondern daß sie weiterreiche, weiter als man es sich bisher vorstellen wolle. Ein Mann, der in Vancouver lebe, erfahre, daß man einen anderen Mann, der in Laand gelebt habe, gefoltert, vergewaltigt, ermordet und dann in einem Massengrab entsorgt habe wie Müll, das müsse ihn betreffen, als ob sein eigener Bruder gestorben sei. Auch sei das, was man aufdecken werde, zu groß und zu furchtbar, als daß einzelne es tragen können, die Familie aller Menschen müsse hier zusammenstehen.
Einige Kinder sind in P., man sieht diese Kinder im Fernsehen. Es ist beunruhigend, diese Kinder im Fernsehen zu sehen. Man weiß nicht, wo genau sie herkommen. Man weiß nichts von diesen Kindern. Sie sitzen ganz still neben den Plastiksäcken mit den Leichen. Schweigend halten sie dort Totenwache bei ihren Vätern, Großvätern und älteren Brüdern. Man weiß nicht, ob diese Kinder noch Mütter haben, keiner kann sagen, warum ihre Mütter nicht hier sind, bei ihnen, in einem solchen Augenblick. Und wenn diese Kinder noch Mütter haben, ob sie zuletzt überhaupt bei ihnen gelebt haben. Und wenn sie nicht bei ihnen gelebt haben, wo sie dann gelebt haben. Oder ob ihre Mütter nicht schon lange in den Konzentrationslagern sind, im Osten Laands, wo die Männer Thio Kie Mansons damit begonnen haben, ihre durch die Folter umgekommenen Gefangenen in Containern zu verbrennen. Vielleicht hatte man ihre Mütter dort zuvor in die Frauenräume gesperrt, um sie an den Abenden bequemer abholen und ganze Nächte lang vergewaltigen zu können. Möglicherweise sind ihre Mütter noch auf der Flucht in den Wäldern oder den Bergen Laands. Man kann nicht das geringste sagen über die Mütter. Weder kann man etwas über die Mütter sagen, noch über die Kinder. Keiner weiß etwas. Nur dies: Sie waren plötzlich da, schweigend, eine beträchtliche Anzahl verstummter, sprachloser Kinder, die kleine Zettel in ihren Händen hielten, auf denen die Identifikationsnummern ihrer Angehörigen standen. Einige Kinder hielten mehrere Zettel in ihren Händen. Doch merkwürdigerweise weinten sie nicht, keines der Kinder weinte oder schrie seinen Schmerz heraus. Sogar ihre Bewegungen und der Ausdruck ihrer Gesichter wirkten so, als läge jeder mögliche Ausdruck von Schmerz und Trauer bereits hinter ihnen. So als ob diese ernsthaften Kindergesichter, in ihrem Schweigen, umgeben von den Plastiksäcken, in denen sich die Leichen ihrer Angehörigen befanden, in ihrem gesamten Ausdruck bereits ihre letztmögliche Gestalt angenommen haben. Jeder Versuch, sie von den Plastiksäcken wegzuholen, scheiterte, denn kaum hatte man sie weggebracht, waren sie schon wieder da. Sie waren völlig unbeirrt, diese Kinder, keiner konnte wirklich etwas tun. Zu sehen ist nur, daß diese Kinder allein sind. Und sie sind allein in P., bei ihren toten Angehörigen. Und sie wachen dort. Und sie schweigen, ein schwerwiegendes Schweigen, dem man kaum entkommen kann. Und man sieht sie im Fernsehen. Und das ist alles, was man sagen kann.
