Sonntag, 26. August 2012

Lucia oder die Liebe II.


Einmal, als ich jung war, kannte ich ein Mädchen mit langen braunen Haaren. Sie hatte einen Körper, den man als traumhaft bezeichnen konnte. Sie fühlte sich wohl in ihrem Körper und konnte sich gut mit ihm bewegen. Die Männer drehten sich nach ihr um und schauten sie an und warfen ihr bewundernde Blicke zu. Ich glaube, es war damals etwas Besonderes für mich, wenn ich mit ihr unterwegs war. Ich war gerne in ihrer Nähe. Umgekehrt war es genauso. Auf eine flüchtige Art, die ich heute nicht mehr verstehe, gefielen wir uns oder hatten Lust aneinander. Ich weiß es nicht mehr. Es war eine Beziehung ohne gegenseitige Verpflichtung. Wir unternahmen viel zusammen, gingen essen, tanzen, ins Kino, fuhren gemeinsam in die Ferien oder trafen uns mit anderen. Sicherlich hätte ich mich leicht aus dem Staub machen können, als sie Krebs bekam. Doch ich bin geblieben. Merkwürdigerweise hatte ich keine Angst vor dem Krebs. Auch nicht die vielen Male, als ich bei ihr im Hospital war und sah, was der Krebs mit ihr machte. An manchen Tagen tat es weh, sie anzuschauen, so schön war sie. Und es gab andere Tage, da tat es weh, sie anzuschauen, weil ich den Krebs beobachtete und was er mit ihrem Körper machte. Das sagte ich ihr nie, aber mir war klar, sie wußte, daß es so war. Ich ermunterte sie, nicht aufzugeben und weiterzumachen, so gut ich es damals eben vermochte. Wir blieben irgendwie zusammen, ohne weiter darüber zu reden, zunächst in ihrer Wohnung, später in meiner. Wohl wegen der langen, bis auf den Boden reichenden Fenster. Weil sie es schön fand, wenn die Sonne schien und sie stundenlang auf den breiten blauen Kissen liegen und hinausschauen konnte auf den Spielplatz. Auch wegen der großen runden Badewanne und weil man im Badezimmer Musik hören und fernsehen konnte. Wegen des geräumigen Balkons, von dem aus man in einen Park schauen konnte, auf das Licht und wie es sich den ganzen Tag über veränderte. Und dann noch wegen einiger praktischer Dinge, etwa, weil meine Wohnung sehr viel näher am Hospital lag, oder weil ich eine Putzfrau hatte und es jemanden gab, der einkaufte und die Wäsche machte. Weil es vieles einfacher machte und es bequemer war, bei mir zu sein als bei ihr. Weil wir in meiner Wohnung das erste Mal miteinander geschlafen hatten, ein paar Wochen nach ihrer Brustamputation. Und zuletzt noch wegen dieser bunten Stehlampe, die gerade soviel Licht spendete, daß es ihr möglich war, sich mir nackt zu zeigen, mit ihrer Wunde.

Mit einer Frau zu schlafen, die nur eine Brust hatte, ich weiß nicht mehr, ob ich mir damals überhaupt Gedanken darüber machte. Wie sie auch, war ich möglicherweise zu jung, um darüber nachzudenken. Ich erinnere mich nicht daran, Ekel empfunden zu haben oder Angst. Nur eine Mischung aus Scheu, Zögern und Ergriffenheit, wie ich sie oft empfinde angesichts der Zartheit, Wärme und Anmut eines nackten weiblichen Körpers neben mir oder wenn ich mit einer Frau schlafe. Den Körper einer Frau auf diese Weise zu berühren, auch wenn er verstümmelt ist, hat für mich etwas, das ich mit Worten nur schwer ausdrücken kann. Es ist über alle Maßen hinaus ergreifend. Als würde ich mich dafür bedanken, etwas berühren zu dürfen, das so schön ist wie eine Frau, wenn ich sie berühre oder von ihr berührt werde. Fast immer, wenn eine Frau mich berührt, kommt es mir so vor, als ob jemand von außen seine Hand auf mich und diese schrecklichen Geschichten legt, die tief in mir verborgen sind. Es gibt dann nicht mehr nur die Geschichten. Plötzlich gibt es noch diese Hand. Und schon ist alles anders. Ich bin ein anderer. Natürlich sind die Geschichten in mir noch da, aber nun mit einer Hand auf ihnen. Wenn ich mit einer Frau zusammen bin, egal auf welche Weise, ob mit guten Freundinnen beim Frühstück, Abendessen oder sonstwo oder mit einer Geliebten im Bett, versuche ich jedesmal, ihr etwas von dem zurückzugeben. Dann lege ich meine Hand auf die Geschichten, die ich in ihnen spüre. Ich freue mich, wenn ich bemerke, wie alles anders wird, daß die eine oder andere Geschichte ihre böse Macht verliert.
Jedenfalls wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Sie zu verstoßen, sie schutzlos an ihre Krankheit auszuliefern, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern, von denen ich erfahren habe, daß sie eine kranke, brustamputierte Frau an ihrer Seite nicht ertragen und sie aus genau diesem Grund verlassen, mußte ich gar nicht erst darüber nachdenken. Es geschah einfach. Wir blieben zusammen, es war die natürlichste Sache der Welt. Sie war da und der Krebs war da, und ich war da, weil sie da war. Was fehlte, das waren ihre linke Brust und die Jahreszeiten, viele davon, die Aussicht, ein bißchen zu leben, ich meine, Spaß zu haben und Freude zu empfinden, ein paar Dinge in diesem Leben zu erfahren und sie wieder loszuwerden, und das eine oder andere in sich zu bewahren, trotz des Krebses und anderer Gegenkräfte.