Seit Wochen zeigen sie diese Leichen im Fernsehen. Bevor sie die Leichen vorzeigen, sagen sie, daß die Internationale Staatengemeinschaft die Kosten für die Überführung und Bestattung komplett übernehmen werde. Dann, wenn die Leute, die die Leichen im Fernsehen sehen, glauben, daß sie einen Verwandten, einen Freund oder einen Nachbarn wiedererkannt haben, können sie dort anrufen. Sie nennen die Nummer des identifizierten Leichnams, den Namen des Verwandten, des Freundes oder Nachbarn und den Ort, wohin er überführt werden soll. Viele von denen, die dort anrufen, wurden vertrieben. Sie haben keinen Ort mehr, wohin sie ihre Verwandten überführen könnten. Andere werden nie mehr in P. anrufen können, weil sie tot sind, ermordet. Weil Thio Kie Manson die Orte und jeden und alles, was es in ihnen gegeben hat, restlos ausradiert hat. Die Leichen, für die sich keine Angehörigen finden ließen, würden anonym beigesetzt. Diese Massen von Leichen, überall in Laand, es sei anders nicht zu schaffen.
Sie haben den Leichen Nummern gegeben. Sie sagen, wo genau sie die Leichen gefunden haben, in welchem Massengrab. Im Fernsehen nennen sie die Namen der Dörfer und Städte, in deren Nähe die Massengräber liegen. Auch Namen von Dörfern und Städten, die es nicht mehr gibt. Die Dörfer und Städte, die von Thio Kie Manson ausgelöscht wurden. Auf ihren Karten deuten sie auf jene Punkte, die für die Dörfer und Städte stehen. Dörfer und Städte, an die sich keiner mehr erinnern kann, weil alle, die sich daran erinnern könnten, ermordet wurden. Gäbe es diese Karten nicht und die Punkte auf ihnen, man wüßte nichts davon, daß diese Orte je existiert haben. Und dann sind es noch die Leichen, in den Tunneln von P., die darauf hinweisen, daß diese Karten keine Fiktion sind, sondern daß tatsächlich Menschen an diesen Orten gelebt haben.
Man hat mir seinen Leichnam im Fernsehen gezeigt. Er lag in einem weißen Plastiksack. Ich glaube, ich wußte es schon vorher. Ja, ich bin mir sicher, ich wußte es bereits. Als sie damit anfingen, im Fernsehen die Leichen aus den Massengräbern zu zeigen, um die Leute schneller identifizieren zu können, da wußte ich es. Gleich zu Beginn dieses sonderbaren Spektakels, als ich dachte, daß wir nach zwei Weltkriegen, nach Auschwitz, nach Hiroshima und Nagasaki, nach den Massakern an den Armeniern, nach der Auslöschung von Millionen ukrainischer Bauern durch Verhungern, nach Stalins Gulags, nach Vietnam und Nanking, nach Ruanda, Burundi und Tschetschenien, daß wir nach all diesem Grauen nirgendwo angelangt waren außer in Laand, da wußte ich es. Ich wußte es, weil dieses ganze Morden, diese Millionen Ermordeter nicht etwa zu einem lebendigeren Gewissen oder zu einer höheren Moral geführt haben, sondern geradewegs nach Laand, von wo aus nun über Tage und Wochen Leichen aus Massengräbern im Fernsehen gezeigt wurden. Auch, daß ich ihn wiedersehen würde, ich wußte es schon lange. Und dann, nachdem ich sechs Tage im Fernsehen die Leichen gesehen hatte, sah ich ihn am siebten Tag.
Am siebten Tag sah ich ihn. Zwei Männer, die helle Schutzanzüge, durchsichtige Gesichtshelme und schwarze Gummihandschuhe trugen, öffneten geschickt den weißen Plastiksack. Sie verständigten sich durch Handzeichen und über die Mikrophone, die in ihren Gesichtshelmen angebracht waren. Routiniert näherte sich die Kamera dem Leichnam.