Sie ist im Jahr darauf gestorben. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Ich war dabei, als es zu Ende ging, es dauerte acht Monate. Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Ich sehe, wie ich auf ihrem Bett sitze und ihre Füße massiere. Ich halte ihre Hand, und sie bedankt sich, und sie sagt, daß ich das alles nicht hätte mit ihr durchmachen müssen und daß sie mich liebt, und wir küssen uns, als ob der Tod uns egal ist, als ob es gleich wieder von vorne anfängt, das Leben, mit all den wunderbaren und tragischen Dingen, die dazugehören. Ich glaube, da ist noch mehr, aber ich kann es im Moment nicht sehen. Allerdings, an einem Morgen, ich weiß es noch genau, es war im Dezember, kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag, ist sie gestorben. Ich hatte nie das Gefühl, daß ich, wie sie glaubte, etwas mit ihr durchgemacht habe, was mich heute nicht verwundert. Ich war gerade meiner Kindheit entronnen, ich hatte sie überlebt, wie andere vor mir die Lager. Deshalb waren die Dinge für mich womöglich anders. Ich hatte ihr nicht gesagt, daß ich sie liebte. Ich habe niemals so etwas gesagt, weder damals, noch später irgendwann. Ich wußte lange nicht, wie es war, jemanden zu lieben, wie sich das anfühlte, wie ich es in mir spüren konnte. Zum ersten Mal habe ich es zu dir gesagt, da war ich fünfundvierzig. Obwohl ich heute sicher bin, daß es ihr klar war, im Gegensatz zu mir. Ich wußte damals nicht, daß es so war. Ich bin bei ihr gewesen, die ganze Zeit, auch als sie bestrahlt wurde, und später, als sie die Chemotherapien bekam. Ich habe sie gewaschen, für sie gekocht, ihr die Khakifrüchte und Mangos geschält und in kleine Stücke geschnitten, und noch später, als sie nicht mehr kauen konnte, habe ich ihr die Früchte mit einem Mixstab püriert und sie mit einem kleinen Löffel gefüttert. Manchmal, wenn sie in der Nacht aufwachte und vor Angst schrie wie ein Tier, das man angefahren und am Straßenrand liegengelassen hatte, legte ich meine Hand auf ihren Bauch und atmete mit ihr, bis sie ruhiger wurde. Ich umarmte sie stundenlang, wenn sie sich frustriert fühlte und verbittert und zornig war, weil sie so jung war und Krebs hatte und einen verstümmelten Körper und keine Haare mehr. Wenn wir zusammen schliefen, fühlte sie ihren Körper oft, als wäre er weit weg von ihr, und dann streckte ich meine Hand nach ihm aus und holte ihn langsam für sie zurück. Ich glaube, es ist damals so gewesen, daß ich ahnte, wie ich ihren Körper berühren mußte, welche Worte ich sagen mußte, damit sie zu ihm zurückkehren konnte, damit sie zu ihm zurückwollte. Damit sie ihn wieder schön finden konnte, mußte zuerst ich ihn schön finden. Ich streichelte und küßte ihren nackten Schädel und die Narben der Amputation zärtlich und liebevoll und leidenschaftlich, so als wären da noch ihre langen braunen Haare oder ihre zweite prächtige Brust. Ich fand Worte für das fehlende Haar, für die fehlende Brust, Worte, die nicht ersetzten, was fehlte, die nichts beglichen oder erneuerten und die dennoch etwas ausfüllten, von dem ich bis heute nicht sagen, was es war. Zuweilen war sie bestürzt und weinte, vor allem, wenn wir uns tagsüber liebten, ohne den Schutz der Dunkelheit oder das gedämpfte Licht der bunten Stehlampe. Doch meistens freute sie sich, daß sie wieder in ihren Körper zurückgefunden hatte. Manchmal sagte sie: Mein Körper ist häßlich, und er tut mir weh, aber es ist meiner. Und deine Worte und wie du ihn dabei anschaust und anfaßt machen ihn jedes Mal wieder schön für mich.

Obwohl ich weder Englisch verstand, noch singen konnte, lernte ich ein Lied von ihrer Lieblingsgruppe, den Scorpions, auswendig und sang es für sie an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, den sie im Hospital verbrachte. Ich denke, ich wollte sie glücklich machen und mit ihr glücklich sein. Für mich war das viel, wie ich heute weiß. Ich wollte ihren Mund küssen und ihren Körper streicheln, dieser Körper, der schön war und anmutig und so voller Metastasen, daß sie schließlich kaum noch atmen konnte. Sie hatte entweder Schmerzen oder wegen der Schmerzmittel Halluzinationen. Wenn sie Schmerzen hatte, weinte oder schrie sie, ohne damit aufhören zu können. Hatte sie Halluzinationen, sah sie ein Kind mit zwei Köpfen, das sich ein Brot mit Butter und Orangenmarmelade bestrich. Sie sah kleine runde Tiere, deren Fell rot war, und einen Mann und eine Frau, die aussahen wie Fred Astaire und Ginger Rogers und auf dem Meer tanzten. Sie sah Katzen, die mit schwarzen und blauen langstieligen Rosen zu einer Beerdigung kamen, und einen Grabstein aus Glas, der ihren Namen trug. Sehr oft weinte sie still vor sich hin, weil sie dreiundzwanzig war und bald sterben mußte. Doch an dem Morgen, als ich das Lied von den Scorpions sang, freute sie sich. Sie lachte, daß man es bis im Flur hören konnte.