Dann sehe ich ihn. Seine Augen sind weit aufgerissen. Von dem Blau seiner Augen ist nichts wiederzuerkennen. In den Augenhöhlen und in seinem Mund ist Erde. Einer der Maskierten nennt die Todesursache: Genickschuß. Die Handwerker des Todes haben ihn in den Schlaf versetzt. Mit einem Schuß in sein Genick haben sie das ganze Universum ausgelöscht, das er war. Seine Kleider sind gut erhalten. Ich hätte ihn anhand seiner Kleider trotzdem nicht wiedererkannt. Es sind fremde Kleider. Ich kenne sie nicht. Auch sein Körper befindet sich in einem guten Zustand. An seinem Körper erkenne ich ihn sofort wieder. Sein Gesicht und seine Hände sind nahezu unverändert.
Der maskierte Rechtsmediziner erklärt in die Kamera, daß der gute äußere Körperzustand nichts Ungewöhnliches sei. Immerhin seien die Leichen tief vergraben gewesen. Er spricht von der Temperatur und von einem außergewöhnlich langen und kalten Winter. Ich weiß, daß das, was er sagt, richtig ist. Ich habe einmal etwas darüber gelesen.
Dann sagt der Arzt, daß sie ihn gefoltert haben. Sie haben dazu Säure, Strom und eine Säge benutzt. Dann erklärt er, an welchen Stellen des Körpers Säure, Strom und die Säge benutzt worden sind. Zuerst vergesse ich es bereits, während ich es höre. Dann weigere ich mich, es zu vergessen. Dann schweigt der Arzt. Danach sagt er, daß sie ihn vergewaltigt haben. Vermutlich mit dem Stiel einer Axt. Was das angehe, habe man charakteristische Verletzungen gefunden, die keinen anderen Schluß zuließen. Ebenso Splitter einer typischen Holzart, die bei der maschinellen Herstellung von Axtstielen verwendet werde, daneben Spuren eines bestimmten Lacks. Seine Hand, über die der Gummihandschuh gestreift ist, hält ein goldenes Medaillon in die Kamera. Es ist bereits geöffnet. Die Fotografie eines Kindes ist zu sehen. Das Kind ist vielleicht acht Jahre alt, ein Mädchen.
Ich konnte ihn mir tot nicht vorstellen, obwohl ich es schon lange gewußt habe. Daß sein Körper tot sein würde, es war unvorstellbar für mich. Ich habe nie daran gedacht, daß mein Vater tot sein könnte. Das Vorauswissen, das ich von seinem Tod hatte, ändert daran nichts. Der Mann, der nach Laand gegangen war, um etwas zu schaffen, von dem aus man beginnen konnte, sich wieder zu erinnern, später einmal, wenn der Krieg vorbei war. Der verhindern wollte, daß es Thio Kie Manson gelang, nicht nur ein ganzes Volk, sondern jede Erinnerung an es, sein gesamtes Gedächtnis auszulöschen. Der aufgebrochen war, um die Bücher zu retten. Jener Mann, der das Gesicht seines Kindes in beide Hände genommen und mit seinen Lippen den Mund des Kindes berührt hat, in ihrer letzten gemeinsamen Nacht, in der es ihm seine Tränen aus dem Gesicht wischte und ihn auf den Mund küßte: Aleksander Grinberg, der Philosoph, der Dichter, der Lehrer, der Mann, der mich zum Schweigen gebracht hat, zum Schreiben, mein Vater, tot, ermordet, in einem Massengrab verscharrt, wie ein Hund. Und dann, am Ende des Winters, aus diesem Massengrab geholt, in einen Plastiksack gestopft und im Fernsehen gezeigt, damit jemand ihn identifizieren kann.

Vater, ich schreibe dir am Meer, damit du dich an mich erinnerst, wenn du zurückkehrst. Ich habe Worte für dich, Worte, die ich in blaue Hefte schreibe. Und ich habe mein Schweigen, damit kein Wort an dich verlorengeht. Und die Erinnerung von deinen Lippen auf meinem Mund, am Strand, in jener Nacht, in der ich noch einen Vater hatte. Vater, ich schreibe dir am Meer, damit du dich an mich erinnerst, wenn du nicht zurückkehrst. Ich schreibe dir am Meer, daß ich nun weiß, daß du nicht zurückkehren wirst.