Wie seltsam, daß ich erst heute spüren kann, was es ihr bedeutet haben muß, daß ich auf diese Weise für sie da war. Daß ich sie geliebt habe.
Doch dann denke ich an den Jungen mit den blauen Augen und dem blonden Haar. Ich denke an diesen Jungen, der ich war, daran, wie er die Liebe erfahren hat. Ich denke an ihn, bis ich ihn in meiner Nähe spüre. Ich streiche über seinen Rücken. Er zittert, er sagt leise zu mir: Weißt du, es tut verdammt weh, ich weine in meinem Rücken.
Schon bald sehe ich, daß dieser Junge die Liebe mit einem schwarzen Gummiknüppel erfahren hat, auf dem Fußboden in der Küche. Ich sehe sein Blut auf den schwarzweiß gemusterten Steinen, seine blauen Augen, die weit aufgerissen sind, sein blondes, verschwitztes Haar. Ich spüre seine Angst, sein Zittern und einen solchen Schmerz, daß ich fast ohnmächtig werde. Vor allem bin ich überrascht, daß er kein einziges Mal schreit oder weint. Auch nicht, als er in vielen Nächten im Kinderzimmer vor seinem Vater kniet, dessen Penis in seinem Mund. Er hat tatsächlich nie geweint, dieser Junge. Er hat nicht geschrien, kein einziges Mal. Nur manchmal hat er seinen Körper verlassen. Dann beobachtete er von der roten Deckenlampe in der Küche aus, wie sein Vater Dinge mit seinem Körper tat und bestimmte Worte sagte, die ihm wehtaten und falsch vorkamen. Ich erinnere mich, wie er aufhörte zu sprechen und jahrelang stotterte. Daran, daß alle ihn deswegen auslachten, und daß keiner sah, was der Gummiknüppel mit ihm machte, oder die Narben, die er auf dem zerbrechlichen Körper hinterließ, und wie sein kleines Herz von ihm zugerichtet wurde. Keiner sah den Penis, wie er in seinem Mund steckte, nicht nur in den Nächten, wenn sein Vater bei ihm war, sondern die ganze Zeit über, auch als er längst kein Junge mehr war. Und jene, die es wußten, wie seine Mutter, schwiegen darüber. Und dann ist es noch so, daß ich das alles jedes Mal ein wenig mehr spüre. Daß es nach wie vor schwer für mich ist, darüber zu reden. Es ist nämlich so, daß der Schmerz, der entstünde, wenn ich darüber redete, langsam auf meine Freunde und dann auf die ganze Welt übergreifen würde, bis man darüber weinte und weinte und weinte, ohne jemals wieder damit aufhören zu können.