In der Nacht nach dem siebten Tag gehe ich an den Strand. Nach dem siebten Tag bleibe ich die Nacht über am Strand und versuche zu weinen.
Am nächsten Tag gehe ich zu Kane in die Praxis. Das Wartezimmer ist voller Leute, die darauf warten, an die Reihe zu kommen. Auch Sie sitzen dort, ich sehe Sie sofort. In Kanes Sprechzimmer sitzt ein Patient auf der Liege. Auf dem Stuhl neben ihm liegen seine Kleider. Ich nehme seine Kleider und werfe sie ihm zu. Ich deute Richtung Tür. Der Patient ist überrascht. Er sieht Kane an. Ich trete energisch mit dem Fuß auf den Boden. Ich deute immer noch Richtung Tür. Kane fordert den Mann mit einer Geste auf, kurz hinauszugehen, er werde sich gleich weiter um ihn kümmern. Als der Mann gegangen ist, kommt Kane mir vorsichtig entgegen. Ich weiche vor ihm zurück. Dann gehe ich durch das Zimmer und setze mich hinter seinen Schreibtisch. Er tritt hinter mich. Er liest, während ich schreibe.
Er ist tot, schreibe ich.
Mein Vater ist tot.
Ich war die Nacht über am Strand und habe versucht zu weinen.
Ich wollte darüber weinen.
Ich wollte über seinen Tod weinen.
Über die Umstände seines Todes wollte ich weinen.
Aber ich konnte es nicht.
Ich kann über seinen Tod nicht weinen.
Auch nicht über die Umstände seines Todes.
Nicht einmal das.
Wenn ich schon nicht über seinen Tod weinen kann, müßte ich über die Umstände seines Todes weinen können.
Die Umstände seines Todes sind entsetzlich.
Ich müßte darüber weinen können.
Ich kann es nicht.
Ich kann nicht darüber weinen.
Ich habe es die ganze Nacht über versucht.
Über seinen Tod zu weinen, über die Umstände, die zu seinem Tod geführt haben.
Zu seiner Ermordung.
Ich kann darüber nicht weinen.
Sie haben ihn gefoltert.
Das sind die Umstände.
Die seines Todes.
Seiner Ermordung.
Mit Strom, Sägen und Säure.
So haben sie ihn gefoltert.
Dann haben sie ihm ins Genick geschossen.
Zuvor haben sie ihn vergewaltigt.
Mit dem Stiel einer Axt.
So haben sie es getan.
Mit dem Stiel einer Axt.
Ich kann nicht darüber weinen.
Ich weiß nicht warum.
Vergewaltigt, mit dem Stiel einer Axt.
Wieso kann ich darüber nicht weinen.
Sie haben ihn aus einem Massengrab geholt.
Sie haben gesagt, in der Nähe der Stadt Z.
Dort haben sie ihn gefunden, nahe der Stadt Z.
In einem Massengrab.
Mit einhundertfünfzig anderen.
Alles Männer.
Mein Vater.
In einem Massengrab.
Vergewaltigt.
Ins Genick geschossen.
Davor gefoltert.
Davor vergewaltigt.
Oder zuerst vergewaltigt.
Und anschließend gefoltert.
Oder abwechselnd.
Gefoltert und vergewaltigt.
Vergewaltigt und gefoltert.
Mein Vater.
Gefoltert.
Mit Strom.
Mit einer Säge.
Mit Säure.
Vergewaltigt.
Mit dem Stiel einer Axt.
Dann ins Genick geschossen.
Danach in ein Massengrab geworfen.
Mein Vater.
Gefoltert.
Mit Strom.
Mit einer Säge.
Mit Säure.
Vergewaltigt.