Sie hieß übrigens Judith, Judith Olivier, das war ihr Name. Gerade erinnere ich mich an ihren Duft, an ihre Hände auf meinem Körper und in meinem Gesicht. Ich sehe uns in diesem großen Zimmer, wo wir auf den blauen Kissen aufs Sterben warteten, auf den Tod. Man kann es ruhig aussprechen, daß wir auf das Ende ihres Körpers warteten, und daß wir nicht wirklich darauf vorbereitet waren. Jetzt fällt mir auch wieder ein, wie sie Nächte hindurch redete, über Dinge, die sie tun wollte, daß sie Pläne für ihr Leben machte, bis zum Schluß. Wie sie Nacht für Nacht ihren Tod verschob, mindestens bis zum nächsten Morgen, wo sie aufwachte und so gerührt darüber war, noch am Leben zu sein und mich zu sehen, daß sie weinen mußte. Ich erinnere mich, wie sie mich jede Nacht, bevor sie einschlief, anschaute und sagte: Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Daran, wie ich mich in der Nacht vor ihrem Tod zu ihr legte, daß wir sangen, sie mit schwacher, kaum wahrnehmbarer Stimme, und ich so falsch wie eh und je, daß sie sagte: Ich habe nie jemanden so schlecht singen hören wie dich. Und: Du bist erste Mann und der letzte Mann. Niemand hat mich so berührt wie du. Schlaf gut, bis morgen. Ich sehe, wie ich mein Ohr an ihre Lippen lege, um besser verstehen können, was sie sagt, um noch einmal zu hören, wie sie sagt: Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Ich weiß nicht, daß sie es nach dieser Nacht nie mehr sagen wird, ich weiß erst hinterher, daß sie es da zum letzten Mal gesagt hat. Ich spüre ihren Atem an meinem Ohr, nachdem sie eingeschlafen ist, erinnere mich an das Gefühl von damals, als ich neben ihr lag, wie glücklich ich war, daß sie einfach nur atmete, daß ich da sein und ihr dabei zuhören konnte, ich weiß nicht wie lange, ich hatte noch ihre Worte im Ohr: Du bist erste Mann und der letzte Mann. Niemand hat mich so berührt wie du. Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Ihre Worte, ich hörte sie wie den Refrain irgendeines Liedes, da war der Vollmond, sein Licht drang durch die großen Fenster, vermutlich bin ich eingeschlafen. Am nächsten Morgen halte ich ihre Hand, ich höre sie nicht mehr atmen, ich erkenne zuerst nicht, was es bedeutet, bis der Notarzt kommt und den Tod ihres Körpers feststellt, auch dann kann ich es nicht gleich begreifen, ich begreife nicht, daß ihr Leben nicht mehr voller Zukunft ist, daß mein Leben mit ihr vorbei ist. Sie erscheint mir noch lebendig, wie sie da liegt, auf den blauen Kissen, als würde sie schlafen, ein krankes Mädchen, das sehr müde ist, ich höre mich wieder, wie ich zu dem Arzt sage: Ich denke, sie schläft. Sie ist entsetzlich müde. Wissen Sie, wie sie gekämpft hat, wie tapfer sie war. Sie atmet anders, man sieht es kaum. Wenn jemand so kämpft und so tapfer ist wie sie, da ist der Atem anders. Man sieht nicht, daß sie atmet. Geben Sie ihr etwas, damit sie kräftiger atmen kann, damit sie aufwacht. Ich verstehe nicht, weshalb der Arzt den Kopf schüttelt, warum die Männer der Gerichtsmedizin sie mitnehmen wollen, ich will sie bei mir behalten, ich sage: Ich will nicht, daß Sie das tun. Sie wird wieder aufwachen. Warten Sie es nur ab. Sie wird heute Abend über die Dinge reden, die sie noch tun will. Sie wird mit mir singen und mir anschließend sagen, daß ich nicht singen kann. Ich werde ihren Atem an meinem Ohr spüren. Sie müssen ihr nur endlich etwas geben, damit sie wieder aufwacht. Ich erzähle von den letzten Wochen, wie zuversichtlich sie war, von ihren Plänen, welche Musik wir gehört, was wir uns im Fernsehen angesehen, was wir gegessen, über was wir geredet, worüber wir gelacht und geweint haben. Ich erzähle alles dreimal, ich knie mich neben sie, ich nehme ihre Hand, ich sage: Mache schon die Augen auf. Du mußt die Augen öffnen. Wenn du die Augen nicht aufmachst, werden sie dich mitnehmen. Ich rede mit ihr, bis der Arzt hinter mich tritt, er legt seine Arme um mich, er zieht mich langsam zurück, er sagt, daß sie tot ist, man muß ihren Körper mitnehmen, man kann ihn nicht hier lassen, es geht nicht. Die Männer heben ihren Körper ruckartig von den Kissen, sie packen ihn langsam in eine Metallwanne. Ich sitze auf dem Boden und halte den einäugigen Stoffbären in den Händen, ich umklammere ihn, ich glaube, er hieß Frankie, ich erinnere mich an die Lederklappe, die sein fehlendes Auge bedeckte. Ich sehe den Männern zu, zum letzten Mal sehe ich ihren Körper, er sieht ausgezehrt aus, völlig entkräftet, mir fällt erst da auf, wie winzig er geworden ist, er wiegt noch achtunddreißig Kilo, wie ich später erfahre. Es ist also wahr, ich glaube es jetzt, die Männer schließen ihren Körper ein, sie tragen ihn durch das Treppenhaus drei Stockwerke nach unten, ich bleibe zurück, ich stehe oben am Fenster, während unten der Wagen losfährt, in dem ihr Körper liegt, ich höre ihre Stimme, wie sie zu mir sagt: Durch den Krebs ist mein Körper anders geworden und ich bin durch dich zu jemand anderem geworden. Es ist der 29. Dezember, in zwei Tagen habe ich Geburtstag, ich werde zwanzig Jahre alt, ich liege auf den blauen Kissen, ich blicke aus den Fenstern auf den Spielplatz, ich halte den Stoffbären, ja, er hieß Frankie, sie hatte ihn, seit sie vier oder fünf Jahre alt war, er riecht nach ihr, die ganze Zeit, noch Wochen nach ihrem Tod riecht Frankie nach ihr. Ich klammere mich an Frankie, den Stoffbären, er ist mein einziger Halt, bis es Frühling wird.

An einem Sonntagmorgen im Mai verlasse ich zum ersten Mal nach ihrem Tod die Wohnung. Ich gehe dorthin, wo sie ihren Körper begraben haben. Mir fällt wieder ein, daß ich auf dem Weg zum Friedhof die Vorstellung kaum ertrage, daß Erde ihr Gesicht und ihren Körper bedeckt. Aus diesem Grund kehre ich mehrere Male um, bis der Taxifahrer die Geduld mit mir verliert und mich am Friedhof zum Aussteigen zwingt. Ich erinnere mich, daß ich den Friedhof zuerst umrunde, bevor ich ihn betrete, daran, daß ich später vor ihrem Grab stehe, wie verwirrt ich bin, daß auf dem Grabstein tatsächlich ihr Name steht, daß ich das Datum ihrer Geburt und das ihres Todes lese, und wie ich mit einem Mal begreife, daß es nicht mehr anfängt, daß es vorbei ist, das mit ihr. Kein Körper mehr, kein Streicheln, kein Lachen, kein Weinen, keine Küsse mehr, keine pürierten Khakis und Mangos, kein vierundzwanzigster Geburtstag. Ich werde nicht mehr für sie singen, keine Pläne mehr, kein: Schlaf gut, bis morgen. Kein Morgen mehr, nichts mehr, nie mehr. Niemand mehr, der mich vorm Einschlafen ansieht und sagt: Daß das letzte, was ich sehe, so schön ist wie du. Keine Worte mehr, nie mehr, es ist vorbei.

Heute weine ich darüber, jetzt, gerade, in diesem Augenblick. Ich weine, weil sie gestorben ist, weil der Raum, wo früher ihr Körper war, seitdem leer ist. Ich weine, weil ich fühlen kann, daß ich sie geliebt habe, als ich jung war. Weil ich fühlen kann, was diese Leere bedeutet, und wie sehr dieser Verlust mein ganzes Leben verändert hat.

Es gab noch jemanden, der gestorben ist in jener Zeit, als ich jung war. Gestern abend, als ich die Platten von Tori Amos hörte, dachte ich wieder an sie. Sie hieß Patricia. Ich spreche kaum über sie. Auch nicht mit Freunden, weil es zu schmerzlich für mich ist. Patricia ist mit fünfzehneinhalb gestorben, sie ist in die Seine gegangen, neunzehnhunderteinundachtzig, am Ende des Sommers. Davor wollte sie meine Frau sein, sie wollte Kinder mit mir, später, nachdem sie erwachsen geworden war. Damit du mein Mann sein kannst und ich irgendwohin gehöre und du irgendwohin gehören kannst. Was mehr ist, als jede andere Frau in meinem Leben jemals für mich oder mit mir zusammen gewollt hat.

Als ich Patricia kennenlernte, war sie dreizehn. Sie war das jüngste Mädchen auf dem Babystrich in Frankfurt am Main, in Deutschland, wo ich früher lebte. Bevor sie bei mir einzog, lebte sie auf der Straße, sie aß Ravioli aus der Dose und ging mit fremden Männern, um einen Platz zum Schlafen zu haben. Ihr Haar war blau gefärbt und stand in alle Richtungen. Sie las Gedichte von Rimbaud, Rilke, Ginsberg und Emily Dickinson. Quer über das Gesicht hatte sie eine lange tiefe Narbe. Von ihrem Vater, der sie mit der Bullenpeitsche geschlagen hat, wie sie mir einmal erzählte. Am Morgen ihres zehnten Geburtstags hat ihr Vater ihre Mutter getötet und sich danach selbst erschossen. Patricia glaubte, daß dieser Tag einer der guten Tage in ihrem Leben war. Wohl deshalb, weil ihr Vater ihr danach nicht mehr wehtun konnte.

Ich sah Patricia auf Fotografien, in einer Art Laufstall, an Hals, Armen und Beinen angebunden, wie ein Tier im Käfig, und das in einem Alter, in dem Kinder in die Schule kommen. Ihr Vater hatte sie in einschlägigen Zeitschriften angeboten: Gut gewachsenes Füllen, gut eingeritten. Da war sie neun Jahre alt. Er hatte bereits vorher Videofilme aufgenommen, auf denen sie und er zu sehen waren. Auf diesen Videofilmen konnte man sehen, wie er Dinge mit ihr machte, die ich auch heute noch nicht aussprechen kann, so sehr erfüllt mich das, was ich gesehen habe, mit Scham. Manchmal sah Patricia sich diese Videos an, als versuchte sie nachträglich zu verstehen, was mit ihr geschehen war. Von Zeit zu Zeit forderte sie mich auf, ich solle mir gemeinsam mit ihr diese Videobänder anschauen, was mich jedesmal Überwindung kostete. Das bin ich, in dem Film, siehst du das. Ich streichelte ihre Schultern und ihr Gesicht, weil mir nichts einfiel, was ich ihr hätte sagen können.

In ihrem Zimmer, ganz oben, auf dem wackligen Regal, das sie grün angestrichenen hatte, stand lange Zeit ein brauner Schuhkarton, in dem Patricia alte Fotografien, Postkarten, Bilder, die sie gemalt hatte, Schreiben von Jugendämtern und Gutachten von Ärzten aufbewahrte. Im darauffolgenden Sommer verbrannte sie alles. Das ist meine Vergangenheit gewesen, sieh nur, wie leicht sie brennt. Danach wurden ihre Alpträume seltener. Es gab kaum noch Nächte, in denen sie ihre Stimme verlor, sobald sie mir von den Träumen erzählte, oder in denen zuerst ihre Hand und dann ihr ganzer Arm so steif wurden, daß ihr der Stift aus der Hand fiel, als sie versuchte, diese Träume aufzuschreiben. Keine Nächte mehr, in denen sie abwechselnd sprach, schrieb, weinte, laut schrie, ihren Kopf gegen die Zimmerwand schlug und sich dabei übergeben mußte.