Mit dem Stiel einer Axt.
Strom.
Säge.
Säure.
Axt.
Stiel.
Diese Wörter sind geschändet.
Die Männer von Thio Kie Manson haben sie besudelt.
Mit dem Blut meines Vaters.
Damit haben sie die Wörter deformiert und sie abstoßend gemacht.
Mit seinem Blut.
Für alle Zeit klebt sein Blut an diesen Worten.
Für alle Zeit kann man diese Wörter nicht mehr benutzen.
Immer.
Es ist vorbei mit diesen Wörtern.
Für alle Zeit.
Strom.
Säge.
Säure.
Axt.
Stiel.
Mit dem Blut meines Vaters.
Diese Umstände.
Die seines Todes.
Ich kann nicht darüber weinen.
Über diese Umstände.
Auch nicht über seinen Tod.
Ich kann nicht weinen.
Ich kann es nicht.
Man hat mir seinen Leichnam im Fernsehen gezeigt.
Er lag in einem weißen Plastiksack verpackt.
So haben sie ihn mir gezeigt.
Meinen Vater.
Seinen Körper.
In einem Plastiksack.
Im Fernsehen.
Sein Körper hat die Nummer Z. 149.
Sein Körper war gut erhalten.
Ich habe ihn wiedererkannt.
An seinem Körper habe ich ihn wiedererkennen können.
Das war möglich.
Seine Hände, sein Gesicht.
Es war ganz einfach, ihn wiederzuerkennen.
Seine Augen waren weit aufgerissen.
Von dem Blau seiner Augen war nichts mehr zu erkennen.
In seinen Augenhöhlen war Erde.
Auch in seinem Mund.
Sie haben das Medaillon in die Kamera gehalten.
Meine Mutter hat es ihm zu seinem Geburtstag geschenkt.
Das war kurz vor seiner Abreise.
Sie wußte noch nicht, daß er abreisen würde, nach seinem Geburtstag.
Da war ich acht Jahre alt.
Dann haben sie die Fotografie aus dem Medaillon geholt und sie in die Kamera gehalten.
Das Bild eines Kindes.
Ein Mädchen, acht Jahre alt.
Dieses Mädchen auf der Fotographie, ich habe mich gleich wiedererkannt, als sie sie in die Kamera hielten.
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem meine Mutter mich fotografierte.
Um meinem Vater eine Freude zu machen.
Es war am Strand.
Und dann ist es im Fernsehen zu sehen.
Nachdem man es aus einem Massengrab geholt hat, ist es im Fernsehen.
Zuvor lag es dort, in der Nähe der Stadt Z., den Winter über.
Wie mein Vater.
Und es ist gut erhalten.
Wie der tote Körper meines Vaters.
Ich wußte es schon vorher.
Ich sah Leichen, tagelang, im Fernsehen.
Ich hörte, was man mit ihnen gemacht hat.
Es gibt Worte für das, was man mit ihnen gemacht hat, als es noch keine Leichen waren, sondern Körper.
Die Körper von Menschen.
Worte, die zu nichts anderem mehr zu gebrauchen sind, wenn man einmal damit angefangen hat, das zu beschreiben, was man mit ihnen gemacht hat.
Nutzlose Worte für alles andere.
Ich wartete darauf, daß man mir seinen Leichnam zeigen würde, vor dem Fernseher wartete ich.
Ich wußte es bereits.
Er lag in einem Massengrab, den ganzen Winter hindurch, in der Nähe der Stadt Z.
Ich wußte es die ganze Zeit.
Den ganzen Winter hindurch.
In einem Massengrab.
Doch, ich wußte es.
Sein Körper hat sich so gut erhalten, damit ihn jemand wiedererkennen kann.
Er hat sich kurz vor Ausbruch des Winters töten lassen, damit ich seinen Körper wiedererkennen würde.
Ich wußte das alles längst.