Ich erinnere mich, daß sie in manchen Nächten oft von ihrer Freundin Püppi sprach, die sie ermordet auf einer Müllkippe gefunden hatten, damals, im Sommer Neunzehnhundertachtzig, am zweiten August, um es genau zu sagen, also jenem Tag, an dem faschistische Extremisten im Bahnhof von Bologna in Italien eine Bombe explodieren ließen, wobei Hunderte von Menschen verletzt wurden und achtzig ums Leben kamen. Für Püppi, die sie an jenem Morgen gefunden hatten, zuerst ihren Kopf und im Lauf des Tages die restlichen Teile ihres Körpers, verteilt über den gesamten Müllplatz, gab es wegen der vielen Toten in Bologna in den Abendnachrichten keinen Platz mehr. Patricia sagte, es gibt keine Worte für das, was der Freier mit Püppi gemacht hat, und daß es schon gar keine Worte gebe für das, was der Müll später aus Püppis Körper gemacht habe. Sie sprach davon, daß Püppi alles mitbekommen habe, als ihr Körper noch lebendig gewesen sei, alles, was der Freier mit ihr angestellt hat, sagte sie, und sie sei sich sicher, daß Püppi das nicht verdient habe, nicht so ein Ende, nicht nach so einem Leben, wie sie sagte. Sie erzählte von Püppi, als sie noch am Leben gewesen war, und von dem Steckohrring mit dem roten Herz, den sie ihr im Jahr zuvor zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und sie sagte, das rote Herz steckte noch an Püppis Ohr, aber ihr Ohr war nicht mehr an ihr dran, als sie sie fanden, sie fanden es anderswo. Jedes Mal, wenn sie an die Stelle kam, weinte sie laut. Dann legte ich meine Arme um sie. Sie schloß die Augen und sie sagte, nachdem etwas Zeit vergangen war, verwundert, ehrlich, daß ich die Augen zumachen kann, wenn du mich anfaßt. Sie fragte, womit sie es verdient habe, mit mir zusammenzusein. Ich sagte, weil du dafür sorgst, daß ich genug Sonne habe. Wie auf der einen Fotografie, die ich nicht mehr habe, weil sie sie mitgenommen hat, als sie in die Seine ging.

Es war die Fotografie, wo sie am Fenster steht und gerade die Sonne aufgeht, und sie hält ein chinesisches Eßstäbchen in der Hand, und es sieht so aus, als könnte sie die Sonne herbeizaubern, und sie hat darunter geschrieben, ich sorge dafür, daß die Sonne scheint, wenn du das Haus verläßt.
Das habe ich ihr geglaubt, denn in ihrer Nähe fühlte es sich so an.

In diesem Moment weiß ich nicht, ob ich weiter darüber sprechen will, über sie und die Zeit, die ich mit ihr verbracht habe. Aber ich will erzählen, wie wir uns begegneten, an jenem Morgen, vor einem Club, dessen Namen ich vergessen habe. Sie trieb sich dort herum und winkte mir zu, als ich herauskam. Ich fragte: Was machst du hier? Wohnst du irgendwo? Sie sagte: Ich wohne in Alaska. Ich trug einen Smoking von Valentino und ich war müde und noch betrunken von der Nacht und ich glaubte ihr kein Wort und sagte: Das ist verdammt weit weg. Und sie musterte mich von oben bis unten und sagte: Was du da anhast, also ehrlich, das ist das Letzte, man muß sich ja schämen, mit dir gesehen zu werden. Ich sah an mir hinunter und lachte, ohne näher darauf einzugehen. Sie fragte mich nach Zigaretten, und ich gab ihr welche, und wir rauchten und waren eine Weile still, während das Licht des beginnenden Tages heller wurde und ich sie besser sah, ihre verdreckten, zerrissenen Kleider, die große Narbe, die wie ein tiefer Riß durch ihr Gesicht ging, und sie bemerkte meinen Blick und fuhr mit dem kleinen Finger ihrer linken Hand ganz vorsichtig die Narbe entlang, und sie sagte: Die Väter hinterlassen solche Spuren, weißt du. Sie wurde ganz still, weil sie mir sofort ansah, daß ich wußte, wozu Väter fähig waren, und wir schwiegen eine Weile, bis sie sagte: Wenn du willst, zeige ich dir Alaska. Und ich wollte es, und dann nahm sie mich mit zum Ostbahnhof, und auf einem Abstellgleis stand ein alter Güterwaggon mit der Aufschrift: Alaska Seelachs, und sie fragte: Willst du sehen, wie es in Alaska ist? Und ich nickte und ging mit ihr, und in Alaska hingen Poster von Janis Joplin und Gedichte von Rilke und Rimbaud an den Wänden und Songzeilen von Jim Morrison, und es war schön und kalt und wir haben uns gegenseitig gewärmt. In Alaska haben wir uns auch zum ersten Mal geliebt, auf einer vergammelten Matratze, meine Kleider waren hinterher total verschmutzt, und sie lachte darüber und sagte: Dieses schwarze Ding da, deinen Smoking, kannst du wegwerfen, den brauchst du nicht mehr, wenn du mein Freund bist. Und so bin ich ihr Freund geworden.