Von dem einstigen Blau seiner Augen war nichts mehr zu erkennen, obwohl sie weit aufgerissen waren.
Erde in seinen Augenhöhlen.
Erde in seinem Mund.
Die Erde Laands.
Seine Lippen auf meinem Mund, am Strand, in jener Nacht, der des Abschieds.
Und meine Lippen auf seinem Mund.
In jener Nacht, in der er weinte.
In jener letzten Nacht, der nun nichts mehr folgen wird.
Nichts mehr, gar nichts mehr, es ist vorbei.
Mein Vater ist tot.
Dann zittere ich. Und dann kann ich nicht mehr weiterschreiben. Ich zerbreche den Füller. Die Tinte läuft über das Papier. Und ich möchte schreien, aber ich kann nicht schreien. Was aus meinem Mund dringt, klingt mehr wie ein Röcheln, ein entsetzliches Würgen.
Kane nimmt mich von hinten in die Arme, zieht mich vom Stuhl, hebt mich hoch und trägt mich zu der Liege.
Mein ganzer Körper zittert, zuerst in seinen Armen, dann auf der Liege.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, holt er eine Decke und wickelt mich darin ein.
Dann zieht er eine Spritze auf.
Ich schüttele den Kopf.
– Es ist dafür, daß du etwas ruhiger wirst, sagt er.
Mein Körper hört nicht auf zu zittern.
Ich schüttele erneut den Kopf.
Unter der Decke schlage ich mit der flachen Hand auf die Liege.
Kane holt den Block und einen Stift vom Schreibtisch.
Das Schreiben fällt mir schwer, weil ich so zittere.
– Sie haben meinen Vater ermordet, ich will darüber nicht ruhig sein.
Kane sieht mich unsicher an.
Er fragt, ob er etwas für mich tun kann.
Ich schreibe, daß Sie im Wartezimmer sind.
Kane ist erstaunt.
– Du willst, daß ich ihn hole, sagt er.
Während ich zittere, versuche ich zu nicken.
Kane geht hinaus und kommt wenig später zurück.
Sie sind bei ihm.
Darüber bin ich erleichtert. Ich kann nicht sagen warum.
Er erzählt Ihnen, was geschehen ist.
Es ist Ihnen nicht anzumerken, ob Sie ihm überhaupt zuhören.
Sie sehen mich lange an. Sie warten, Sie sind völlig unbewegt.
Mein Körper zittert noch immer.
Sie stellen die Whiskylasche neben sich auf den Boden.
Sie stehen dort. Sie beobachten mich.
Sie versuchen dahinterzukommen, was mit mir nicht stimmt.
Dann kommen Sie langsam näher. Sie treten an mich heran.
Sie nehmen mir die Decke ab.
Sie nehmen vorsichtig meine Hände und ziehen mich mit einem festen Ruck nach oben, bis ich auf der Liege sitze.
Das Zittern meines Körpers ist so stark, daß ich beinahe von der Liege falle.
Dann, ohne Vorankündigung, schlagen Sie mir zwei Male hart ins Gesicht.
Das Zittern hört augenblicklich auf.
Der Schmerz ist so heftig, daß ich weinen muß.
Blut läuft aus meiner Nase und tropft auf mein Kleid.
Sie nehmen mein Gesicht in Ihre beiden Hände. Sie sagen noch immer nichts.
Sie sind auf eine Weise anwesend, daß Sie sehen, was kein anderer sieht.
Und dann nimmt Ihr Blick mich auf der Stelle gefangen.
Sofort haben Sie meine gesamte Aufmerksamkeit.
Sie hören mir mit Ihrem ganzen Körper zu.
Sie sind in mich eingetreten wie durch eine geöffnete Tür, mit derselben Leichtigkeit.
Ich spüre Sie in mir.
Jäh erfassen Sie alles, was mit mir nicht stimmt, mit einem einzigen Blick.
Das Blut aus meiner Nase tropft auf Ihre Hände.