Danach, als es vorbei war, nachdem sie gestorben war, fragte ich mich all die Jahre, warum sie auf diese Weise gegangen war, und wie sie es angestellt hatte, in die Seine zu gehen, ohne jemals wieder an die Oberfläche zu kommen, und ob sie einen Rucksack mit Steinen gefüllt hatte, bevor sie in den Fluß gegangen war, und woher sie die Steine hatte, die dazu nötig gewesen waren, denn damals lagen in der Nähe des Pont Neuf keine Steine, die von ihrem Umfang und ihrer Größe geeignet gewesen wären, ihren Körper unter Wasser zu ziehen, ihn auf den Grund des Flusses sinken zu lassen und ihn dort zu halten, und ob sie vielleicht vorher durch Paris gelaufen war und nach passenden Steinen gesucht und diese auch gefunden und sie anschließend durch die Stadt geschleppt hatte, und ob sie womöglich gar nicht vom Ufer aus in den Fluß gegangen, sondern von der Brücke aus hineingesprungen war, und auch dann müßte sie Steine oder etwas vergleichbar Schweres bei sich gehabt haben, das sie rasch hätte sinken lassen und es ihr unmöglich gemacht hätte, wieder nach oben zu kommen, und ihr Tod wäre dann ein anderer gewesen, ein schnellerer, schneller als wenn sie vom Ufer aus in den Fluß gegangen wäre, um stumm das Wasser zu atmen und auf die Körper zu schauen, die vor ihren Augen erschienen wären, jene leuchtenden Körper, die der Tod mitbringt, wenn der Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, und die sie nicht mehr gefürchtet hätte, wo sie doch zuvor in ihrem kurzen Leben schon hundertmal ertrunken war, so sehr gequält von einem unsichtbaren Volk und seinen Stimmen und dieser wahnsinnigen Königin, die sonderbare Zeichen auf eine weiße Mauer schrieb, die wie Schmerzenslaute waren und die Patricia empfindlich gemacht hatten, Laut für Laut, wie eine Plage, die sich bei jedem Versuch, sich von ihr zu befreien, unendlich vermehrte. Und dann sah ich noch, daß sie ihre Augenlider fest zusammengepreßt hielt, als das Wasser über ihr zusammenschlug, und daß sie vielleicht wie ein Kind war, das sich im Wald verirrt hat, am Ende des Tages, bei Anbruch der Dämmerung, wenn über den Gipfeln der Bäume bereits die Nacht anbricht, in der Stunde der Stille, in der das Unheil manchmal seinen Lauf nimmt und dieses Kind nach etwas sucht, mit dem es seine Angst besiegen kann.

Ich glaube heute, daß sie in die Seine gegangen ist, weil sie zu müde war und ihre Gedanken nicht mehr aushielt, weil ihr Herz zu sehr verletzt war und zu schwach für ihre Gedanken. Weil sie nicht mehr weiter wußte. Auch wenn sie immer sagte: So ist das Leben, wir müssen immer ein neues Versteck finden. Und: Wir dürfen nicht in Selbstmitleid versinken. Ich glaube, sie wußte gar nichts mehr. Es gab keinen Ort mehr, an dem sie sich verstecken konnte, weder in ihr, noch außerhalb von ihr.

Ich bin zwei Monate in Paris geblieben. Ich habe ganze Tage und Nächte am Ufer zugebracht, in der Nähe des Pont Neuf, während die Taucher den Fluß nach ihr abgesucht haben. Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, ich dachte damals, daß sie vielleicht noch am Leben war, daß sie ihre letzten Worte, die auf dem Zettel standen, den ich in unserem Hotelzimmer in der Rue Masseran fand, nicht wahrgemacht hatte: Bin bei Pont Neuf in die Seine gegangen... dies ist das eigenartigste Leben, das ich kennengelernt habe. Nachdem die Taucher sie nicht fanden, lief ich tagelang mit einer kleinen Fotografie von ihr durch Paris und suchte sie. Die Leute haben flüchtig auf das Bild geschaut, sie waren in Eile. Ich wirkte wie ein Verrückter auf sie, als ich zu ihnen sagte, daß sie mir helfen müssen, sie zu finden, daß es unmöglich sein kann, daß sie in die Seine gegangen ist. Daß sie tot war, ich konnte es lange nicht glauben, ich habe mit ihr gesprochen, die ganze Zeit, so wie man mit jemandem spricht, der noch lebt. Ich habe erst spät damit aufgehört. Ich habe damit aufgehört, als du in mein Leben kamst, als ich wegen dir die Notwendigkeit spürte, mein Herz wieder zu öffnen und dich zu lieben.

Nach Patricias Tod war ich noch in derselben Wohnung. Ich saß auf denselben blauen Kissen und sah hinunter auf den Spielplatz. Ich dachte Tag und Nacht an sie. Ich dachte auch wieder an Judith. Ich hatte innerhalb von vier Jahren zwei Menschen verloren, die mir etwas bedeutet hatten. Beide waren gestorben, bevor sie wußten, wer sie waren, bevor sie sie selbst werden konnten. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich war vierundzwanzig. Und ich war allein. Ich war kurz davor, wahnsinnig zu werden vor Trauer. Ich konnte nicht weinen. Ich konnte es nicht wegen dieses Jungen, dem mit dem blauen Augen und dem blonden Haar. Der Junge, der ich gewesen war und der nie geweint hatte, als man ihm diese Dinge antat. Jene grauenvollen Dinge, die bei anderen Beklemmung und Entsetzen auslösen, sobald ich darüber spreche. Solche Dinge, die ich auch heute, nach über dreißig Jahren, kaum auszusprechen wage, um niemanden damit zu verletzen. Hätte ich damals geweint, als zuerst Judith starb und danach Patricia, wäre mir dieser Junge in mir wiederbegegnet. Ich hätte seinen Schmerz, seine Trauer und seine Angst gespürt. Ich hätte es nicht ertragen, diese entsetzliche Scham, ein so sehr beflecktes Kind zu sein. Der Kummer darüber hätte mich in einen Schmerz getrieben, für den ich damals noch nicht bereit war.