Und dann weine ich lange, ich kann nichts dagegen tun.
Sie sagen nichts, kein Wort. Sie schweigen die ganze Zeit über.
Während dieser ganzen Zeit habe ich Ihre vollkommene Aufmerksamkeit.
Sie können das, was ich durchmache, am eigenen Leibe spüren. Niemand sonst kann das. Ich bin mir ganz sicher. Auch, daß Sie Ihr heftiges, grausames Schweigen allein aus diesem Grund nicht durchbrechen, um Ihre Aufmerksamkeit nicht von mir fernzuhalten.
Das Blut aus meiner Nase vermischt sich mit meinen Tränen auf Ihren Händen.
Dann ist es vorüber.
Sie nehmen Ihre Hände von meinem Gesicht, das noch von Ihren Schlägen brennt, von der Wärme Ihrer Hände.
Sie gehen zurück an die Stelle, wo Sie die Flasche abgestellt haben.
Sie trinken einige Schlucke. Sie schütten Whisky auf ein Taschentuch.
Dann kommen Sie noch einmal zu mir zurück und wischen mir das Blut und die Tränen aus dem Gesicht.
Meine Nase blutet noch immer.
Und dann bleiben Sie, so, in meiner Nähe, mit dem Taschentuch.
Sie bleiben, bis es aufhört zu bluten. Bis es nicht mehr weh tut.
Sie bleiben lange.
Sie streichen über mein Haar.
Sie nehmen meine Hände.
Sie legen Ihre Arme um mich.
Sie halten mich.
Sie sagen kein Wort.
Und danach gehen Sie.
Sie gehen, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Noch nie zuvor in meinem Leben war ein anderer Mensch so in meiner Nähe wie Sie, so gegenwärtig.

Nach dem Tod meines Vaters verhänge ich im Haus alle Spiegel. Ich trage zehn Tage lang keine Schuhe und Strümpfe. Ich zerreiße meine Kleider. Ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Ich gehe nicht in die Schule. Ich gehe nicht an den Strand. Ich schreibe nicht in meine blauen Hefte. Ich versperre die Eingangstür. Ich verdecke die Fenster. Ich sitze im Dunkeln auf dem Boden.
Mein Vater ist tot, tagelang ist das Leben keine Lösung mehr. Ich spüre es nicht mehr, das Leben. Ich spüre überhaupt nichts mehr. Die Trauer über seinen Tod lähmt mich.
Einmal höre ich es klopfen. Ich höre die Stimme von Kane. Ich will ihm nicht öffnen. Ein anderes Mal ist es Ihre Stimme, die ich höre. Ihnen möchte ich öffnen, denn ich verspüre ein tiefes Verlangen, mich irgendwo anzuklammern. Dann möchte ich mich einem Gott vor die Füße werfen, damit er über mich verfügen kann, denn ich möchte gerettet werden. Dann möchte ich Ruhe finden. Ich möchte mich fortbewegen, eine Entfernung zwischen mich und diese lärmende Stille bringen, die mich umhüllt, diese unwirkliche Stille, zu der ich selbst nach und nach werde. Dann habe ich keine Wünsche mehr, weder den Wunsch zu leben, noch den zu sterben. Die Möglichkeiten, das eine oder andere zu tun oder zu wollen, sind aufgebraucht, alle Möglichkeiten sind aufgebraucht. Dann geht es vorüber.
Später frage ich mich, ob sein Vater die Kammern nur deshalb überlebt hat, damit sein Sohn in Laand endet. Gefoltert. Vergewaltigt. Ermordet. In ein Massengrab geworfen. Verscharrt wie ein Hund. Wieder ausgegraben. In einen weißen Plastiksack gestopft. Und im Fernsehen gezeigt.
aus: Marie und der Mann vom Strand
© RW; 2003, Wiesenburg Verlag
ISBN 3-932497-94-5

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