Ich schäme mich übrigens heute noch, daß ich danach weitergelebt habe. An manchen Tagen ertrage ich es kaum, dieser Junge gewesen zu sein. Bevor ich dir begegnet bin, habe ich oft geglaubt, daß man es mir ansieht: diese Schande, daß es den Leuten deshalb schwerfällt, auf mich zuzugehen, weil sie es mir anmerken. Wegen des Ekels, den sie möglicherweise empfinden, sobald sie mit mir zusammen sind. Oft bin ich Berührungen aus diesem Grund ausgewichen. Ich dachte lange, man würde mir ansehen, daß mir Gewalt angetan wurde. Ich hatte Angst, daß man mich haßt, weil ich nicht an dem gestorben bin, was man als Kind mit mir gemacht hat. Ich sage das hier zum ersten Mal. Nicht einmal Charlotte weiß etwas darüber.

Ich erinnere mich nicht, wie lange ich nach Patricias Tod getrunken habe. Wie viele Wochen oder Monate es waren, ich kann es nicht sagen.
Ich glaube, daß ich sehr krank war, daß ich bereit war aufzugeben.
Als ich nach dreizehn Tagen aus dem Koma erwachte, saß ein Arzt neben mir.
– Wenn sie so weitermachen, werden sie sterben.
– Das ist in Ordnung, das Überleben wird sowieso überschätzt.

Der Arzt hat nicht nachgegeben. Er ermutigte mich, in ein Sanatorium zu gehen, es lag im Schwarzwald, es war Winter, als ich dort eintraf. Ich blieb lange dort, bis zum folgenden Sommer. Ich weiß noch, daß ich gemalt habe in dieser Zeit, im Sanatorium. Eine Ärztin versuchte, mit mir sprechen, sie fragte mich nach Ursachen, Motiven und Gründen für meinen Zustand. Aber ich hatte ihr nichts zu sagen. Ich glaube, daß mein Schmerz zu groß war, um darüber zu sprechen, was sie wohl bemerkte. Also war sie aufs Malen gekommen.

In der dritten oder vierten Woche habe ich mich ausgezogen und mich am ganzen Körper schwarz angemalt und mich nackt vor einen Spiegel gesetzt.
Die Ärztin setzte sich neben mich, nachdem sie mich eine Weile angeschaut hatte.
– Was sehen Sie?
– Einen Überlebenden.
– Was hat er überlebt?
– Seine Kindheit, sich selbst, den Schrecken des Todes, ich weiß es nicht.
Ich sprach nicht über Judith und Patricia. Ich erwähnte sie mit keinem Wort.
– Ihre Kindheit, was ist das für Sie?
– Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich hatte keine Kindheit, ich bin ohne Gedächtnis.
– Was reden Sie denn da, jeder Mensch hat eine Kindheit und ein Gedächtnis, um sich daran zu erinnern.
Ich schwieg und blickte sie an. Ich wollte mich nicht erinnern.
– Haben Sie Ihr Gedächtnis vielleicht verloren, ist es das?
– Ich habe mich entschieden, kein Gedächtnis mehr zu haben.
Sie forderte mich auf, in den Spiegel zu schauen.
– Was sehen Sie?
– Das ist nicht so schwer. Ich sehe einen schwarzen Mann.
Ich sehe wieder, wie sie an dieser Stelle lächelt.
Sie steht auf und stellt sich hinter mich. Ich kann sie im Spiegel sehen.
– Ich sehe einen blonden Jungen, er ist acht, neun oder zwölf Jahre alt, er hat nie geweint, und er hat sich schwarz angemalt, um nicht mehr gesehen zu werden.
– Warum will er nicht mehr gesehen werden?
– Vielleicht hat man ihm sehr weh getan.
– Ja, das wäre möglich.
Damals forderte sie mich auf zu weinen.
– Ich wüßte ein oder zwei gute Gründe, um mit Ihnen zu weinen.
Als sie es zu mir sagte, hatte sie Tränen in den Augen. Sie weinte fast, was mich damals beunruhigte.
Ich sah sie lange an.
– Es ist noch nicht die richtige Zeit dafür.

Heute, wo ich endlich mein Herz spüre und es nicht länger verschließen muß, weine ich wegen dieses Jungen. Ich werde weinen, wenn Charlotte oder jemand anders mich umarmen und ihn versehentlich dabei berühren, weil er sich nur schwer daran gewöhnen kann, anschließend nicht geschlagen oder mißbraucht zu werden. Und wenn Tori Amos singt und ich an Patricia denke, weine ich wegen ihr. Ich weine auch wegen dir, weil du und das, was wir miteinander hatten, noch in meinem Leben sind und zur selben Zeit so sehr darin fehlen. Ich weine mit meinem ganzen Körper. Ich weine überall, die ganze Zeit, und manchmal merkt man es mir an.

Gestern abend, als ich an Patricia dachte, sang Tori Amos 1000 Oceans. Sie sang: ... ich würde 1000 Ozeane mehr weinen, wenn es das wäre, was nötig ist... Vielleicht ist es so, daß ich soviel weine, weil es nötig ist, um weiterzukommen, um darüber hinwegzukommen, über das alles. Um es anzunehmen und dann endlich loslassen zu können. Um auf die andere Seite, um endlich ins Leben zu kommen. Um keine Angst mehr zu haben vor diesem unmöglichen, einsamen und bodenlosen Leben.
(…)

aus: Lucia oder die Liebe
© RW; 2009, BoD
ISBN: 978-3839116906

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